16 Schreckliches vergisst man nicht
Scarlett schmeckte seine Zunge, spürte, wie er seine Hände an ihre Wangen legte. Sie sah das Funkeln in Kanes Augen, dieses unbändige Verlangen. Ihre Hände bewegten sich über seine Wirbelsäule, weiter nach vorne, über seine Brust, hinunter zu seinem Bauch, den sie hart unter ihren Händen fühlte. Seine Haut war warm und glatt.
Plötzlich spürte sie, wie sich die Wimpern ihres rechten Auges verklebten. Sie wollte Kane nur ungern loslassen, aber irgendetwas war da in ihrem Auge. Kurz darauf löste sie sich von ihm, die Verblüffung schien ihm ins Gesicht geschrieben.
»Was ist los?«
»Ich hab nur irgendwas im Auge.«, meinte Scarlett, während sie immer noch versuchte, was auch immer störte, raus zu bekommen.
Endlich hatte sie es geschafft, doch als sie erkannte, was es war, zuckte sie kurz zusammen. Es war eine der Kontaktlinsen, wie hatte sie die nur vergessen können? Schnell wandte sie sich von Kane ab, in der Hoffnung, dass er nichts bemerkt hatte. Sie konnte sich vorstellen, wie verdattert er sie nun ansehen musste, doch es ging nicht anders. Zärtlich legte er ihr eine Hand auf die Schulter und wollte sie zu sich umdrehen. Scarlett ließ es allerdings nicht zu.
»Ich gehe jetzt besser.«, sagte sie und merkte, wie ihre Stimme brach.
Sie spürte seinen enttäuschten Blick auf sich, doch sie musste dieses Gefühl, sie musste ihn ignorieren. Sie stand auf, um den Kopf etwas frei zu bekommen und den Abstand zu Kane zu wahren.
»Bitte, Scarlett, rede mit mir!« Er klang etwas verzweifelt. Es tat weh wieder einmal weg zu rennen. Einfach allem zu entrinnen und den Menschen, denen man etwas bedeutete, damit am meisten zu schaden. Ein allerletztes Mal drehte Scarlett sich zu ihm um. Auch wenn es nicht einmal eine Sekunde war, konnte sie sehen, wie er die Lippen aufeinander presste, beim Anblick ihres schwarzen Auges. So schnell, wie nie zuvor öffnete sie ein Portal zurück zur Station.
Der salzige Geschmack von Tränen glitt ihre Zunge hinab, während Scarlett erschöpft auf ihrem Bett lag. Sie fühlte ihre Kleidung schweißnass an ihrem Körper kleben und hoffte, dass Kane nun endlich erkannte, dass da nichts gutes in ihr war, dass er sie nie wieder aufsuchen würde… Sie spürte, wie sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog, bei diesem Gedanken. Doch es war besser so. Er sollte damit nichts zu tun haben.
Das Training mit den Hütern stand an, Scarlett wollte am liebsten einfach nicht hingehen. Sie musste erst einmal ihre Magie in den Griff bekommen und dann weitersehen. Doch was, wenn das möglich wäre? Die Trainings waren freiwillig und der einzige, der wusste, dass sie hingehen wollte, war Kane. Er würde deshalb wohl kaum Kontakt zu Mr. Havering aufnehmen. Sie würde an diesem Training nicht teilnehmen.
Mit entschlossenen Schritten, schritt sie durch den Korridor zu ihrem Zimmer. Auf einmal allerdings hörte sie Stimmen. Sie klangen dumpf, weit entfernt, als würde etwas zwischen ihr und den Stimmen liegen. Sie folgte den Geräuschen bis hin zu Mr. Haverings Büro. Es war nicht ihre Absicht, die Hüter zu belauschen, doch die Versuchung war in diesem Moment einfach zu groß. Gespannt lauschte sie den Leuten hinter der Tür.
»…dann sollten wir es uns selbst bestätigen.« Scarlett erkannte die tiefe Stimme von Ryan Lyall, Matts Vater.
»Wir sollten das Training nicht verschieben, das würde nur Fragen zurückbleiben lassen.«, widersprach ihm Mr. Havering.
»Ich und Sarah werden uns auf jeden Fall auf den Weg in den North Carolwood Drive machen.« Damit setzte Mr. Lyall sich in Bewegung. Scarlett ahnte, dass das Gespräch beendet war und schlich mit schnellen Schritten fort.
