Bittere Wahrheiten II
Ejahl holte tief Luft. Der Tag hatte eine vollkommen andere Wendung genommen, als er erwartet hatte. Seine ganzen Pläne warf er über den Haufen, um sich dem zu widmen, das er schon zu lange vor sich her geschoben hatte.
Ein Gespräch mit Ava.
Er saß auf der Couch, V stand weiterhin in dem Türrahmen und Kematian beobachtete durch das Fenster wieder die Straßen. Schweigen hing in dem Raum und lastete mit jeder verstreichenden Sekunde schwerer auf seinen Schultern.
Zwar freute er sich, Ava wiederzusehen – das tat er wirklich. Er freute sich aber nicht darauf, was ihm nun bevorstand.
»Also ...«, begann Ejahl. »Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?«
Ava presste die Lippen zusammen und ruckte ihr Kinn in Kematians Richtung. »Ist das nicht offensichtlich?«
»Ja«, sagte Ejahl schnell. »Natürlich.«
Schweigen.
Normalerweise fiel es ihm nicht schwer, ein Gespräch zu führen, aber nun schien seine Zunge wie gelähmt und jedes Mal, wenn er einen Satz in Gedanken durchging, strich er ihn nur einen Augenblick später.
»Und ... möchtest du mir von der Reise erzählen?«, fragte er.
Ava schnaubte. Wenn er nicht ansprechen wollte, was so deutlich im Raum stand, dann tat sie es. »Du hast mich mein ganzes Leben lang angelogen. Er hat mir alles erzählt. Ich weiß jetzt, was du mir verschwiegen hast, ich kenne die Wahrheit.«
Ejahl sah zu dem Raben. »Alles?«, fragte er.
Kematian riss seinen Blick für einen Moment von den Straßen los und richtete ihn auf den Dieb. Er nickte und meinte: »Alles.«
»Ihn kann ich verstehen«, sagte Ava. »Damals war ich noch jung, ich war ein Kind, als er losgezogen war. Aber ... während ich bei dir lebte, wurde ich erwachsen.«
Ejahl nickte. »Ich weiß.«
»Und es hat dich nicht gekümmert, ob ich die Wahrheit erfahre. Du hättest mir alles sagen können und ich hätte es verstanden. Ich hätte ...« Ihre sonst aufgeweckten blauen Augen glitzerten feucht von Tränen. Röte des Zorns legte sich auf ihre Wangen. »Ich hätte doch einfach nur gern die Wahrheit gewusst.«
Für einen Moment schloss Ejahl die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er auf seine eigenen Hände, die in seinem Schoß ruhten. Es gab keine Worte, die er zu seiner Verteidigung anführen konnte.
»Ich weiß«, sagte er nur. »Ich weiß doch. Ich ...« Er brach ab. Ungeachtet, was er sagte, er würde sich nur in Entschuldigungen oder Anschuldigungen flüchten. Und hinter keinem von beiden wollte er sich verstecken.
»Ich hätte es dir sagen sollen«, meinte er. »Und ich kann nur hoffen, dass du mir vergeben kannst, dass ich es nicht getan habe.«
Ava sprang auf die Füße. »Und jetzt stellst du es wieder so hin, als wäre meine Reaktion unbegründet. Als wäre ich ein Kind und du müsstest nur warten, bis ich nicht mehr wütend bin!«
Tränen rannen ihr ungehemmt über die zornesroten Wangen. Am liebsten wäre Ejahl aufgestanden, um sie in den Arm zu nehmen und zu trösten, doch sie würde es von ihm in diesem Moment nicht begrüßen.
»Ich habe dir vertraut«, sagte sie, diesmal wieder leiser. »Ich dachte wirklich, ich würde dir etwas bedeuten.«
Ejahl hatte gewusst, dass sie das Verschweigen der Wahrheit mit einer Lüge gleichsetzte und es nicht ausstehen konnte, angelogen zu werden.
Er hatte gewusst, dass sie so reagieren würde, wenn sie die Wahrheit von jemand anderem als von ihm selbst hörte. Aber dem Raben konnte er keinen Vorwurf machen, denn dieser hatte nur getan, was jeder gute Vater getan hätte. Jeder bessere Vater als Ejahl.
Ava stieß ein Schnauben aus, als keine Antwort von ihm kam. Sie wandte sich ab und stob aus der Tür.
Mehr aus Reflex trat V beiseite, nur um sich im nächsten Augenblick ebenfalls umzudrehen und ihr hinterherzuhasten.
Ejahl wartete, bis die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, dann vergrub er das Gesicht in seinen Händen. »Ich hätte es ihr sagen sollen«, murmelte er.
Kematian löste sich von dem Fenster und trat an ihn heran. »Nachdem sie mich gefunden hatte, konnte ich ihr nichts mehr verschweigen.« Er legte eine Hand auf Ejahls Schulter und drückte sie leicht.
