22 Schmerz und Verlust

Eine weitere Woche war verstrichen. Zwei weitere Morde waren begangen worden. Und immer noch wusste niemand, wer dahintersteckte. Mittlerweile hatte auch die Polizei ein paar der grässlichen Morde mitbekommen, allerdings versuchte diese momentan noch, es vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Alessandro hatte nicht mehr mit Scarlett gesprochen und Matt hatte sich zwar mit ihr über alles mögliche ausgetauscht, war aber auch nicht mehr auf diesen eigenartigen Abend eingegangen.

»Immer noch keine neuen Artefakte?«, fragte Scarlett Matt gelangweilt.
»Bis jetzt nicht.«, war seine Antwort, so wie jedes Mal, wenn sie ihn das fragte.
Allmählich machte sich auch Scarlett etwas Gedanken, weshalb keine magischen Artefakte mehr auftauchten. Allerdings war sie heute mit Kane verabredet und wollte sich die Stimmung nicht verderben lassen.
Sie warf nur noch einen kurzen Blick auf ihr Handy, um sicherzugehen, dass ihr Treffen stand. Als sie dies tat, blieb ihr aber der Mund offen stehen. Sie hatte mehrere Anrufe und SMS von Samantha verpasst.

»Hast du dir etwas für Amandas Geburtstag überlegt, falls du's vergessen hast, der ist heute.«~10:09
»Hallo?«~12:15
»Vielen Dank auch, ich habe jetzt selbst alles vorbereitet, wir treffen uns um 15:00 Uhr bei Amanda, um sie abzuholen. Wehe du kommst nicht!«~13:46

Scheiße! Sie hatte Amandas Geburtstag vergessen. Es war halb drei, also noch eine halbe Stunde, in der sie sich umziehen, ein Geschenk finden und zu Amandas Haus gehen musste. Kane schrieb sie rasch eine SMS und entschuldigte sich bei ihm. Dann rannte sie in ihr Zimmer und suchte sich ein schlichtes Kleid und ein paar Stiefel raus. Danach fuhr sie sich mit einer Bürste nochmal durchs Haar und trug etwas Make-up auf. Anschließend stürmte sie durch die Flure zum Ausgang der Station. Dabei rempelte sie Matt, der sie verwirrt anblickte.
»Wozu hast du's denn so eilig?«, fragte er sie. Sein Blick war für sie nicht zu deuten.

»Ich hab Amandas Geburtstag vergessen und jetzt lass mich endlich gehen.«, erklärte sie ihm hektisch.
»Wer ist Amanda?«, rief er ihr irritiert hinterher, während Scarlett schon nach draußen stürmte.

Es war Punkt 15:00 Uhr, als Scarlett vor Amandas Haus ankam. Samantha wartete schon, mit einem Fuß wippend, auf sie.

»Wird auch Zeit«, sagte sie. Die Verärgerung in ihrer Stimme war nicht zu überhören. »Hast du wenigstens ein Geschenk?«
»Ja, hab ich.«, meinte Scarlett, auch wenn es nur etwas Kleines war, hoffte sie, dass es Amanda freute.
»Gut.« Dann klingelte Samantha.
»Wahrscheinlich schaut sie erst aus dem Fenster, wer da ist, schließlich sind ihre Eltern nicht zuhause.«, sagte Samantha, nachdem sie eine Weile gewartet hatten.
»Meinst du?« Scarlett konnte die Zweifel in ihrer Stimme nicht verbergen.
»Vielleicht hat sie es einfach nicht gehört.« Erneut presste Samantha ihren Finger auf die Klingel.
Weitere Minuten verstrichen und auch Samanthas Miene wurde immer besorgter.
»Sollen wir einfach warten, bis sie nach Hause kommt?«, fragte Samantha Scarlett.
»Ich weiß nicht. Ich hoffe…aber ich weiß es nicht.« Scarlett hatte eine Vermutung, auch wenn sie unwahrscheinlich war.
Allerdings konnte sie nicht einfach nur hier stehen und warten, sie brauchte einfach Gewissheit.
»Hast du was dagegen, wenn ich kurz da rein gehe und etwas nachsehe?« Scarlett wartete Samanthas Antwort allerdings gar nicht ab, sondern prüfte kurz die Umgebung, bevor sie ein Portal öffnete.
»Scarlett, bitte lass da…« Scarlett schritt durch das Portal, bevor sie Samantha weiter zuhören konnte. Bevor sie jedoch komplett auf der anderen Seite angekommen war, spürte sie, wie etwas -oder eher jemand- sich an ihrer Jacke festhielt. Sie merkte, wie ein Gewicht von hinten gegen sie drückte und sie fiel auf den kühlen Parkett Boden, der nun vor ihr lag.

