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Die restlichen Wochen flossen träge vorbei und außer dem nun täglichen Training mit Jamie, schaffte kaum etwas die Hürde in ihr Langzeitgedächtnis.
Der Morgen des 14. Februars war einer der schlimmsten seit langem.
Shaha hatte seit Tagen kaum ein Auge zugetan, war unkonzentriert bei Unterricht und Training gewesen und hatte sich dafür eine Standpauke nach der nächsten eingefangen. Dementsprechend gereizt war sie, als Vlada sie am Samstag morgen zu einer, selbst für Frühaufsteherverhältnisse, unverantwortlichen Zeit aus dem Bett warf. Wortwörtlich. Mit einigen neuen blauen Flecken und einer dicken Beule erhob sie sich, eher weniger elegant, vom Boden, nur um sich Vladas fröhliches Valentinstagsständchen anzuhören.
Mit steinerner Mine machte sie sich auf den Weg zum Prinzessinnenunterricht und versuchte verzweifelt, ihre negativen Gefühle so gut es ging zu unterdrücken. Es würde heute auch ohne ihre persöhnlichen Probleme schon schwer genug werden.
»Lottie?«, Shahas Stimme war sanft, als sie sich an ihre Freundin wandte, die auf Jamies Frage nicht reagiert hatte.
Eben genannter hob die Brauen und seufzte auf.
»Ich hab dich nach deiner Lieblingsgeschichte aus Oscars Tagebuch gefragt und inwiefern du sie lehrreich findest.«, wiederholte er schließlich.
»Oh, das ist einfach«, gab Lottie zurück, »Die Geschichte von Sun Dao und Shau Zu, weil ... Hab ich was Falsches gesagt?«, sie stoppte. Auch Shaha hatte bemerkt, wie Jamies Augen sich überrascht geweitet hatten.
»Nein, nein. Überhaupt nicht, es ist nur ... Das ist auch meine Lieblingsgeschichte.«
Ein Lächeln stahl sich auf Shahas Lippen. Es war zu selten, das Jamie etwas von sich preisgab.
Er räusperte sich, bevor er fortfuhr:
»Würdest du erklären, warum?«
Die Erdbeerprinzessin nickte und holte tief Luft. »Es war im dritten Jahrhundert in China, einer Zeit, in der Porter so gängig waren, dass beinahe die halbe Dynastie nicht die war, für die sie sich ausgab. Prinz Shau Zu und sein Porter Sun Dao waren Gäste im Palast des Kaisers Qin Shi Xiao, einem mächtigen, unerbittlichen Kriegsherren. Es stellte sich heraus, dass der Kaiser sie eingeladen hatte, um den Prinzen gefangen zu nehmen. Doch es gelang Sun Dao, den Kaiser auszutricksen. Da es eine große Schande war, einem Porter Schaden zuzufügen, wenn seine Rolle enttarnt war, überzeugte er Qin Shi Xiao davon, dass er selbst der Prinz war. Der Kaiser hielt den echten Prinzen unwissentlich als Ehrengast im Palast, den er nicht verlassen durfte. Sun Dao, in der Rolle des Prinzen, erduldete acht Tage lang quälende Spiele – er musste zum Beispiel auf einem Seil über einen Topf mit siedendem Öl gehen und Pfeilen ausweichen –«
Shahas Kehle schnürte sich zusammen, als sie Lotties Erzählung vor ihrem geistigen Auge folgte.
», bis endlich die Armee des Prinzen anrückte, um sie zu befreien. Als sie endlich entkommen waren, fragte der Prinz Sun Dao: >Wie kann ich dir deine Treue vergelten?< Darauf erwiederte Sun Dao: >Erlaube mir, das Ganze noch einmal für dich durchzustehen.<«
Ellie stieß einen leisen Piff aus. »Ich muss unbedingt dieses Tagebuch lesem«
Shaha nickte zustimmend. Dieses Buch verbarg unzählige, wundervolle Geschichten.
Jamies Mundwinkel hoben sich an und er blickte in Richtung der Blonden. »Und warum ist die Geschichte lehrreich?«
Ihre Erdbeerprinzessin senkte verlegen den Blick. »Naja ... Sie zeigt die Macht der Treue. Und die Macht, die in der Rolle des Porters liegt.«
Und die ungeheure Verantwortung, für so ein junges Mädchen, fügte Shaha im stillen hinzu. Jamie blickte sie plötzlich so intensiv an, als wüsste er genau, was sie gerade gedacht hatte, doch sie lächelte ihn nur müde an.
Ellie kicherte, woraufhin ihr alle einen gereizten oder zumindest strengen Blick zuwarfen.
»Keine Angst, Lottie, du musst für mich nicht über siegendes Öl laufen!« Sie brach in schallendes Gelächter aus.
Jamie schüttelte den Kopf, während Shaha die Stirn runzelte. »Ellie –« Ihre Stimmen erklangen exakt zur selben Zeit und verwundert kreuzten sich ihre Blicke. Jedoch nur für einen Moment, denn Lottie schnitt ihnen das Wort ab.
»Du weißt nicht, in welche Lage wir mal geraten können!«
Zwar hörte Ellie auf zu lachen, doch das Grinsen verharrte auf ihren Lippen. »Das ist doch verrückt! Versteh mich nicht falsch, ich wünschte, mein Leben wäre auch so aufregend –«
Shahas Fingernägel gruben sich erneut tief in ihre Handflächen, während sie der Auseinandersetzung der beiden Freundinnen lauschte und hilfesuchend zu Jamie herüber sah. Der verfolgte die Interaktion der Ivy Schülerinnen jedoch nur mit schmalen Augen.
»Ellie, du hast ja keine Ahnung, wie aufregend und wunderbar dein Leben ist! Die meisten Leute träumen von der Welt, in der du lebst!« Blanke Wut schwang nun in Lotties Stimme mit und Shaha startete einen verzweifelten Versuch, den Streit zu de‐eskalieren. »Lottie, Ellie...–«
»Na ja, die meisten Leute wissen ja auch nicht, wie schrecklich es ist. Lottir, was ist los? Du weißt doch selbst, wie anstregend meine Familie sein kann –«
Shaha hielt die Luft an, als Lottie den Mund öffnete und sich alle elektrischen Ladungen auf einmal aus der Luft um sie herum entluden.
»Wenigstens hast du eine Familie!«
Lottie schluchzte auf und schlug sich die Hand vor den Mund. Ihre Augen wurden glasig.
»Lottie ...«, Shaha erhob sich langsam.
»Wir sehen uns später.«
Die Worte der Blonden wurden von einem herzzerreißenden Schluchtzer begleitet und sie rieb sich rasch die Augen, während sie aufstand und zur Gartenpforte rannte.
»Lottie, warte!«, rief Ellie ihr nach, doch sie drehte sich nicht um.
Rasch tauschte Shaha einen Blick mit Jamie, den er mit einem kurzen Nicken erwiederte, bevor sie nach Lotties Mantel griff und ihr nach eilte.
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