»Ich mache dich nicht dafür verantwortlich«, sagte Ejahl. »Ich wusste schon lange, dass es Zeit für dieses Gespräch war und habe mich doch nie überwinden können. Nun ist es allein meine Schuld und ich allein muss mit ihrem Zorn leben.«
»Sie ...« Kematian räusperte sich. »Sie hat sich gut entwickelt. Ich hätte niemand Besseren als dich finden können.«
Ejahl stieß ein leises Seufzen aus. »Ich schätze es, dass du versuchst, mich aufzuheitern, aber ...«
Kematian nutzte das kurze Schweigen. »Ich meine es so. Sie hat die Reise hierher unbeschadet überstanden, sie steht für sich selbst ein und sie sagt, was sie denkt. Ich hätte es nicht besser machen können.«
Ejahl hob das Gesicht aus den Händen und sah zu dem Raben. Er kniff die Augen zusammen. »Wer bist du und was hast du mit Kematian gemacht?«
Kematian nahm die Hand von Ejahls Schulter und verschränkte die Arme vor der Brust. »Du hättest es einfach genießen können.«
Der Meisterdieb schenkte ihm ein erschöpftes Lächeln, das seine Betrübnis jedoch nicht verbarg. »Taktgefühl ist keine meiner Stärken.«
Er erhob sich von dem Sofa und streckte sich. »Und da wir gerade bei meinem mangelnden Taktgefühl sind: Wie ist die Lage?«, fragte er. »Mit den Dieben und den Raben?«
»Schwierig.«
»Das ist nichts Neues. Was ich aber eigentlich meinte: Wer hat die Oberhand? Wie hoch sind die Verluste? Wer hält die Führung?«
»Die Raben sind als die Stärkeren aus dem Angriff hervorgegangen«, sagte Kematian. »Bei dem Brand sind viele der Diebe ums Leben gekommen oder wurden bei der Flucht von den Raben aufgehalten. Eine kleine Gruppe hat überlebt – wiederum weiß ich aber nicht, wie viele ihr zuvor wart. Die Führung hat Jeanne.« Er rümpfte die Nase. »Sie hat die Flucht organisiert und deine Leute hierher geführt. Ich bezweifle jedoch, dass ihr lange sicher sein werdet.«
»Du traust ihr immer noch nicht?«, fragte Ejahl, dem Kematians Reaktion, als er Jeannes Namen ausgesprochen hatte, nicht entgangen war.
»Sie trägt einen Geruch an sich, der mir vertraut ist«, sagte Kematian. »Aber er ist überdeckt von ihrem eigenen, der ungewöhnlich vielfältig ist, sodass ich nicht erkennen kann, weshalb sie mir vertraut erscheint.«
Ejahl sah ihn fragend an. »Was meinst du mit ›vielfältig‹?«
»Sie riecht nicht nach einem einzigen Menschen, sondern als hätte sie die Gerüche vieler in sich vereint. Als du noch jünger warst, habe ich bei dir Ähnliches wahrgenommen.«
Ejahl legte eine Hand unter sein Kinn und strich sich durch den Bart. Mittlerweile war er so lang geworden, bald könnte er anfangen, Zöpfe hinein zu flechten. »Interessant«, meinte er nur. »Ich werde es mir merken.« Er zog kleine Kreise in dem Raum.
Kematian folgte ihm mit seinem Blick. »Du hast mir nie gesagt, weshalb du dich nicht zur Ruhe gesetzt hast. Ich wusste, dass du nie aufhören würdest, zu stehlen, aber warum hast du die Diebe nicht aufgegeben? Warum organisierst du sie und bringst dich so unnötig in Gefahr?«
Ejahl blieb stehen. »Das willst du sicher nicht wissen.«
»Doch.«
»Es ist ...« Ejahl wich seinem Blick aus, »kitschig.«
»Von dir bin ich nichts anderes gewöhnt«, meinte Kematian und wiederholte: »Warum?«
Ejahls Backenzähne mahlten. »Ich lasse Waisenhäuser errichten.« Er murmelte die Worte nur, aber dem feinen Gehör des Raben entkam nichts.
»Du tust was?« Kematians Augenbrauen hoben sich leicht.
Für einen Moment war Ejahl abgelenkt, denn nur selten zeigte Kematian sein Innenleben so deutlich, dann konzentrierte er sich aber wieder auf die Unterhaltung. Er seufzte und sagte diesmal lauter: »Ich lasse Waisenhäuser errichten. Jeder Dieb, der es sich leisten kann, gibt etwas ab und auch ich selbst steuerte viel bei. Ich bezahle die Kosten für die Erbauung und Instandhaltung, den Unterhalt der Kinder und auch ein kleines Gehalt für diejenigen, die dort helfen. Meine Diebe behalten ein Auge auf die Häuser und falls irgendwelche Schläger Streit anfangen, greifen sie ein.«
Sein Blick flackerte kurz zu Kematian, aber als dieser nichts sagte, fuhr er fort: »Die meisten haben mich noch nie gesehen und wissen nur, dass sich irgendein reicher Gönner darum bemüht, dass sie den nächsten Tag noch erleben.« Er schnaubte. »Und jetzt fühle ich mich wie der Gute. Großartig.«
Kematians Blick war verdüstert. »Warum kümmert es dich?«, fragte er.
»Bring mich nicht dazu, es zu sagen.« Ejahl wollte nicht darüber sprechen, aber er hatte auch nicht länger die Kraft, sich in weitere Erklärungen zu flüchten.
»Sag es mir.« Kematians Ton war ruhig, doch unter ihm lag eine bestimmende Note.
Ejahl seufzte leise und wandte sich halb ab. »Um so vielen Kindern wie möglich ein Leben zu ersparen, wie ich es geführt habe«, gab er zu. »Ich weiß, dass ich die Welt nicht ändern kann, aber wenn nur einige Kinder dem entkommen können, was ich damals erlebt habe, dann habe ich mein Ziel erreicht.«
Für einige Momente stand Schweigen im Raum, bis Ejahl erneut das Wort ergriff: »Zufrieden?«
Kematian musterte ihn kurz. »Nein«, sagte er, »aber ich verstehe dich.«
»Gut«, meinte Ejahl und wandte sich nun ganz der Tür zu. »Dann lass uns ein paar Raben die Federn rupfen. Vielleicht heitert mich das wieder auf.«
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