»Verdammt!«, hörte sie jemanden dicht an ihrem Kopf fluchen. »Was war das bitte?!«
»Du solltest gar nicht mitkommen, das hast du jetzt eben davon.«, sagte Scarlett zu Samantha, während sie sich beide wieder aufrappelten.
»Was willst du hier überhaupt?« Samantha blickte sich verblüfft um, obwohl sie schon oft in Amandas Haus gewesen waren.
»Du hast von den Morden in der Stadt gehört?«, hakte Scarlett nach.
»Ja, wer nicht? Die Nachricht hat sich ja wie ein Lauffeuer verbreitet. Auch wenn die Polizei so tut, als hätte sie alles unter Kontrolle.«
»Ja, das stimmt. Allerdings weiß noch niemand, dass die Ursache der Morde Magie ist. Weder ich noch sonst jemand weiß, wer seine Magie dazu missbrauchen würde, aber so ist es. Und es gibt noch viel mehr Tote, als der Polizei bekannt sind.« Scarlett kniff die Augen zusammen, aus Angst vor Samanthas Reaktion.
Jedoch starrte sie Scarlett nur einen Moment an, bevor es in ihrem Kopf Klick zu machen schien.
»Die Vermissten…«, schlussfolgerte sie.
»Ja.«, sagte Scarlett und nickte resigniert.
»Oh Gott…du meinst doch nicht etwa…?«
»Es ist unwahrscheinlich, aber ich komme einfach nicht damit klar, nicht nachzusehen.«, versuchte sie, Samantha zu beruhigen. »Komm, lass uns kurz in ihr Zimmer und dann verschwinden wir wieder.«
Sie liefen in die erste Etage, es sah wie immer sehr gemütlich bei Amanda aus. Überall waren Braun und Gelbtöne zu sehen, beispielsweise an Teppichen, Wänden oder kleinen Sitzecken.
»Weißt du, eigentlich war das eben echt krass.«, meinte Samantha, während sie die Treppen hinauf stiegen.
Scarlett hörte sofort die Nervosität in ihrer Stimme, die verriet, dass Samantha sich in Wirklichkeit nur abzulenken versuchte.
»Du meinst das Portal?«, fragte sie dennoch nach.
»Ja, wenn es das ist, wodurch wir hierher gekommen sind.«, erwiderte sie.
»Außerdem tut es mir echt leid, dass ich so fies zu dir war. Hattest schließlich bestimmt viel zu verkraften in letzter Zeit. Da fehlt es dir gerade noch, dass ich dich stresse, wegen Amandas Geburtstag.« Scarlett konnte hören, dass es ihr tatsächlich leid tat.
»Das konntest du doch nicht wissen, außerdem ist Amandas sechzehnter Geburtstag auch wichtig.« Mittlerweile standen sie vor Amandas Zimmertür. Scarlett sog einmal tief die Luft ein…und stieß dann die Tür auf. Das Zimmer war leer, was keine große Überraschung war, trotzdem durchflutete sie etwas wie Erleichterung. Auch Samantha sah man an, wie die Sorge von ihr abfiel.
»Kurz hatte ich echt Schiss.«, sagte Samantha und lachte auf. »Kannst du jetzt nochmal so ein Portal machen?«
»Lass uns lieber durch die Tür. Das verdächtigt keiner und ist nicht so anstrengend.«
»Wieso anstrengend?«, fragte Samantha.
»Naja, ich bin schon jedes Mal ziemlich erschöpft, nachdem ich Magie eingesetzt habe.«, erklärte sie.
»Okay, da bin ich wohl ziemlich ahnungslos.«, entgegnete sie.
Dann gingen sie die Treppe wieder hinab, in Richtung des Ausgangs. Jedoch blieb Scarlett noch einen Moment stehen. Die Tür der Küche stand leicht offen, was seltsam war, wenn man bedachte, wie perfektionistisch Amandas ganze Familie war.
»Warte kurz, ich weiß es ist verrückt, aber es kommt mir seltsam vor, dass die Küchentür offen steht.«, sagte sie zu Samantha, während diese schon die Hand nach der Türklinke ausgestreckt hatte.

