43 Gebrandmarkt
Scarlett legte schweren Herzens die Hände an den hölzernen Bilderrahmen und nahm ihn von der Wand. Ihr war nicht entgangen, wie Alessandro ihn vor zwei Tagen angesehen hatte - oder eher den Schriftzug darin. Sie legte ihn in eine Schublade, die in ihren Schreibtisch eingelassen war, und ließ diese dann mit einem Knall zufallen. Dann hörte Scarlett das Knarzen von Scharnieren. Es war keine große Überraschung, als sie Alessandro im Türrahmen stehen sah, seit Sijes Angriff hatte er sie jeden Tag besucht. Allerdings war sie sich nicht sicher, ob er nur aufgrund dessen, dass sie schnellstmöglich wieder trainieren sollte, kam oder ob vielleicht mehr dahinter steckte.
»Wie geht es dir heute?«, wollte er wissen.
Er war heute früher als sonst. Zudem wirkte er so, als wäre er gerade erst aufgestanden. Das Haar stand ihm wirr vom Kopf ab und der dünne Pullover war zerknittert. Die Jeans hingegen wirkte wie neu.
»Besser.«, sagte sie und band sich einen Zopf.
Ihr Haar sah nicht so gut aus, wie es es einst getan hatte. Seit sie auserwählt wurde, war sie nicht mehr beim Friseur gewesen und hatte sich somit auch keine Strähnen mehr gefärbt. Deshalb waren sowohl die schwarze als auch die braune Strähne nun fast gänzlich rausgewachsen. Zumindest die Spitzen hatte sie sich aber regelmäßig selbst geschnitten.
»Ich will dich nicht drängen, aber wir sollten bald wieder Trainings durchführen. Sowas wie vor zwei Tagen, darf nicht wieder geschehen.«
»Ich verstehe schon.«, erwiderte Scarlett.
Sie wusste, dass es wichtig war, auf weitere Kämpfe vorbereitet zu sein. Sie wartete darauf, dass er ging und ihr Zeit gab sich umzuziehen, doch Alessandro blieb weiterhin im Türrahmen stehen. Auch als sie sich umdrehte, konnte sie weiterhin seinen Blick auf sich spüren.
»Könntest du vielleicht…?«, warf sie ein mit einem Blick in Richtung Flur.
»Oh, ja.«, meinte er leicht peinlich berührt. »Natürlich«
Er drehte sich schleunigst um und verschwand in den Gang, während er die Tür hinter sich zuzog. Scarlett machte sich daran, die Hose und das Shirt aus einem Kleiderhaufen zu fischen, die sie immer für das Training nutzte. Sie hoffte, er würde es nicht bemerken, dass die Sachen nicht gewaschen waren. Außerdem sollte er wissen, dass sie keine große Auswahl an Sportkleidung hatte. Schließlich war der einzige Sport, den sie in ihrem Leben je gemacht hatte, der der Schule gewesen. Dann legte sie noch die Kontaktlinsen ein.
Nachdem sie geeignet gekleidet war, schlenderte sie zum Trainingsraum. Vor diesem stand wie vor jedem Training Alessandro. Er hatte sich an die Wand gelehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Sein Blick traf ihren und kurz verspannte sie sich. Dann stieß er sich von der Wand ab und öffnete die Tür. Sie folgte ihm schweigend.
Während sie trainierte, merkte Scarlett, wie gelöst sie sich heute dabei fühlte. Als könnte sie durch die Bewegung die ganze Anspannung der letzten Tage rauslassen und einfach vergessen. Sie mochte das Gefühl des Schwertes in ihrer Hand. Mehrmals war das Klirren von Metall auf Metall zu hören, bis Alessandro die Oberhand gewann. Er schaffte es nicht mehr rechtzeitig abzubremsen und bohrte die Klinge in Scarletts Schulter. Schmerz stach durch ihren Arm. Sie war schon dabei die Wunde selbst zu heilen, als sie auch Alessandros Magie auf ihrer Haut spürte. Sie war wie eine warme Decke, die sich über sie legte. Allerdings nicht irgendeine Decke, sondern seine. Scarlett konnte es sich selbst nicht erklären, doch irgendwie hinterließ jede Magie ihr ganz eigenes Gefühl.
