35 Verraten

Die Kapuzengestalt war weiterhin verborgen, während das Messer auf Scarletts Brust zu flog. Panik durchzuckte sie einen Moment, doch dann erstarrte die Klinge in der Luft und fiel klirrend zu Boden. Scarlett konnte die Magie wieder in sich spüren - und nur deshalb steckte die Klinge nun nicht in ihrem Fleisch.

Es dauerte einige Momente, bis sie realisierte, dass sie gerade beinahe tödlich verletzt worden wäre. Schon zum zweiten Mal heute. Die Person, die das Messer geworfen hatte, schien ebenfalls verdutzt zu sein. Dies war auch der einzige Grund, weshalb Scarlett es vom Bett schaffte, bevor das andere Messer ebenfalls nach ihr geworfen wurde.

Doch statt auf sie zu zu rennen, blieb der Angreifer, wo er war. Dann leuchteten zwei grüne Augen unter der Finsternis der Kapuze.

Die Messer erhoben sich in die Luft, mit den Klingen auf Scarlett gerichtet. Zwar konnte sie immer noch nicht so gut mit ihrer Magie umgehen, doch sie versuchte, sich auf die Messer zu konzentrieren und sie aufzuhalten.
Es fühlte sich genauso an, wie an dem Tag, an dem sie Matt beinahe umgebracht hätte. Und tatsächlich drang auch wieder dieser dunkle Qualm aus ihr, der sich über den Boden hinwegzog und auf die Messer zu kroch. Feine Rauchsäulen schwebten empor und umgarnten die Messer, bis sie nicht mehr sichtbar waren. Irgendwann zog sich der Rauch zurück und alles, was von den Messern übrig war, waren ein paar wenige Staubkörnchen. Die Augen des Fremden erloschen.

Die Person bewegte sich nicht, und Scarlett war zu neugierig, als dass sie einfach davon lief. Sie wagte ein paar zaghafte Schritte und betrachtete den Fremden. Anscheinend hatte ihre Magie ihn erstarren lassen, sodass sie, ohne dass er sich wehrte, die Kapuze abstreifen konnte. Ihre Augen warfen ein Licht auf das Gesicht der Person, wodurch ihr sofort die haselnussfarbenden Augen und die langen blonden Haare ins Auge fielen.

»Skylar.«, flüsterte sie entsetzt. »Wieso…Warum…?«

Skylars Blick wirkte starr, doch das lag nicht an Scarletts Zauber. Verachten mischte sich in ihre Züge und auch ihre Augen blitzten wütend.

»Das geht dich einen Scheißdreck an!«, keifte sie. Scarlett sah, wie sich ihre Muskeln immer wieder und wieder anspannten und auch ihre Augen gelegentlich aufblitzten, allerdings war ihr Zauber zu stark, als dass Skylar ihm etwas anhaben könnte.

»Oh doch, das geht mich sehr wohl etwas an.« Scarlett war immer noch ein wenig geschockt, jedoch versuchte sie das Zittern in ihrer Stimme vor Skylar zu verbergen.

Skylar schwieg. Scarlett schwieg ebenfalls. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis es Morgen wurde, somit würde ihr genug Zeit bleiben, Antworten aus Skylar heraus zu quetschen. Selbst, wenn sie dafür erneut Magie benutzen müsste. Schon jetzt fühlte sie sich erschöpft, durch die starke Magie, die sie angewendet hatte, doch das würde sie nicht davon abhalten, weitere Zauber durchzuführen.

»Nagut«, meinte Scarlett nach einiger Zeit mit vor der Brust verschränkten Armen. »Wenn du mir nichts erzählst, dann werden wir eben andere Wege gehen müssen.« Als Warnung ließ sie das Schwarz ihrer Augen bedrohlich aufleuchten. Sie hoffte immer noch, dass Skylar eine vernünftige Erklärung hierfür hatte oder zumindest mit ihr reden würde.

»Okay, aber lass bloß deine schwarze Magie bei dir!«, zischte Skylar. »Dein eigenes Pech, denn was du zu hören bekommen wirst, wird dir sicher nicht gefallen…«

Scarlett verdrehte die Augen. »Jetzt spuck's schon aus. Wieso versuchst du mich zu ermorden?!«

»Damit du es weißt«, sprach Skylar. »Das war nicht meine Idee. Ich hätte dich leben lassen, leider sah mein Chef das ein wenig anders…«

»Und wer ist dein Chef? Wo finde ich ihn?«, fragte Scarlett genervt.

Sie war so entsetzlich wütend und enttäuscht. Sie dachte, Skylar wäre ihre Freundin und würde gegen T. S. O. M. kämpfen…aber stattdessen hat sie sich mit ihnen verbündet.

»Das willst du nicht wissen.«, meinte Skylar mit leiser Stimme, allerdings klang sie nicht ängstlich.

