35

Lottie, Jamie und Shaha wurden drei rote Plastikbecher, mit klarer Flüssigkeit darin, unter die Nasen gehalten. Misstrauisch beäugte Shaha diese.
»Hier, trinkt was, ihr drei und macht nicht so düstere Gesichter!«
Shaha stand zwischen Lottie und Jamie unter dem Sonnendach am Rand des Beckens. Beide hatten resignierte Mienen aufgesetzt und murrten leise vor sich hin. Sie alle trugen warme Decken um die Schultern, doch Shaha konnte ihren Körper nicht dazu bewegen, mit dem leichten Zittern aufzuhören, dass sie mittlerweile nur allzu gut kannte.
Sie hatte Angst.
Angst davor entdeckt zu werden und sie fürchtete, etwas weitaus schlimmeres könne passieren.
»Ich trinke nicht.«, sagte Jamie fest. »Ich habe Verant–«
»Das ist kein Alkohol! Das ist nur Anastasias selbstgemachte Lemonade. Wir haben sie aufgewärmt.« Ellie verdrehte die Augen, »Ich bin doch keine Vollidiotin.«
Jamie nahm seinen Becher entgegen und nippte zaghaft. »Na schön.«, brummte er.
Auch Lottie nahm ihren Becher. Doch Shaha wies dankend ab. Sie war noch nie ein großer Fan von süßen Getränken gewesen.
Schweigend saßen sie beieinander und musterten die tanzenden Schüler. Dann und wann trank Jamie etwas von seiner Limonade und brummelte leise vor sich hin. Lottie wärmte sich an ihrem Becher die Hände und Shaha bereute, dass sie den ihren angewiesen hatte.
Die Stimmung der Erdbeer Prinzessin sank, insofern überhaupt möglich, noch weiter, während sie Ellie und Saskia beim Tanzen zusah.
Shaha entwich ein Seufzer.
Warum fragte sie Ellie nicht einfach?  
»Ich wette zehn Pfund, dass heute noch jemand ins Becken fällt.«, sagte Lottie bissig.
Shaha wandte sich um. »Frag Ellie doch einfach, ob sie mit dir tanzt.«, schlug sie vor. Lottie errötete und umklammerte ihren Becher noch etwas fester. »Wenn wir doch eh schon einmal hier sind...«, schob sie rasch hinterher.
Einen Moment schien Lottie abzuwägen, welche Entscheidungen sie treffen sollte. Währenddessen starrte Jamie weiter stur aufs Wasser. Mit einen Mal sagte er trocken: »Und ich wette zwanzig Pfund, dass ich heute noch jemanden reinschubse.«
Shahas Kinnlade klappte herunter und ein leises Glucksen entwich ihr. Hätte sie nicht gewusst, dass Jamie eigentlich keinen rechten Sinn für Humor besaß, hätte sie gelacht.
»Wünschst du dir manchmal, du könntest ein ganz normaler Junge sein?« Die Frage kam so plötzlich, dass Shaha leicht zusammen zuckte. Unsicher blickte sie in Jamies Richtung, er schwieg.
»Ich werde nie ein normaler Junge sein.«, sagte er dann unvermittelt.
Shaha sah ihn schweigend an und merkte, wie sich ihr Herz zusammen krampfte. Seine Stimme klang verwundbar und was er sagte einfach nur herzzerreißend. Langsam stand er auf und schüttelte die Decke von den Schultern. Shaha erhob sich ebenfalls, ob aus einem Instinkt heraus oder gar wegen etwas vollkommen anderem konnte sie nicht sagen.
Jamie ging zum Rand des Beckens und starrte fast wehmütig auf das unnatürlich blaue Wasser.
Noch immer wie in Trance folgte sie ihm und auch Lottie erhob sich nach kurzem Zögern vorsichtig, drehte sich jedoch in Richtung der Party.
Die roten Beeren der Holzapfelbüsche und Hagebuttensträucher hoben sich stark vom eisblauen, in Mondlicht getauchten Becken ab und eine sachte Brise erzeugte ein leises Rascheln in den Blättern.
»Was wäre jedoch«, hauchte Shaha behutsam, »wenn du es könntest?«
Er warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Willst du etwa meine Fähigkeiten als Partist kritisieren?«
Bei ihrem überraschten Gesicht stieg ein raues Lachen aus seiner Kehle auf. »Es gehört zu meinen Fähigkeiten, mich so gut wie möglich unter die anderen Schüler zu mischen. Findest du etwa nicht, dass ich wie die anderen bin?«
Shaha schmunzelte leicht. »Nicht direkt.«
Verwirrt hob Jamie seine Brauen.
»Du hast beinahe übernatürliche Reflexe, verhältst dich, als könntest du Gedanken lesen und hast keinerlei Sinn für Humor. Es ist wie in diesen alten amerikanischen Filmen mit den Geheimagenten, die nicht unnatürlicher versuchen könnten, natürlich auszusehen.«, erklärte sie und ein leichtes Schmunzeln erschien bei ihren eigenen Worten auf ihren Lippen.