Als sie auf ihre Schulter hinabblickte, sah sie auf ihrem Oberarm jedoch ein Zeichen prangen. Es sah aus wie ein Herz, geschwungen aus einer Linie, verziert durch Schnörkel im Inneren. So rot wie ein Brandfleck, der in ihre Haut gebrannt war.
»Was ist das?«, fragte sie Alessandro, der allerdings ebenso verblüfft zu sein schien, wie sie selbst.
Jedoch blickte er gar nicht mehr in ihre Richtung, sondern zur Tür, während er ihr zu zischte: »Leg deine Hand darüber.«
Scarlett war verwirrt, tat jedoch, was er sagte und hielt ihre Hand über das Zeichen an ihrer Schulter. Sie merkte schnell, weshalb er das gesagt hatte, denn als sie den Blick schweifen ließ, entdeckte sie Sascha im Rahmen der Tür stehen. Er musterte sie beide mit Argwohn in den Augen.
»Was macht ihr hier?« Sein Blick war stur auf Alessandro gerichtet, als würde er Scarlett gar nicht bemerken.
»Wir trainieren.«, antwortete Alessandro mit demselben starren Blick in den Augen. »Ist das neuerdings etwa verboten?«
Gab es einen Streit zwischen den beiden, von dem sie nichts wusste? Anders konnte sie sich ihr feindliches Verhalten nicht erklären.
»Nein, natürlich nicht.« Erleichterung durchfuhr Scarlett. »Aber ganz sicher nicht mit Waffen. Wir trainieren hier für den Schutz der Magie und nicht für das Militär.«
Sofort wich die Erleichterung purer Entrüstung. Sie trainierten hier doch zum Schutz der Magie. Was fiel dem ein, das zu verbieten?! Alessandro schien ebenfalls nicht begeistert davon zu sein. Sie sah, wie er vor Zorn rot wurde.
»Genau das tun wir doch auch. Niemanden hier scheint es zu kümmern, dass dieser Mörder frei herumläuft. Er hat selbst Magie! Nur mit Waffen haben wir auch nur den Hauch einer Chance. Und das willst du verbieten? Damit wir alle am Ende draufgehen?!«
Sascha war aschfahl geworden bei Alessandros Wutausbruch. Dabei wusste er nicht einmal, dass das hier noch die milde Variante gewesen war. Wäre er tatsächlich so wütend, wie Sascha vermutlich dachte, wären schon längst Knochen gebrochen. Sie erinnerte sich nur noch allzu gut daran, wie er sie gegen die Wand gedrückt und ihre beiden Schlüsselbeine hat brechen lassen. Bei dem Gedanken kroch ein kalter Schauer ihr Rückgrat hinab. Es war keine ihrer schönsten Erinnerungen, denn bei dieser wurde ihr immer wieder aufs Neue bewusst, wie machtlos sie war.
»Ihr kommt mit in Mr. Ha… Mr. Lyalls Büro« Damit drehte Sascha sich um, doch man sah, wie nervös und angespannt er war. Er vermutete wohl, sie würden sich wehren.
»Kann ich mich bitte kurz umziehen gehen?«, fragte Scarlett. Sie konnte nicht riskieren, dass einer der Hüter dieses seltsame Zeichen entdeckte.
Mit einem Blick auf ihre Kleidung erwiderte Sascha: »In Ordnung, aber danach kommst du sofort zu Mr. Lyalls Büro.«
Sie nickte. Mit einem Blick, der ihn warnen sollte, nichts zu tun, was ihnen schaden könnte, verabschiedete sie sich von Alessandro. Daraufhin verschwand sie mit schnellen Schritten im Gang. Sie hoffte, niemand würde Fragen stellen, weshalb sie ihre Hand so stark an ihren Oberarm presste.