Scarlett ging langsam auf die Tür zu und stieß sie auf, währenddessen folgte Samantha ihr.

Ein eisiger Schauder ruckte durch Scarletts Körper. Auf dem weißen gefliesten Küchenboden lag ein Mädchen. Die Kleidung war zerfetzt, ein Teller lag zerschlagen auf dem Boden, ebenso wie sämtliches Besteck, das sich über die Fläche verteilt hatte. Beide Arme hingen nur noch teilweise am Körper, die Haut war überall aufgeplatzt. Die braunen Haare waren von getrocknetem Blut verklebt, das Glas ihrer Brille war zerbrochen und das Gestell verbogen. Ihre Augen waren verschlossen, doch man konnte das Blut sehen, das unter den geschlossenen Lidern hervor sickerte. Weiteres Blut klebte an dem geöffneten Mund, der schmerzverzerrt Stille Schreie von sich gab. Amanda war tot. Sie war tot. Immer wieder kam Scarlett zu dieser Feststellung. Amanda ist tot, dachte sie. Sie spürte, wie sie auf die Knie sackte. Schrie sie? Sie wusste es nicht, sie nahm nichts mehr wahr. Sie merkte, wie ihr Kopf auf die Fliesen knallte, doch spürte es gar nicht wirklich. Sie konnte das Blut schmecken, das ihre Kehle hinab lief, und hörte ihren heftig hämmernden Herzschlag. Einen Herzschlag würde Amanda nie mehr spüren, ebenso wenig wie einen Atemzug oder auch nur einen Hauch von dem, was sich Leben nannte. Scarlett dachte, sie wüsste, wie es sich anfühlte, jemanden zu verlieren, doch sie hatte es nicht gewusst. Sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, wie es war. Wie musste es bloß für Matt gewesen sein, den eigenen Bruder so vorzufinden? Tot, ermordet. Jemand hätte für ihn da sein müssen, doch anscheinend war das nicht einmal sein Vater gewesen. Denn Matt hatte sich in der Woche, in der sein Bruder gestorben war, nur in seinen eigenen vier Wänden verkrochen und mit kaum jemandem gesprochen.

»Amanda…?«, brachte Samantha mit erstickter Stimme hervor.
Auch sie zitterte am ganzen Körper. Als Scarlett das bemerkte, kam sie vorsichtig auf sie zu und schloss sie in die Arme.
»Wieso sie…Wieso sie…«, wisperte Samantha und wiederholte diese Worte wieder und wieder.

Sie saßen dort noch eine ganze Weile auf dem Boden. Scarlett hatte Matt kontaktiert. Dieser wollte, so schnell es ihm möglich war, kommen. Samantha und Scarlett saßen nun im Wohnzimmer, doch die Farben der Einrichtung wirkten nun überhaupt nicht mehr beruhigend auf Scarlett, sondern ließen ihre Gedanken nur immer wieder in Amandas Richtung gehen.

»Und du bist sicher, dass du ihm vertrauen kannst?« Samantha hatte schon mehrmals gefragt, ob Matt wirklich vertrauenswürdig sei.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich das sage, aber er ist wirklich in Ordnung. Er wird uns helfen.« , sagte Scarlett etwas überzeugter, als sie in Wirklichkeit war.