»Doch, natürlich will ich das!«

»Wenn du meinst.« Es sah so aus, als wollte sie mit den Achseln zucken, doch durch Scarletts Erstarrungs-Zauber war dies nicht möglich. »Aber du wirst es bereuen.«

Wieder so eine leere Drohung. Was sollte sie ihr schon sagen? Scarlett wusste, dass der Anführer der T. S. O. M. sehr gefährlich sein musste, das stand außer Frage. Es gab keinen Grund, weshalb sie die Antwort nicht hätte wissen wollen.

»Mein Chef und der aller Savior of Magic ist Kane Young. Er wird es mir nicht gutheißen, dass ich ihn verraten habe, aber ich hab die Schnauze voll von den Geheimnissen.« Ein dämonisches Lächeln erschien auf ihren Lippen, so als würde das, was sie gesagt hatte, ihr Genugtuung geben.

Scarlett musste ein Lachen unterdrücken. »Ist dir nichts Besseres eingefallen?« Sie war momentan überhaupt nicht in der Stimmung für Scherze. »Behaupte doch lieber, dass Alessandro es wäre. Das wäre wenigstens ein wenig glaubwürdig.«

»Wenn du mir nicht glaubst, überzeuge dich selbst.« Skylars Miene blieb hart wie Stahl. »Besuche deinen Freund und konfrontiere ihn damit.«

»Wieso sollte ich das tun? Damit du abhauen kannst, während ich meinem Freund misstraue?« Scarlett machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ach Scar, wie naiv du sein kannst.«, säuselte sie.

Scarlett versteifte sich. Nur Kane nannte sie so…und außer ihm und ihr wusste das niemand.

»Ich bin gleich wieder da und du bleibst solange erstmal hier!«

Daraufhin öffnete Scarlett ein Portal und Schritt hindurch, ohne auch nur einen Moment zu zögern.

Sie wusste, dass Kane keiner der T. S. O. M. war. Trotzdem musste sie sichergehen. Sie brauchte Gewissheit, dass alles, was Skylar gesagt hat, nicht der Wahrheit entsprach.

Sie war direkt in Kanes Zimmer angekommen. Mittlerweile war sie so oft an diesem Ort gewesen, dass er sich wie ein zweites Zuhause anfühlte. Kane lag, wie sie erwartet hatte, in seinem Bett und schlief. Sie fühlte sich schlecht, ihn zu wecken, aber er würde es sicher verstehen.

Vorsichtig tippte sie ihn an der Schulter an. »Hey, Kane.«, flüsterte sie sanft.

Er stöhnte und zog sich die Decke über den Kopf. Scarlett musste schmunzeln. Sie zog ihm die Decke weg und er murmelte irgendwas. Dann gähnte er herzhaft, bevor er sich aufsetzte.

Nach einem Blick auf die Uhr sagte er: »Was ist los, Scar?«

»Ich…jemand hat versucht, mich umzubringen.« Sie wollte möglichst schnell zum Punkt kommen, denn wer weiß wie lange sie Skylar allein lassen konnte. »Ich habe herausbekommen, dass sie für T. S. O. M. arbeitet und sie…sie meinte, du wärst…« Sie sah ihm in die Augen und sprach es aus: »Sie meinte, du wärst der Anführer von T. S. O. M. und hättest sie beauftragt mich zu töten…«

Er schwieg. Seine Körperhaltung war ruhig, doch irgendetwas stimmte nicht. Es fühlte sich…falsch an. Falsch, hier zu sein.

»Scar, ich…«, setzte er an. »Okay, du hast recht, es war übertrieben, Skylar auf dich anzusetzen. Allerdings wusste ich nicht mehr weiter. Du hast dich geweigert an das Gute der Savior of Magic zu glauben und bliebst lieber bei den Hütern. Es gab keine andere Möglichkeit!«

Sie starrte ihn nur an. »Wa…was…?« Nur mit Mühe konnte sie die Tränen, die ihr in den Augen brannten, unterdrücken.

Er war es gewesen. Kane. Die ganze Zeit. Und sie hatte es nicht bemerkt. Er wollte sie tot sehen. Das war das erste, was ihr bewusst wurde.

»Wieso?!«, schrie sie ihn an. Das Flehen in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Sorry, Scar. Ich habe eben meine Prioritäten.«

Das alles hörte sich nach einem wahnsinnigen Albtraum an.

»Aber…aber…es war nie echt…?« Sie zitterte am ganzen Körper.

Nicht weinen, nicht weinen, nicht weinen. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht vor ihm.

»Na ja, am Anfang war ich tatsächlich bloß an deinen Fähigkeiten interessiert. Jetzt…ist es etwas komplizierter.«, erwiderte er. »Allerdings scheue ich mich nicht davor dich zu töten, wenn du meinen Zielen im Weg stehst, genauso wie ich es auch bei meinem Vater nicht getan habe.«

»Du sagtest doch, er hatte einen Herzinfarkt.«, schluchzte sie.

