45 Mysterien
Liebe… Was für ein dummer Begriff. Liebe war so viel mehr als ein Wort, mehr als tausend Worte. Und Scarlett wusste, dass Alessandro für sie genau das war. Denn wenn nicht, hätte es ihr so weh getan? Würde sie hier sitzen und ins Leere starren, wenn ihre Gefühle für Alessandro nichts mit Liebe zu tun hätten? Allerdings war es jetzt ohnehin zu spät. Sie wusste nicht, warum er so zurückweisend war… Aber sie wusste, dass er sie nie näher an sich heranlassen würde, dass es nie intimer zwischen ihnen werden würde. Die Liebe war doch auch nur der Traum einer Utopistin, der genau das war: Ein Traum, etwas Unreales.
...
»Matt?« Sie klopfte gegen die Tür. »Bist du da?«
»Komm rein.«, rief er aus dem Inneren.
Sie folgte seiner Aufforderung und betrat den Raum. Hinter sich zog sie die Tür zu. Matt war dabei, von seinem Schreibtischstuhl aufzustehen.
»Und? Warum bist du hier?«
»Hast du schonmal von einem Zeichen gehört, das aussieht wie ein Herz mit Schnörkeln darin?« Sie musste einfach herausfinden, was dieses Symbol bedeutete. Und Alessandro zu fragen, konnte sie seit letzter Nacht sowas von vergessen.
Matt schien zu überlegen, denn sein Blick schweifte Gedankenversunken gen Himmel. »Ich weiß nicht, ob du das meinst, aber ich glaube, ich habe so ein Zeichen schon einmal im Omniscius gesehen.«, murmelte er. »Das ist ein Zauberbuch.«, erklärte er.
»Jaja, ich weiß was das Omniscius ist.«, winkte sie ab. »Was stand dort dazu?«
»Das ist ein kleines Problem…Ich weiß es nicht.«, erwiderte er und senkte entschuldigend den Blick. »Und das Buch ist im Büro meines Vaters.«
Klasse! Großartig! Grandios! …
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Scarlett mit betrübter Miene.
»Na wir gehen es holen.«, antwortete er entschlossen.
Er ging zur Tür, doch bevor er sie öffnete, fragte er: »Warum willst du das überhaupt wissen?«
Sie hatte gewusst, dass er diese Fragen stellen würde und doch hatte sie Hoffnung gehabt, dass er es nicht tun würde. Als Antwort zog sie bloß mit gesenktem Blick ihren Ärmel hoch. An ihrer Schulter prangte weiterhin das Brandmal. Matt starrte sie erschrocken an und hielt sich eine Hand vor den Mund.
»Das… Ist das dein Ernst?!«, stieß er in einem beinahe schrillen Ton aus. »Wie…?«
»Ich weiß es nicht.«, erwiderte sie und verzog entmutigt die Mundwinkel. »Deswegen will ich ja wissen, was das ist und wie ich es wieder loswerde.«
»Okay, ich werde herausfinden, was das ist.«, sagte er und eilte aus dem Raum, bevor Scarlett noch einmal zu Wort kommen konnte.
...
Der Abend siechte dahin und der Himmel versank in einem tiefen Orange, das in ein dunkles Nachtblau überging. Schon lange hatte sie keinen Sonnenuntergang wie diesen mehr erlebt. In der Station gab es kein Fünkchen Tageslicht, sodass sie den Abend hier draußen genoss. Scarlett hatte diese Entscheidung getroffen, da Matt immer noch nicht zurückgekehrt war.
Auf einmal sah sie eine Bewegung im Schatten eines Baumes. Es war zu weit entfernt, als dass sie erkennen könnte, was dort war. Allerdings spürte sie, wie Schweiß sich auf ihrer Haut zu bilden begann. Langsam stieß sie sich vom laubbedeckten Waldboden ab und trat mit vorsichtigen Schritten näher an den Baum heran. Vermutlich war es nur ein Eichhörnchen, aber wenn sie es sah, würde sie sich endlich wieder beruhigen können. Doch als sie näher kam, wurde ihr klar, dass das kein Eichhörnchen war, denn die Gestalt, die dort im Schatten kauerte, war weitaus größer.
...
Er setzte sich auf die kahle, kalte Wiese. Das Laub raschelte unter seinen Bewegungen, doch er war allein. Und das war gut. Er atmete die kühle Abendluft ein und ließ sie seine Lunge mit Sauerstoff füllen. Allmählich fing er an, sich zu entspannen. Die Beine nach vorne gestreckt und überkreuzt, lehnte er sich an den Baumstamm hinter ihm. Plötzlich vernahm er ein Geräusch, das aus dem dichten Wald drang. Es kam in gleichmäßigem Tempo näher und hörte sich an, als wären es Schuhe, die mit langsamen Schritten über den eisigen Boden stapften. Sofort kehrte die Anspannung in seine Glieder zurück und er wurde aufmerksam. Dampfender Nebel hing in der kalten Luft, der aus dem Atem entstand, der aus seinem Mund entwich. Als die Schritte ganz nahe klangen, sprang Alessandro mit einem Satz auf. Er drehte sich mit unmenschlicher Geschwindigkeit um… Und stieß mit einer Person zusammen. Ein kurzes Knurren entfuhr ihm, während die andere Person in einem schrillen Ton aufschrie. An der Stimme erkannte er, dass es Scarlett war.
