36 Nur eine einzige Nacht
Der Wind zupfte an Scarletts Haar, während der Regen es durchnässte. Zitternd und schluchzend und weinend saß sie im Regen. Ihr Körper protestierte heftig dagegen, weiter hier in der nächtlichen Kälte zu sitzen, aber sie ignorierte es. Es hatte sowieso alles keinen Sinn mehr. Kane hat sie verraten. Er wollte sie umbringen. Er war es. Er allein. Nur dieser eine Gedanke ging ihr durch den Kopf. Ansonsten war dort nichts mehr, als ein lautes Rauschen, das alles, was sie umgab, übertönte. Und sie hatte das Gefühl, dass sich dies auch nie mehr ändern würde.
Sie fröstelte immer stärker, je mehr Zeit verging. Ihre Hände waren taub, ihre Nase lief, doch das spürte sie eigentlich gar nicht richtig, da ihr Gesicht ebenfalls von der Kälte betäubt war. Wie lange dauert es eigentlich, bis man erfriert?, fragte sie sich gelegentlich, doch dann ignorierte sie diesen Gedanken einfach wieder. Es war ihr nicht mehr wichtig, was es für sie bedeutete, in der Kälte und im Regen zu sitzen. Vor ein paar Stunden hätte sie noch unfassbare Angst vor einer Lungenentzündung gehabt, doch jetzt interessierte sie das nicht mehr. Da war einfach überhaupt nichts mehr, dass sie interessierte. Und selbst wenn sie gewollt hätte, war ihr Körper mittlerweile so unterkühlt, dass sie nur noch wie zur Salzsäule erstarrt dasitzen konnte. Und langsam wurden auch ihre Lider schwer, doch sie versuchte gar nicht erst, sie offen zu halten…
...
»Hey…«, flüsterte eine tränengetränkte Stimme an ihrem Ohr. »Scarlett, bitte wach auf.«
Sie wollte die Augen öffnen, was jedoch nicht sofort klappte, da ihre Lider verklebt waren. Als sie die Augen schließlich jedoch öffnete, blinzelte sie ein paar mal, bis ihre Sicht wieder scharf wurde. Sie sah den dunklen Himmel über sich, der mit ein paar weißen Flecken gesprenkelt war, das Licht der Straßenlaternen, das gedämpft zu ihr durchdrang und die Spitzen der Häuser, die über ihr aufragten. Sie spürte einen ziehenden Schmerz in ihrem Hals und merkte, dass ihre Hände immer noch taub waren. Doch trotz dessen, nahm sie die Wärme wahr, die sie umgab, obwohl sie immer noch in dieser eisigen Gasse lag. Mit der Zeit nahm sie immer mehr wahr und merkte, dass es Hände waren, die sie dicht an einen Körper gedrückt hielten. Ganz langsam schaffte sie es, den Kopf zu drehen und…blickte in ein Paar verschiedenfarbiger Augen. Die dunklen Strähnen fielen ihm nass in die Stirn, was zugegebenermaßen ziemlich sexy aussah. Alessandros Augen waren etwas feucht, aber sie konnte sich nicht so recht erklären, weshalb. Jedoch kehrten jetzt auch allmählich die Erinnerungen an das, was geschehen war, zurück. Sie konnte einfach gar nicht anders, als erneut in Tränen auszubrechen. Es war ihr in dem Moment egal, dass Alessandro es sah, er war die Bemühung der Zurückhaltung nicht wert. Sie vermutete, dass er gleich fragen würde, was los sei, doch das tat er nicht. Er saß einfach nur da, hielt sie und wartete, bis ihre Tränen im Wind versiegt waren. Und als sie endlich genug Tränen vergossen hatte, blickte er sie bloß stumm an und sie erkannte, dass die Kälte aus seinen Augen, die sie dort sonst immer fand, in diesem Moment nicht mehr existierte. Sie waren voller Mitgefühl, Verständnis und…Offenheit. Als hätte er eine tonnenschwere Mauer fallen lassen, die sie nun nicht mehr davon abhielt, ihm direkt in die Seele zu blicken. Doch das könnte auch nur ein Trick sein, schließlich dachte sie solche Sachen auch über Kane, der sich nun als Massenmörder entpuppt hatte.
Trotzdem sagte sie: »Er war es…«, denn sie sah, wie verzweifelt er wartete, dass sie etwas sagte.
»Wer?«, fragte er.
»Die ganze Zeit…hat er mich nur benutzt…« Es fiel ihr schwer, das, was sie erfahren hatte, auszusprechen. Und sie merkte, wie ihr erneut ein paar heiße Tränen die Wangen herunter kullerten.
»Wer hat dich benutzt?«, fragte er wieder mit einem traurigen Blick.