»Ja, das stimmt, aber vielleicht habe ich etwas nachgeholfen.« Ein Grinsen schlich sich auf seine Lippen, das im Halbdunkel beinahe unheimlich war.

»Du…du hast um ihn getrauert…um ihn geweint…?« Sie verstand nicht, wie er seinen eigenen Vater umbringen konnte.

»Und? Darf ich das nicht?« Sein reißerisches Lächeln, das er nun aufgesetzt hatte, war herzlos und leer. Ohne jegliches Gefühl. Und das schien er auch genauestens zu wissen.

»Aber…Du hast ihn selbst ermordet!«

»Ja.«, erwiderte er. »Das heißt aber nicht, dass ich ihn nicht geliebt hätte. Wer glaubst du wohl, hat mir all das beigebracht? Mir meine Magie geschenkt? Die T. S. O. M. gegründet?«

Nein, das konnte doch nicht echt sein. Nicht real.

»Du…du bist verrückt!«, stellte sie mit weit aufgerissenen Augen fest.

»Hmm, ich bevorzuge ›genial‹.«

Schließlich schaffte Scarlett es, von seinem Bett aufzustehen. Sie war zittrig und wackelig auf den Beinen. Nicht nur wegen Kane, sondern auch, weil es ihr langsam zu schaffen machte, wie viel Magie sie gegen Skylar eingesetzt hatte.

»Wo willst du hin?!«, schnaubte Kane und zog wütend die Brauen zusammen.

»Das hat dich nichts anzugehen!«, schrie sie, doch es klang mehr wie ein Wimmern.

Sie hatte nicht mehr die Kraft, ein Portal zu öffnen, weshalb sie durch das Fenster steigen musste. Sie würde es nicht zur Tür schaffen, das war sowohl ihr, als auch Kane bewusst, dessen Blick sie von seinem Bett aus verfolgte. Scarlett wusste allerdings auch, dass er sie mit einem einzigen Aufblitzen seiner Magie erstarren lassen konnte. Doch er tat es nicht.

»Scar, denkst du echt, ich würde dir weh tun wollen?«, fragte er und es schmerzte sie, wie vertraut ihr Name aus seinen Lippen klang. »Es kann mir sowieso niemand mehr etwas anhaben, also lasse ich das hier mal als Ausrutscher gelten.«

Der kalte Blick seiner Augen verfolgte sie noch immer, als sie schon einige Straßen von seinem Haus entfernt war. Wie konnte er nur?, fragte sie sich. Diese Frage wiederholte sich in ihren Gedanken immer wieder, nur leider fand sie keine Antwort darauf
Sie lief an einer kleinen Gasse vorbei. Es war die, in der sie sich vor einiger Zeit gegen eine Hauswand gelehnt, hingesetzt und geweint hatte. Und dann…war Kane gekommen. Der Gedanke ließ sie unwillkürlich zusammenzucken. Damit hatte die ganze Katastrophe seinen Lauf genommen. Er war nicht aus Mitleid oder Reue hinter ihr her gekommen. Nein, nur aus Eigennutz. Nur um mit ihr zu spielen, bis er hatte, was er wollte. Doch diese Feststellung wirkte immer noch so bizarr auf sie. Sie kannte Kane doch…oder doch nicht? Skylar hatte Recht gehabt, sie war zu naiv gewesen. Nie hatte sie Kane hinterfragt. Ihm nie genauere Fragen zu der Station in London gestellt, wodurch sie vielleicht die Lügen erkannt hätte. Sie war doch nur ein dummes, kleines Mädchen, das keine Ahnung von dem hatte, was sie tat. Vielleicht hatte sie es ja verdient, schließlich war sie selbst Schuld. Sie hätte skeptischer sein müssen, doch stattdessen hatte sie sich auf andere Dinge konzentriert. Und war dabei in die völlig falsche Richtung gelaufen.

Und so…setzte sie sich in diese Gasse, in der Kane das erste Mal für sie da gewesen war. Doch dieses Mal würde er nicht kommen. Niemand würde kommen. Und sie war froh darüber, denn sie würde sich nie mehr, nie mehr, auf jemanden einlassen. Das schwor sie sich. Denn sie wollte niemals wieder so verletzt werden wie heute. Als wäre das nicht genug, fing es auch noch an zu regnen und zu gewittern, aber das kam ihr ganz recht. Denn ihre Gefühle sahen nicht anders aus. Ein Unwetter an Emotionen hatte sich in ihr angestaut. Doch jetzt…Jetzt hielt sie nichts mehr davon ab, sie alle rauszulassen. Schluchzend schrie sie auf…und dann kamen die Tränen…

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