Tatsächlich aber, waren sie und Matt in den letzten Wochen so etwas wie Freunde geworden. Seit Matt aufgegeben hatte, sie Daten zu wollen, kamen sie deutlich besser miteinander aus.

Plötzlich kam eine kleine Windböe auf und kurz darauf stand Matt vor ihnen. Er hatte sich eine dünne Jeans Jacke übergeworfen und eine locker sitzende Jogginghose an. Eigentlich waren diese Klamotten nicht gerade geeignet für diese Jahreszeit, doch es schien ihm nichts auszumachen. Seine Haare waren wie immer perfekt gestylt. Er kam auf die beiden zu, seine Bernsteinfarbenen Augen schimmerten dunkel, im Schein des gelblichen Lichtes, der Glühlampen. Als erstes fiel sein Blick allerdings auf die Platzwunde an Scarletts Stirn. Als sie das bemerkte, ließ sie ihre Augen kurz aufleuchten, was man durch die Kontaktlinsen kaum erkennen konnte. Als die Wunde verheilt war, begann er zu sprechen.

»Okay, wo ist die Leiche?«, fragte er freiheraus.
Samantha gab nach einiger Zeit immer noch keine Antwort, weshalb Scarlett dies für sie übernahm.
»In der Küche.« Scarlett zeigte auf eine hölzerne Tür.
»Dann werde ich Mal nachsehen.« Er schluckte.
Langsam schritt er auf die Tür zu. Als er sie geöffnet hatte, verschwand er fürs erste eine ganze Zeit in dem Raum. Immer wieder hörte man etwas poltern oder leise Gespräche.
»Kommt er auch irgendwann wieder zurück?«, beschwerte sich Samantha.
Doch bevor Scarlett ihr antworten konnte, kam Matt erneut durch die Tür. Er sah ziemlich fertig aus und man konnte ihm ansehen, dass er etwas nicht allzu schönes gesehen haben musste.
»Die Hüter haben sie jetzt weg gebracht.«, erklärte er. »Du wirst niemandem etwas hiervon erzählen, klar?«, sagte er an Samantha gerichtet.
Diese nickte bloß stumm.
»Gut«, meinte er. »Scarlett, wir gehen.«

Die Stille war erdrückend. Scarlett war in ihrem Zimmer der Station. Samantha hatte Außenstehenden erzählen sollen, sie hätte geklingelt und es wäre niemand zu Hause gewesen. So würde die Polizei keinen Verdacht schöpfen, hatte Matt erklärt. Dann waren er und Scarlett in die Station zurückgekehrt. Sie hatte nicht mehr mit ihm gesprochen, sie hatte mit niemandem mehr geredet. Es war einfach alles zu viel. Amanda war tot. Dem Mörder waren sie kein bisschen auf der Spur. Und es könnte jeden als nächstes treffen.

Es klopfte. Scarlett rührte sich nicht, um die Tür zu öffnen. Erneut ein Klopfen.
»Es ist mir egal, wer da ist, geh wieder!«, rief sie.
Die alten Scharniere knarzten.
»Das werde ich.«, hallte eine leise Stimme durch den Raum. »Aber vorher möchte ich dir noch etwas geben, was dich interessieren dürfte.«
Scarlett schaute auf, ihr Blick fiel auf Matt. Aus seiner Miene sprachen pures Mitleid und Verständnis. In der Hand hielt er etwas Weißes. Es war ein Brief. Er kam auf sie zu und reichte ihn ihr. Er war mit einem Siegel aus Wachs verschlossen. Auf der Vorderseite stand ein Schriftzug:

Für
        Samantha & Scarlett

»Danke.«, wisperte Scarlett, denn sie hatte schon eine Vermutung von wem dieser Brief stammen könnte.
Matt lächelte nur leicht und kehrte ihr dann den Rücken zu. Er verließ den Raum und Scarlett machte sich daran, den Umschlag zu öffnen.

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