Schnell zog sie sich einen dünnen Pullover über und eine anthrazitfarbene Hose an. Dann prüfte sie noch kurz im Spiegel, ob keine der Kontaktlinsen verrutscht war und die Sicht auf ihre echte Iris freigab. Rasch lief sie den Korridor hinunter zu Mr. Lyalls Büro, dass das ehemalige von Mr. Havering war. Sie hatte ihn zwar nie gemocht, doch es tat ihr leid für ihn, wie schnell er ausradiert worden war und nichts mehr von ihm hier vorzufinden war. Seine Ermordung wurde vertuscht, sodass nie jemand erfahren würde, wie er ums Leben gekommen war. Seiner Familie hatte man mit der Hilfe von Magie weisgemacht, er wäre nach Asien ausgewandert und hätte den Kontakt abbrechen wollen. Sie wollte sich gar nicht vorstellen, welch große Schuldgefühle seine Angehörigen nun haben müssten, obwohl sie nichts falsch gemacht hatten.
Als sie das Zimmer betrat, saß Alessandro bereits auf einem der Stühle. Hinter dem Schreibtisch entdeckte sie Mr. Lyall. Sascha hingegen stand mit verschränkten Händen an der Wand und bemerkte sie als erster.
»Scarlett«, begrüßte Mr. Lyall sie. Sie war froh, dass er sie nicht siezte. »Setz dich.«
Sie tat, was er verlangte, und ließ sich auf dem Stuhl neben Alessandro nieder. Sie konnte geradezu spüren, wie schwer es Alessandro fiel, ruhig sitzen zu bleiben und nichts zu unternehmen. Tatsächlich fühlte es sich so an, als wären sie in der Schule zum Direktor geschickt worden. Scarlett hatte die Schule zwar schon etwas vermisst, doch Besuche beim Direktor ganz sicher nicht.
»Wie kommt ihr beiden auf die Idee, mit Waffen zu trainieren?! Ihr hättet euch verletzen können oder schlimmeres. Zudem hat Scarlett dadurch, dass ihre Magie nicht funktioniert keine Chance sich selbst zu helfen.«, sagte Mr. Lyall in vorwurfsvollen Ton.
Scarlett mochte Mr. Lyall, aber sie wusste, dass er auch sehr unangenehm werden konnte.
»Ich kann meine Magie aber nutzen, um Wunden zu heilen.«, widersprach Alessandro ihm. »Wir müssen uns vorbereiten, sonst kann so etwas wie vor zwei Tagen bald jemanden von uns das Leben kosten.«
Mr. Lyall antwortete nicht sofort, sodass Alessandro die Gelegenheit ergriff um weiter zu sprechen: »Ich wette mit Ihnen, dass wenn wir jetzt nichts unternehmen, innerhalb des nächsten Monats mindestens eine Person, die gerade in diesem Raum anwesend ist, nicht mehr am Leben sein wird.«
Er stützte sich mit dem rechten Unterarm auf dem Schreibtisch ab und lehnte sich ein Stück vor. Scarlett konnte sehen, mit welch düsterem Blick er Mr. Lyall in die Augen blickte. Der Blick seiner zweifarbigen Augen war eisig und drohend. Scarlett sah aus den Augenwinkeln, wie Sascha blass geworden war. Mr. Lyall hingegen schien sich nicht von Alessandros Worten beeindrucken zu lassen.
»Du solltest deine Worte mit etwas mehr Bedacht wählen, Alessandro.« Mr. Lyall sah Alessandro genauso drohend in die Augen und faltete die Hände. »Du kannst froh sein, dass wir uns kennen. Dennoch solltest du hier niemandem drohen.«
»Das war keine Drohung.«, widersprach Alessandro mit gespielter Ruhe. »Sondern nur eine Tatsache.«
Mr. Lyall sah ihn mahnend an, doch Alessandro ließ sich davon nicht beirren: »Wir sollten lernen die Realität zu akzeptieren.«
Dann stand er auf und schritt auf die Tür zu. Empört blickte Mr. Lyall ihm nach, sagte jedoch nichts. Bevor Alessandro den Raum verließ, drehte er sich allerdings noch einmal um.
»Ich bin mir keiner Schuld bewusst, lediglich die Hüter haben einen Fehler gemacht.«, sagte er und sah Mr. Lyall direkt in die Augen, um seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen. »Komm Scarlett. Wir gehen.«
Sie sah zwischen den beiden hin und her und entschloss sich mit einem entschuldigenden Blick zu Mr. Lyall für Alessandro.
Dann verließen sie schweigend das Büro.
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