33

Shaha zog sich leise in eine Ecke des Raumes zurück und bekam so kaum etwas von dem mit, was Lottie zu den anderen sagte. Irgendwie hatte sie versucht, sich mit Heimweh herauszureden, doch die Conch-Schüler lachten bloß.
Langsam glitt sie an der Wand hinunter und ließ sich zu Boden sinken. Noch immer tropfen einzelne Tränen hinunter auf ihren  tannengrünen Jumpsuit und färbten den weichen Stoff mattschwarz.
Sie wusste selbst nicht recht, was sie an der Geschichte so berührt hatte.
Vielleicht, weil sie die beiden Mädchen aus der Geschichte so sehr an Lottie und Ellie erinnern und sie auf keinen Fall wollte, dass sie das selbe Schicksal ereilte.
Vielleicht hatte es aber auch gar nichts mit der Geschichte zu tun.
Möglicherweise war es nur endlich ein Grund, um endlich einmal alles herauszulassen. Es tat gut – und zugleich so weh.
Alle möglichen Erinnerungen zogen fetzenweise an ihr vorbei. Das Lachen ihrer Mutter, ihre Stimme und der Glanz ihrer dunklen Rehaugen. Ihr Todestag vor nun genau zehn Jahren und die Schreckensherrschaft ihres Vaters in der darauffolgenden Zeit.
Und wie von selbst schweiften ihre Gedanken von ihrer Familie zu Jamie. Dem Blick in seinen Augen, als er sie der Vertrauensunwürdigkeit beschuldigt hatte – voller Empörung und Verrat. Ein Schauder lief ihre Wirbelsäule hinunter und sie Vergrub ihr Gesicht in den Armen, die sie auf ihren Knien verschränkt hatte.
Es war, als würde sich mit einem Mal ein riesiges schwarzes Loch auftun und sie Stück für Stück immer weiter in sich hinein ziehen.
Doch plötzlich hörte sie, wie sich jemand über sie beugte. Überrascht hob sie ihren Kopf und starrte beinahe verängstigt in ein paar dunkel grün-gold gefleckte Augen.
Jamies Stirn war gerunzelt, als er fragte: »Alles in Ordnung?«, in seiner Stimme schwang ehrliche Besorgnis mit.
Am liebsten hätte Shaha ihm alles erzählt und sich damit von allem befreit. Doch sie hielt sich zurück. Jamie hatte bereits mehr als genug Verantwortung, da konnte sie ihn nicht noch zusätzlich belasten.
Einen Moment lang antwortete sie deshalb gar nicht, bevor sie dann langsam den Kopf schüttelte und sich rasch die Augen wischte.
Jamie hatte sich inzwischen neben ihr niedergelassen und seine Gitarre auf dem Schoß plaziert.
Und mit einem Mal erklang eine leise, sanfte Melodie direkt neben ihrem Ohr. Verwundert wandte sie sich an ihren Sitznachbarn. Gerade so konnte sie ihren Mund davon abhalten, einfach aufzuklappen, als er sie auch noch sachte anlächelte.
Shaha erwiederte sein Lächeln voller Dankbarkeit und schloss für einen Moment die Augen, als Jamies Stimme sie wie eine sanfte Umarmung einschloss. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus und wie aus einem Instinkt heraus, presste sie eine ihrer Hände gegen ihr Herz.
Mit den letzten Tönen des maradovischen Schlafliedes, schienen auch ihre Lebensgeister den Weg zurück in ihren Körper zu finden.
Ihre Lippen verließ ein tiefer Atemzug, bevor sie sich zu ihm umwandte.
»Ich wusste es nicht.«
Bevor sie realisiert hatte, was sie sagte, hatten die Worte ihren Mund auch schon verlassen.
Als sie Jamies forschenden Blick bemerkte, machte sie sich rasch daran, alles genauer zu erklären.
»Das mit dem Buch aus der Bibliothek, am ersten Schultag. Ich wusste es nicht.«
Jamies Augen wurden groß und sein Mund öffnete sich leicht, doch sie schüttelte sanft den Kopf. »Ich wollte bloß, dass du es weißt.«, flüsterte sie leise. »Und danke, für das Lied.«
Er nickte nur. In seinen Augen war jedoch ein warmer Glanz aufgetaucht, den Shaha noch nie bei ihm gesehen hatte. Nachdenklich legte sie ihren Kopf schief und wieder erschien das Bild von Dr. Jackle und Mr. Hide vor ihrem geistigen Auge.
Plötzlich fiel ihr etwas wieder ein und sie griff unvermittelt nach Jamies Arm, ehe sie ihn wie von der Tarantel gestochen wieder losließ. Verlegen räusperte sie sich und begann dann leise zu erzählen: »Anastasia hat vorhin eine Bemerkung gemacht, zu Lottie.« Sie holte kurz Luft, bevor sie weitersprach. »Sie sagte, Lottie 'seie nicht so, wie sie erwartet habe' und dann sah sie so aus, als wolle sie etwas wichtiges erzählen. Doch 'Lottie, ich weiß' war alles, was sie vor eurem Auftritt noch heraus bekommen konnte.« Jamies Stirn war gerunzelt und seine Augen schmal.
Irgendwie hatte das ganze, als es noch unausgesprochen in ihrem Kopf herum geschwirrt war, um einiges bedeutungsschwerer geklungen.
Schnell fügte sie hinzu: »Ich weiß nicht, ob es wirklich von großer Bedeutung ist, aber es klang ganz so, als wisse sie etwas über die Prinzessin von Maradova, das sie für wichtig hält.«
Einen Moment lang herrschte gespanntes Schweigen. Dann nickte Jamie und Shaha atmete aus. Es war ihr gar nicht bewusst gewesen, dass sie ihren Atem die ganze Zeit lang angehalten hatte. Damit kehrte auch das sanfte Lächeln auf ihre Lippen zurück.
Mit einem Mal tauchten Lottie und Ellie neben ihnen auf und die schwarzhaarige verkündete, sie würden den Rest des Abends in Ivy verbringen.
In diesem Moment war es, als fiele Shaha mit diesen Worten ein Stein vom Herzen.
So sehr Jamie es auch geschafft hatte, sie aufzumuntern, im Moment sehnte sie sich einfach nur nach dem  Gemeinschaftsraum und der Gesellschaft ihrer drei Freunde.

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