Was hatte Mr. Havering damit gemeint, es würde Fragen geben? Eines stand auf jeden Fall fest: Die Hüter unternahmen irgendetwas im geheimen, wovon am besten niemand Wind bekommen sollte. North Carolwood Drive. Scarlett kannte die Straße, aber sie wusste, dass es eine dumme Idee war, den Hütern hinterher zu schnüffeln, doch sie wollte wissen, worüber sie geredet hatten. Es klang sehr Ernst, fast schon, als könnte der kleinste Fehler, fatale Folgen haben.
Die Flure lagen lang und leer vor Scarlett. Die perfekte Gelegenheit. Schleunig ging sie zum Ausgang, doch sie hörte eine nur allzu bekannte Stimme hinter sich. Schon jetzt stöhnte sie innerlich auf, wie konnte es sein, dass sie immer bei allem aufgehalten wurde?
»Wolltest du nicht gleich mit zum Training?«, fragte Matt gespielt wütend.
»Schon, aber ich hab soeben herausgefunden, dass es nicht stattfindet.« Ein süffisantes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
»Ach, ist das so?« Er sah sie mit einem herausfordernden Blick an.»Und wieso?«
»Das wollte ich gerade herausfinden.«
»Okay, dann komme ich mit.« Er schien es ziemlich schnell weggesteckt zu haben, dass sie ihm offenbart hatte, dass sie nicht an ihm interessiert war. Doch Scarlett blickte hinter seine Fassade, die diesen Anschein machen sollte. Sie wusste selbst nur allzu gut, wie das war. Auch sie wollte sich nicht anmerken lassen, dass Alessandros Ablehnung ihr noch schwer im Magen lag.
»Gut, dann kannst du ein Portal zum North Carolwood Drive öffnen?«, fragte sie ihn.
»Dann bin ich Mal so frei, doch eigentlich könntest du das auch selbst. Das weißt du ganz genau.« Er zwinkerte ihr verschmitzt zu.
Sie musste zugeben, dass er gut darin war, einen fröhlichen und unbekümmerten Eindruck zu machen. In Sekundenschnelle erschien ein kleiner Wirbelsturm vor ihnen und sie gingen beide durch das Portal.
Die Straße in der sie ankamen, war eher schmal und gegenüber den restlichen Teilen von L. A., so ziemlich menschenleer.
»Wonach suchen wir überhaupt?« Matt blickte sie aus seinen bernsteinfarbenen Augen fragend an.
»Nach deinem Vater und der anderen Hüterin, Sarah Patel, wenn ich mich recht erinnere.«, gestand Scarlett.
»Was?!« Matt hob verwundert die Brauen.
»Ja, dann hilf mir eben nicht, aber ich muss wissen, was sie gemeint haben.« Immer noch sah Matt sie entgeistert an.
»Kannst du mir jetzt bitte Mal erklären, was das alles soll?!« Er verschränkte die Arme vor der Brust und durchbohrte sie mit einem eisigen Blick. Er hatte sein Verhalten ihr gegenüber also doch verändert.
Scarlett erzählte ihm kurz das wichtigste und wartete auf eine Antwort. Etwas, was ihr bestätigte, was für eine bescheuerte Idee sie da hatte.
»Das ist neu für mich.«, erwiderte Matt etwas unschlüssig. »Normalerweise erzählt mein Dad mir immer alles, was bei den Hütern so passiert.«
»Oh« Mehr fiel Scarlett dazu nicht ein.
»So langsam möchte ich selbst gern wissen, was hier vor sich geht.« Die Entschlossenheit kehrte in seine Miene zurück und sie machten sich auf die Suche nach den beiden Hütern, die sich irgendwo in dieser Straße rumtrieben.
Auch, wenn es keine große Straße war, sollte es kein leichtes werden, sie zu finden. Nach einer frustrierenden Suche, erkannte Scarlett zwei Personen von weitem. Sie erkannte den Mann mit den gepflegten Haaren und dem kurzen Bart auf den ersten Blick. Ryan Lyall. Die Frau neben ihm identifizierte sie als Sarah Patel. Die beiden verließen in diesem Moment ein Gebäude, welches aus weißem Gestein bestand. Ihre Blicke waren so düster, wie Scarlett sie noch nie erlebt hatte. Eine eisige Gänsehaut kroch ihren Rücken hinab und ließ sie, wie erstarrt da stehen. Es musste das schlimmste eingetreten sein, denn noch vor kurzer Zeit, schienen sie bloß besorgt. Doch nun… Scarlett konnte es gar nicht in Worte fassen.