»Was machst du hier?!«, schrien sie beinahe gleichzeitig.
Er hatte sich so sehr auf einen ruhigen Abend gefreut, stattdessen durfte er sich jetzt wieder einmal mit Scarlett herumschlagen.
»Ich habe mir bloß den Sonnenuntergang angesehen.«, erwiderte sie mit genervter Miene und vor der Brust verschränkten Armen.
»Dito«, entgegnete Alessandro. Er durchbohrte sie mit dieser Abneigung, von der er wusste, dass sie ihr weh tat.
Wütend starrten sie einander an, bis sie schließlich ein klingelnder Ton unterbrach. Er schien aus Scarletts Jackentasche zu kommen. Sie holte ihr Smartphone daraus hervor und hielt es an ihr Ohr, wobei sie nicht eine Sekunde den Blick von Alessandro abwand.
»Hallo?«, fragte sie.
Daraufhin folgte eine lange Pause, in der Scarlett immer nervöser ihr Gewicht von einem Bein aufs andere verlagerte.
»Nein, das geht nicht.«, sagte sie mit entschlossener Stimme in den Hörer, wobei Alessandro nicht entging, wie sie die Zähne aufeinander biss und ihr Blick suchend umher schweifte. »Ich… Da… habe ich schon ein Date.«, stotterte sie in den Hörer.
Sie ballte die Hand, die nicht das Smartphone hielt zur Faust, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Erneut schien ihr Blick etwas zu suchen… Und blieb mit aufeinander gepressten Lippen bei Alessandro hängen.
»Alessandro.«, sagte sie.
Fragend zog er eine Augenbraue hoch, denn sie schien immer noch mit der Person am anderen Ende der Leitung zu sprechen. Was hatte er in einem Gespräch von Scarlett und jemandem, den sie anscheinend kannte, zu suchen?
»Er geht mit mir auf die Schule.«, sagte sie.
Jetzt hatte er beide Augenbrauen bis in die Stirn gezogen. Worum ging es bitte in dieser Unterhaltung?
»Okay«, war das nächste, was sie sagte. »Mach ich. Dann bis bald.« Ihre Stimme klang mehr als angespannt. »Hab dich lieb.«, fügte sie noch hinzu, bevor sie auflegte.
»Wer war das?«, wollte er mit gerunzelter Stirn wissen.
»Das geht dich einen Scheißdreck an!«, schrie sie ihn an.
»Du hast meinen Namen erwähnt.«, erinnerte Alessandro sie. »Ich denke, das geht mich sehr wohl was an.«
»Nun gut…«, gab Scarlett nach, was Alessandro mehr als überraschte. »Meine Mom wollte, dass ich am Samstag vorbeikomme, aber…« Sie schienen nach Worten zu suchen. »Ach, das verstehst du ohnehin nicht.«
Scarlett wandte sich ab. Der Himmel war mittlerweile in tiefschwarzer Nacht versunken, doch er war heute wolkenlos. Der Mond warf sein kaltes Licht auf sie beide.
»Warte.«, sagte Alessandro entschlossener, als ihm lieb war.
Ruckartig blieb Scarlett stehen. Zögernd drehte sie sich wieder zu ihm.
»Ich kann nichts versprechen… Aber ich werde es auf jeden Fall versuchen, zu verstehen.« Er schenkte ihr all die Wärme, die er nach all der Zeit noch schaffte, aus seinem Blick sprechen zu lassen.
Sie zögerte. Er wusste warum. Sie ebenso. Er war beim letzten Mal zu weit gegangen, das wusste er jetzt. Doch wusste Scarlett das auch? Vielleicht war jetzt der Zeitpunkt, sich zu entschuldigen, doch da begann Scarlett bereits zu sprechen.
»Es ist mir momentan einfach alles zu viel…«, gab sie zu, aber sie sah ihn nicht an. »Ich würde nicht dichthalten können über all das hier, wenn ich sie sehe.« Sie schien mit einer Geste ihrer Arme alles um sie herum umfassen zu wollen, wobei sie Alessandro schließlich direkt in die Augen sah. »Da habe ich ihr gesagt, ich hätte an dem Tag schon ein Date… mit dir.« Und plötzlich stand da Angst in ihren Augen. Angst vor ihm, vor seiner Reaktion. Dachte sie, er würde sie dafür bestrafen? Dass er ihr Knochen brechen würde? »Und sie wollte Fotos davon… Ich habe zugestimmt… Es tut mir leid.« Ihre Stimme war während sie sprach immer leiser geworden.
Er machte einen Schritt auf sie zu. Scarlett zuckte zusammen.
»Bitte…«, flüsterte er. »Hab keine Angst...«
Monster! Monster! Monster! , hörte er seine Gedanken wieder schreien. Doch diese Schreie hörte nur er. Nur er und die Stille in seinem Inneren.