Sie schwieg. Sie wollte nicht antworten. Denn wenn sie seinen Namen laut aussprach, würde es Wirklichkeit werden. Und dann könnte sie nicht mehr vor diesem grauenhaften Albtraum davonlaufen. Doch ihre Tränen schienen ihm Antwort genug zu sein, denn er zog sie nur noch näher an sich. Sie wollte es nicht, doch in diesem Augenblick war es ihr nicht wichtig, was hatte sie schon zu verlieren? Da war nichts mehr, was ihr wichtig war, worauf sie stolz war. Nichts. Und da würde auch nichts sein…für immer. Zudem wärmte er sie wieder etwas auf, nachdem sie so unterkühlt gewesen war. Und tatsächlich genoss sie seine Nähe ein wenig. Seine Haut war warm, obwohl auch er vom Regen durchnässt war und dieser Blick, mit dem er sie ansah…Nein, diesen Gedanken durfte sie nicht zu Ende denken. Sie hatte sich geschworen, nie wieder jemandem so bedingungslos zu vertrauen wie Kane. Und daran würde sie sich halten.
»Es ist okay…«, flüsterte er sanft. »Du brauchst mir nicht zu vertrauen…«
Dann spürte sie, wie die Wärme der Magie sie durchzuckte, als Alessandros Augen golden leuchteten. Die Schmerzen, die die Kälte in ihr verursacht hatte, verschwanden. Aber die Schmerzen, die sie von Kane hatte, blieben. Unsichtbare Wunden, wie mit einem Messer auf ihrem Herzen verewigt.
Alessandros Augen glommen erneut auf und ein Portal öffnete sich. Dann hob er sie, mit einem Arm unter ihren Kniekehlen und dem anderen unter ihrem Rücken, hoch. Der Himmel wurde langsam in das Grau des Morgens getunkt, während sie durch das Portal verschwanden. Auf der anderen Seite war ein Zimmer, wobei sie erst dachte, es sei ihres. Doch die Leere, die in dem Zimmer herrschte, gehörte nicht zu ihr. In ihrem Zimmer hatte sie wenigstens ein wenig Dekoration und Klamotten wild auf dem Boden verteilt, doch dieses Zimmer hätte sie für unbewohnt gehalten, wären da nicht der schlichte Bettbezug und die Jacken an den Kleiderhaken. Bevor sie Fragen stellen konnte, legte Alessandro sie in das Bett und legte die Decke über sie.
»Ist das dein Zimmer?«, fragte sie nach weiteren Minuten des Schweigens.
»Ja.«, antwortete er knapp.
»Wieso ist es so leer?«
Er zögerte, bevor er antwortete. Vielleicht hatte er selbst keine Antwort darauf, allerdings fand Scarlett, dass niemand in einer so tristen und trostlosen Umgebung schlafen sollte. Weshalb hatte er es nicht nach seinen Vorstellungen gestaltet?
»Es ist so besser.«, meinte er.
»Kane.«, sagte sie plötzlich. »Er…war es.« Sie versuchte die Tränen aus ihrer Stimme zu halten.
»Dieser dreiste Scheißkerl!«, fluchte er. »Das nächste Mal, wenn ich ihn sehe wird er nicht so viel Glück haben wie beim letzten Mal!«
»Doch, wird er.«, schluchzte sie. »Er ist… Er ist der Leiter der T. S. O. M.«
Sie blickte ihn nicht an, sie wusste selbst wie dumm sie gewesen war, da brauchte sie nicht auch noch seine Vorwürfe spüren. Sie sah die Tränen, die auf das Kopfkissen tropften und es befeuchteten. Dann spürte sie, wie Alessandros Hände sich fest an ihre Schultern legten und sie zwangen, ihn anzusehen.
»Hey.«, flüsterte er. »Es ist nicht deine Schuld, okay?«
Sie schwieg.
»Er hat deine Schuldgefühle nicht verdient, klar?«, versuchte er es erneut.
Wieder gab sie keine Antwort.
»Scarlett, bitte, das weißt du doch!«, flehte er sie an. »Es tut mir leid, was ich alles zu dir gesagt habe, okay? Aber bitte rede mit mir!«
Weiterhin schwieg sie und das Funkeln in Alessandros Augen erlosch, als er sie losließ und den Raum verlassen wollte. Doch bevor er außer Reichweite war, packte sie seine Hand. Einen Moment lang blickten sie sich nur in die Augen, dann schaffte Scarlett es sich aus ihrer Starre zu befreien.
»Bleib.«, flüsterte sie. »Bitte. Ich will nicht wieder allein sein.« Nicht so allein, wie sie sich fühlte, nachdem sie erfahren hatte, wer Kane wirklich war. Nicht so allein, wie in der Gasse, als sie das Bewusstsein verlor.