Auch Matt war nun auf die Szenerie vor ihnen aufmerksam geworden. Allerdings, war er nicht so unachtsam, wie Scarlett und zog sie aus dem Blickfeld der Hüter. Glücklicherweise, schienen sie sie bis dahin nicht bemerkt zu haben und hingen ihren trüben Gedanken hinterher.
»Dieses Haus…« Scarlett deutete in die Richtung des Einfamilienhauses mit dem weißen Gestein.»Ich denke, dort werden wir antworten finden.«
Zuversichtlich und voller Neugierde betrachtete sie das Bauwerk, was sich nun vor ihnen erstreckte. Es war nicht zu groß, aber auch definitiv nicht minimalistisch.
Als sie den Eingang des Hauses betraten, wurde Scarlett für einen kurzen Moment geblendet. Der weiße Stein, aus dem die Wände gefertigt waren, war poliert und Glanz überzog ihn. Der Boden war gepflastert mit Fliesen aus weißem Marmor. Auf der rechten Seite, waren viele kleine, ebenso weiße, Tische aufgestellt worden. Jeden von ihnen zierte eine andere Kostbarkeit. Auf einem war eine bemalte Vase aus Porzellan, auf einem anderen ein antik wirkendes Gemälde und auf einem wieder anderen ein Ring, den unzählige Diamanten zierten. Sie sah Matt an, der genauso fasziniert wirkte. Dieses Mal hatten sie auf den Unsichtbarkeitszauber verzichtet, denn natürlich hatte keiner von ihnen Lorbeerblätter dabei. Es war ein Risiko, doch Scarlett war gewillt es einzugehen.
Als sie sich wieder gefasst hatte ging sie weiter, direkt auf eine hohe Wendeltreppe zu. Matt folgte ihr, sagte jedoch kein Wort. Allerdings war das wohl auch besser so, falls der Besitzer dieses Anwesens daheim war.
Vor ihnen befanden sich nun mehrere Türen, jedoch gab es nur eine die Scarletts Interesse weckte. Es war genau dieselbe Tür, wie die anderen, mit dem Unterschied, dass sie mit Absperrband beklebt wurde. Die Klebestreifen, waren gut platziert worden, sodass es aussah, als hätte hier die Polizei ihre Finger im Spiel gehabt.
»Ich denke das Zimmer sollten wir uns besser einmal ansehen.«, flüsterte Scarlett Matt zu. Der nickte nur kurz und machte sich dann daran, dass Absperrband vorsichtig zu entfernen.
Gespannt beobachtete sie, wie Matt die Klinke nach unten drückte. Sie ging ein paar Schritte auf die Tür zu, sodass sie den dahinter liegenden Raum beide betreten konnten. Sie hielt die Luft an, dann öffnete er die Tür und sie traten ein. Der Raum in dem sie sich befanden, war komplett abgedunkelt worden, wodurch Scarlett nicht einmal mehr Matt, der sich direkt neben ihr befinden musste, erkennen konnte. Stattdessen konnte sie jedoch etwas rot glühendes aufblitzen sehen. Dieses Licht bewegte sich durch den Raum und plötzlich…wurde das Zimmer von grellem künstlichen Licht durchflutet. Vor sich sah sie Matt, der wieder ein charmantes Lächeln auf den Lippen trug. In seiner Hand hielt er die Kette mit dem Amethysten, die sie ihm vor einiger Zeit geschenkt hatte. Dieser leuchtete Rot und nun wurde ihr klar, dass das, das Licht gewesen sein musste. Er hatte nach dem Lichtschalter gesucht. Nun drehte sie sich um, schaute in den Raum. Vor einiger Zeit, war dies wohl noch ein gut gepflegtes Büro gewesen, doch nun… Scarlett war wie erstarrt und konnte den Blick nicht von dem Grauen, was vor ihr lag wenden. Die weißen Tapeten, waren mit Blut beschmiert. Es waren viele Spritzer, größere und kleinere. Doch das, war nicht das schlimmste, denn direkt vor ihr auf dem Boden, bot sich ihr ein Anblick, der sie am ganzen Körper zittern ließ. Es war ein Mensch, oder vielmehr, was von der Person noch übrig war. Scarlett vermutete, dass es ein junger Mann war, doch