Jamies Mundwinkel zogen sich leicht nach oben zu einem kleinen Lächeln und er gluckste leise. Es war ein warmes, tiefes Geräusch und erinnerte sie auf irgendeine Weise an das Schnurren einer Katze.
Rasch jedoch wurde er wieder ernst und schwieg. Beinahe schon dachte sie, er würde gar nicht mehr sprechen. Doch obwohl er sein Gesicht wieder dem Becken zuwandte, fuhr er fort.
»Wenn du dein Leben für einen anderen Menschen lebst, findest du Kräfte in dir, die du niemals für möglich gehalten hättest.«
Tiefste Überzeugung sprach aus seinen Worten heraus und Shaha spürte, wie heiße Tränen ihre Wangen herunter liefen. Sie öffnete ihren Mund, doch kein Laut kam heraus.
Ihr Griff in der Decke um ihre Schultern wurde fester und ihre Stimme kehrte zurück, noch immer schwach. »Das Leben nur für andere zu leben, bedeutet zugleich, dass man nicht für sich selbst lebt. Und wenn man nicht für sich selbst lebt, ist es kein Leben. Man lebt nicht, nicht wirklich. Hangelt sich nur zum nächsten Punkt, doch droht immer in die Tiefe zu stürzen. Eine Tiefe, die einen unerbittlich zu sich zuziehen scheint.« Ein tiefer Atemzug verließ ihre Kehle und sie sammelte sich kurz, bevor sie ihm ihr Gesicht zuwandte. Ihre Augen trafen die seinen und abermals drohte ihr die Stimme zu versagen.
»Ich denke, einige Kinder werden einfach mit Tragödien im Blut geboren.«, flüsterte sie leise.
Jamie legte den Kopf schief und sah sie eindringlich an. »Wirklich?«, fragte er, seine Stimme war ernst. »Hat Lottie sich nicht für das gleiche tragische Schicksal entschieden? Hast du nicht auch der maradovischen Königsfamilie die Kontrolle über dein Leben gegeben?«
Shaha schüttelte nur den Kopf. Bevor sie jedoch etwas einwenden konnte, beugte er sich vor und flüsterte sanft: »Es waren alles unsere eigene Entscheidung.«
Als er seinen Atem direkt in ihr Geschicht blies, merkte sie erst, das sich ihre Nasen beinahe berührten. Die Luft roch süßlich und das unangenehme Gefühl kehrte zurück, stärker als zuvor.
Was war in der Limo gewesen?
Hatte er noch etwas anderes zu sich genommen, dass sein Verhalten rechtfertigte?
Sie musste sich an der Balustrade hinter sich abstützen, als er sich mit einem Mal gegen sie lehnte. Aufmerksam musterte Shaha ihn und bemerkt, dass seine Augen sich getrübt hatten.
»Jamie, wir müssen –«
Der Anblick des wilden Grinsens, das auf seinem Gesicht lag, ließ ihre Stimme brechen. Im Mondlicht konnte man seine zerzausten Haare, dunkel glänzende Augen und den raubtierhaften Ausdruck darin genau erkennen.
Erneut wie in Trance streckte sie ihre Hand aus und berührte vorsichtig seine Wange.
Jamies Mundwinkel zuckten und rasch zog sie ihre Hand zurück.
»Hast du Angst vor mir?«, das Grinsen war auf sein Gesicht zurück gekehrt.
Verständnislos blickte Shaha ihn an. »Sollte ich das etwa?«
Er beugte sich noch etwas weiter vor und hauchte: »Sag du es mir.«
Ihr Atem ging flach und sie suchte nach den richtigen Worten. Jamie jedoch, schien ihr Schweigen ganz anders zu interpretieren und ein verletzter Ausdruck trat in seine Augen. »Du hast also Angst vor mir.«
Shaha spürte Hitze in sich aufsteigen und ballte die Hände zu Fäusten. Warum kam es bloß immer wieder zu solchen Missverständnissen?
»Nein.«
»Nein?«, Jamies Stimme klang beinahe belustigt.
Sie hob ihren Blick und sah ihn direkt an. »Ich habe keine Angst vor dir und ich seine überhaupt keinen Sinn darin, warum es irgendjemand haben sollte.« Sie schluckte und fuhrt fort: »Schließlich bist und bleibst du ... noch immer du, egal wie sehr man dich auch verformt haben mag.«
Er lachte, aber es klang seltsam hohl und seine Gesichtszüge verschwammen.
Besorgt musterte sie ihn. »Jamie, du wirkst beinahe, als wärst du betrunken ...«
Die Wärme wich aus seinen Augen und Verwirrung zeichnete sich klar auf seinem Gesicht ab.
»Nein. Ich trinke nicht. Ich ...« Schließlich schien ihm etwas klar zu werden. Er fasste ihren Kopf mit beiden Händen und sah sie fest an.
»Hör mir zu. Ich werde wohl gleich ohnmächtig ...« Er kniff seine Augen zusammen, als könnte er sie nicht klar sehen. »Du darfst Anastasia nicht vertrauen ...«
Mit diesen Worten sank er bewusstlos gegen sie und sie beide kippen rücklings ins Becken.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top