Als Antwort setzte er sich nur neben sie auf das Bett, während er weiterhin ihre Hand hielt. Weder sie, noch er ließ los. Doch schlagartig fiel ihr wieder ein, wer er war und sie entzog ihm ihre Hand sofort. Sie zitterte immer noch am ganzen Körper, vielleicht aber auch nicht nur wegen der Kälte.
»Wieso zitterst du?«, fragte er nach einiger Zeit mit rauer Stimme.
»Mir ist kalt.«, antwortete sie trocken. Er brauchte nicht zu wissen, dass seine Anwesenheit sein Übriges dazu beitrug.
Sanft hob er sie an und setzte sie auf seinen Schoß. Dann schloss er die Arme um sie. »So besser?«, fragte er mit einem amüsierten Unterton in der Stimme.
Sie warf ihm ein bittersüßes Lächeln zu. Sie wusste, dass sie ihm nicht vertrauen und auch nicht hier sein sollte, doch aus irgendeinem Grund konnte sie gar nicht anders.
»Warum tust du das?« Der Schmerz in ihrer Stimme war nicht zu überhören, denn sie wusste schon jetzt, wie sehr er ihr weh tun würde. Auch wenn da eigentlich gar nichts zwischen ihnen war.
»Was?«, fragte er, wobei er vollkommen ehrlich klang. Währenddessen liebkoste er ihren Rücken mit seinen Fingerspitzen, die sie auch durch den Stoff nur allzu deutlich spürte.
»Das.«, erwiderte sie und blickte auf seine Hände an ihrem Körper.
»Oh, es…es tut mir leid.«, meinte er und ließ sie los.
Sofort wurde ihr wieder eisig kalt, als sein warmer Körper sich von ihr löste. Auch wenn sie sich dagegen sträubte, musste sie sich eingestehen, dass da irgendetwas an ihm war, das ihr gefiel. Nein…was dachte sie da, sie hatte gerade erst erfahren, wer Kane war und schon warf sie sich - wortwörtlich - in die Arme des nächstbesten Typen.
»Nein, bitte.«, sagte sie und lehnte sich wieder gegen ihn.
Er schloss sie wieder in die Arme und legte den Kopf auf ihre Schulter.
»Es tut mir so furchtbar leid…«, flüsterte er leise und zum ersten Mal hörte sie seine Stimme brechen. Er hatte sich ihr gegenüber noch nie so verletzlich gezeigt. Und vielleicht fragte sie gerade deshalb nach.
»Was tut dir leid?«
»Ach nichts…«, nuschelte er.
»Du sagst mir«, setzte sie an. »Ich soll mit dir reden und mir an dem, was geschehen ist, keine Schuld geben…« Sie senkte die Stimme. »Aber wer redet mit dir?«
Er gab keine Antwort. Aber was hatte sie auch erwartet? Dass er ihr sagen würde, dass er selbst so etwas erlebt, dass er selber Probleme hatte? Nein, selbst wenn dies der Wirklichkeit entsprechen würde, würde er es ihr niemals erzählen. Sie sollte sich damit zufriedengeben, dass er ihr seine Verletzlichkeit zeigte, denn mehr würde er auch nicht preisgeben.
»Okay. Aber erwarte von mir nichts, was du auch selbst nicht tust.«, stellte sie klar.
Dann legte sie eine Hand auf seine Schulter und lehnte den Kopf an seine Brust. Langsam begann sie die Augen zufallen zu lassen, doch da redete Alessandro endlich wieder mit ihr.
»Scarlett, bitte. Tu das nicht.«, sagte er leise.
»Nur diese Nacht.«, flehte sie ihn an.
Es war ihr egal, was danach geschah, doch jetzt brauchte sie diese Geborgenheit. Brauchte sie ihn. Er blickte ihr direkt in die Augen, wobei es Scarlett wunderte, dass sie keine Furcht mehr in seinem Blick sah, während er in ihre tiefschwarzen Augen blickte.
»Okay.«, stimmte er zu. »Aber…Das hier ist nie passiert.«, flüsterte er bestimmt.
Dann strich er wieder über ihren Rücken und sah sie so intensiv an, dass sie fürchtete, unter seinem Blick zu verbrennen. Doch ihre Aufmerksamkeit hielt nicht allzu lange an, denn sie war so müde, dass ihre Lider immer schwerer wurden und sie sie schließlich nicht mehr offen halten konnte. Bevor sie einschlief, flüsterte Alessandro ihr jedoch noch etwas ins Ohr.
»Nicht alles ist so, wie es scheint, Scarlett. Manches ist…viel komplizierter.« Er machte eine Pause und fuhr dann noch leiser und mit zittriger Stimme fort. »Sei vorsichtig.«
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