selbst das ließ sich nicht mehr wirklich feststellen. Die Glieder waren verdreht oder komplett abgetrennt worden. Am Rumpf klafften tiefe Wunden, von denen Blut floss, was ihn in eine Lache getaucht hatte. Darum lagen vereinzelt Stücke von seinem Fleisch oder Innereien. Alle Wunden sahen noch relativ frisch aus, was heißen musste, dass was auch immer passiert war, noch nicht lange her sein konnte. Die Fleischstücke wirkten allerdings nicht, als hätte jemand sie mit Gewalt aus dem Mann herausgeschnitten, sondern eher, als wären sie durch eine Explosion aus ihm gerissen worden. Ihr Blick wanderte weiter hoch zum Gesicht des Mannes, welches vollkommen entstellt war. Die Höhlen seiner Augen waren leer, das Blut was aus ihnen drang, rann über seine Wangen und tropfte zu Boden. Es sah beinahe so aus, als würde er weinen, doch auf eine ganz andere Art. Seine Nase war nur noch ein Trümmerstück, welches in seinem Gesicht hing. Der Mund war zu einem qualvollen Schrei verzerrt, der einem in der Seele weh tat. Immer wieder musste sie auf die abgetrennten Körperteile starren, deren Anblick ihr durch Mark und Bein fuhr. Sie konnte sich einfach nicht davon lösen, und plötzlich spürte sie, wie zwei Hände sich auf ihre Schultern legten. Matt.
»Scarlett, wir…wir müssen hier weg.«, flüsterte er mit zitternder Stimme. Scarlett nickte mechanisch, konnte den Blick allerdings immer noch nicht von dem, was sich vor ihr bot, abwenden. Langsam drehte sie sich um, Matts Wangen waren feucht, von Tränen getränkt. Scarlett bemerkte nun erst, dass ihre Augen ebenfalls Tränen geweint hatten. Matt nahm sie vorsichtig in den Arm und jetzt gerade, war es genau das, was sie brauchte, jemand der da war und ihr Halt gab. Ganz langsam, bewegte er sich mit ihr aus dem Raum, die Wendeltreppe hinab und schließlich aus dem Gebäude. Vorher hatte Matt die Absperrbänder wieder so angebracht, dass niemand etwas bemerken würde.
»Was ist da nur passiert.«, keuchte Scarlett mit gepresster Stimme.
»Ich weiß es nicht, aber ich denke mein Vater hat mir so einiges zu erklären.« Auch seine Stimme klang leise und von Furcht erfüllt.
Noch ein letztes Mal, wandte sie sich dem Haus zu, sofort sah sie die Bilder wieder vor sich ablaufen. Wer würde bloß soetwas tun? Scarlett wusste es nicht, doch sie hatte eine Vermutung, die naheliegend wäre. Er schien erst vor kurzem gestorben zu sein, vor ihr und Matt waren einzig und allein die Hüter in diesem Gebäude gewesen. Hatten sie etwas damit zu tun oder selbst einen Mord begangen? War Mr. Havering deswegen so dagegen gewesen? Alles Fragen, auf die sie wohl keine Antwort erhalten würde. Auch, wenn sie wusste, dass die Hüter bei den Anwärtern keine Hemmungen hatten, die Hälfte von ihnen dem Tod zu überlassen, war sie sich unschlüssig, ob sie tatsächlich mit eigener Hand einen Mord begehen würden. Und dann auch noch so einen schrecklichen. Doch Scarlett kannte die Hüter nicht, wusste nicht, wie weit sie gehen würden. Vielleicht machten sie soetwas tagtäglich hinter dem Rücken der Auserwählten.
Matt schien ihre düsteren Gedanken zu bemerken und sah selbst noch einmal in die Richtung des Grundstücks.
»Wir sollten fürs erste von hier verschwinden.« Seine Stimme klang wieder fest und bestimmt. Er schien sich etwas in den Kopf gesetzt zu haben und öffnete ein Portal, auf offener Straße. Scarlett sah ihn nur entsetzt an, was wenn jemand hier vorbeikam? Jedoch achtete er nicht darauf, packte sie am Arm und zog sie mit sich durch das Portal.
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