»Wieso sollte ich keine haben?«, fragte sie. »Du… Ich kann dich nicht einschätzen. Du bist unberechenbar!« Ihre Stimme war wieder lauter geworden und ließ dieses Mal Alessandro zusammenfahren.
Wie ein dickes Tau zog sich etwas um Alessandros Brust zusammen, sodass er das Gefühl bekam zu ersticken. Er war nicht so, wie sie dachte. Doch wie sollte er ihr das beweisen? Warum sollte er ihr das beweisen?
»Ich weiß…«, sagte er so nur. »Aber bitte tu das nicht.«
»Was?«
»Mich verurteilen, obwohl du mich nicht kennst.«
»Aber ich kenne dich doch. Ich verstehe dich bloß nicht.«, erwiderte sie verständnislos.
»Nein, tust du nicht. Nicht so.«, sagte er. »Du hast keine Ahnung wer ich wirklich bin…«
»Und wer bist du dann, wenn ich dich nicht kenne?« Scarlett klang schon wieder genervt.
»Vergiss es einfach.«, erwiderte Alessandro.
»Nein, ich will es wissen.«, meinte sie und das Lächeln auf ihren Lippen zeugte von der Ironie in ihrer Stimme. Es interessierte sie nicht.
»Gespräch beendet.«, sagte er und ließ alle Wärme aus sich entweichen, wie ein Ofen, den man in einem eiskalten Raum öffnete.
Dann öffnete er ein Portal und verschwand von dort.
...
»Ich habe es gefunden.«, sagte Matt am nächsten Morgen zu Scarlett, während sie in einem kleinen Café frühstückten.
Das ganze erinnerte sie an ihren letzten Café Besuch… Nach dem sie beinahe gestorben wäre.
»Was?«, fragte sie und blickte von ihrer Kaffeetasse auf, da sie mit ihren Gedanken völlig neben der Spur war.
»Das Zeichen.«, sagte er. »Ich weiß, was es bedeutet.«
Es dauerte einen Moment, bis sie wieder bei der Sache war und wusste, dass es um das Brandmal auf ihrem Oberarm ging.
»Ja? Und was bedeutet es? Und wo kommt es her?« Wenigstens einem Mysterium würde sie heute vielleicht auf die Schliche kommen.
Er legte ein Papier vor ihr auf den Tisch, worauf das Symbol abgebildet war.
»Das ist eine Kopie aus dem Omniscius.«, erklärte Matt. »Das Zeichen besteht aus einem Herz, welches für Liebe steht, einem Unendlichkeitszeichen, das - Überraschung! - für Unendlichkeit steht und einem anderen Zeichen - in deinem Fall Fische - , die dein Sternzeichen symbolisieren.« Es verblüffte Scarlett, wie sehr er sich damit auseinandergesetzt zu haben schien. Und tatsächlich stimmte alles, was er gesagt hatte. Wenn sie genauer auf das Herz und die verschlungenen Zeichen sah, erkannte sie die umgekippte Acht und die symmetrischen Fische darin. »Alles in allem steht es für unendliche Liebe und entsteht, wenn die Magie zweier Liebender stark aufeinander trifft.«
»Was?!«, stieß sie fassungslos aus.
Das konnte nicht wahr sein. Unmöglich. Bevor sie dieses Mal bekam, hatte sie ihre Magie zum heilen ihrer Wunde benutzt und Alessandro ebenfalls… Sie hatte ihn gespürt.
»So steht es dort aber.«, entgegnete er und wies mit dem Finger auf den Bogen Papier. »Mit wem ist deine Magie in Berührung gekommen?«
Sie war sich unschlüssig, ob sie ihm antworten oder dies lieber lassen sollte. Zum einen würde Matt nie irgendetwas gegen sie verwenden, zum anderen wusste sie selbst nicht genau, was die Wahrheit war…
»Alessandro…«, erwiderte sie schließlich. »Aber das kann nicht stimmen.« Nervös biss sie sich auf die Unterlippe. Denn die Frage war für sie nicht ›Was wenn nicht…?‹ sondern ›Was wenn doch…?‹. Der Gedanke war erschreckend und faszinierend zugleich.
»Das lässt sich doch einfach herausfinden.«, meinte Matt und biss herzhaft von seinem Croissant ab.
»Und wie?«, fragte Scarlett misstrauisch und trank einen großen Schluck von ihrem Kaffee, den sie stark gesüßt hatte.
»Also, wenn wirklich seine Magie für dieses Zeichen verantwortlich ist, dann hat er ebenfalls eins, an derselben Stelle.« Er fasste sich mit der Hand an seinen Arm und Scarlett Begriff augenblicklich.
Sie würde ihn danach fragen. Jetzt sofort. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und eilte zur Tür, während sie Matt zu rief: »Danke für die Infos, du kannst mein Essen haben.« Dieses hatte sie nämlich noch nicht angerührt.
Daraufhin verließ sie so schnell wie es möglich war, ohne Aufsehen zu erregen, das Café.
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