28

Weihnachten und somit das Ende des ersten Halbjahres in Rosewood Hall rückte Stück für Stück immer näher.
Tag für Tag wurde die Luft kälter und jeden Morgen hoffte Shaha, dass es heute endlich anfing zu schneien.
Der Teich vor Ivy war mehrere dutzend Zentimeter tief gefroren, Frostblumen malte der Winter in die Fenster und Eiszapfen hingen von Dachrinnen und Torbögen.
Die Schule glich mehr denn je einem Gemälde eines der alten Meister.
Jamie hatte tatsächlich zugesagt Shaha zu trainieren, wenn auch unter der Bedingung, dass sie erst im Frühjahr vollständig mit dem Training beginnen und nur weitermachen würden, solange es ihn nicht von seinen Pflichten als Partist abhielt.
So kam es dazu, dass sie mehrmals in der Woche zusammen mit Jamie lief und auch anfing, ihr Selbstverteidigungstraining wieder aufzunehmen.
Raphael scherzte schon, dass auch sie sich für die Fechtmannschaft qualifizieren wolle.

Nach einem anstrengenden Training und einigen weiteren Stunden, in denen sie bereits Begonnen hatte ihre Unterrichtsnotizen nach Wichtigkeit für die Winterexamen zu markieren und alles noch einmal durchzugehen, begleitete sie Lottie und Ellie.
Die beiden wollten ihre freie Zeit nutzen, um das Rätsel endlich vollständig zu lösen.
Gerade standen sie am Fuß der Treppe, die zum Büro des Direktors führte und Lottie trug die wohl bedeutungsschwersten Zeilen des Gedichts vor:
»Nun sind sie im Zimmer des Meisters,
der da wacht über das Haus.
Er blickt auf sie und sie auf ihn,
die Füchsin und die zierliche Maus.«
»>Er< muss William Tufty sein«, murmelte die Blonde.
»Dann ist es nur logisch, dass mit 'dem Zimmer des Meisters, der da Wacht über das Haus' das Büro des Schulleiters gemeint ist. Demjenigen der heute über Tufty's Lebenswerk, diese Schule, das Haus, wacht.«, fügte Shaha hinzu.
»Euer Wort in Gottes Ohr.«, Ellie hob bloß die Brauen.
Im Gegensatz zu Lottie und Shaha konnte sie nicht wirklich etwas mit Metaphern und umschleierten Formulierungen anfangen. Zahlen und Formeln waren die Sprache, die sie wohl am besten verstand.
»Du solltest wirklich mal deine Interpretationskünste auf Vordermann bringen.«, neckte Lottie sie, »Vielleicht brauchst du sie irgendwann, um dich aus einer gefährlichen Lage zu befreien.«
Shaha gluckste, auch wenn sie im Gegensatz zu Ellie Lotties Rat durchaus in Betracht zog. Zahlencodes waren oft sehr auffällig, da konnte einem eine Metapher oder ein kunstvoll eingebauter Rechtschreibfehler schon hilfreicher sein, wenn man in der Klemme steckte.
Wahrscheinlicher wäre durch die ganze Porter-Angelegenheit aber, dass Lottie ihre Kenntnisse irgendwann unter Beweis stellen müsste.
Als Shaha wieder aus ihren Gedanken auftauchte, hörte sie, wie die Erdbeerprinzessin gerade mit spitzer Stimme etwas zu korrigieren schien: »Okay, es war super - sie ist super und ich lerne eine Menge. War das jetzt besser?«
Skeptisch hob sie eine Braue, das alles klang so gar nicht nach Lottie.
Schon fügte die Blonde an: »Tut mir leid, ich bin nur ... müde. Und du sollst nicht denken, dass sie eine bessere Lehrerin ist als du.«
Sogleich wurde Ellies Gesicht sanft und sie griff nach Lotties Hand, bevor sie kicherte. »Natürlich ist sie nicht besser als ich. Ich will doch nur sichergehen, dass sie auch gut genug für dich ist.«
Mit einem stummen Lächeln auf den Lippen schüttelte Shaha den Kopf. Es ging also mal wieder um Saskia und wie jedes Mal, wenn die Conchschülerin zur Sprache kam, zeigte Lottie deutliche Anzeichen tiefer Eifersucht.
Jedoch lächelte diese Mittlerweile wieder und schon stiegen sie gemeinsam die Treppe hinauf.
Ihr Plan war simpel, sie würden einfach anklopfen und behaupten, sie würden für ein Referat einige Fakten über Rosewood benötigen. So würden sie sich auch das Bild genauer ansehen können.
Auch wenn Shaha sich zutiefst unwohl dabei fühlte, den Direktor nicht direkt zu fragen, ob er ihnen mehr über den Schulgründer erzählen könnte. Doch schließlich hatten sie sich gegen ihren Vorschlag entschieden.
Sie war die erste, die die geflügelte Tür zu Direktor Croaks Büro erreichte. Rasch nahm sie all ihren Mut zusammen und klopfte zaghaft. Der Direktor zeigte sich bloß selten und wirkte stumm im Hintergrund.
Doch auch nach wiederholtem Klopfen erhielten sie keine Antwort.
»Hallooo! Ist jemand da-ha? Verzeiiihung!«, rief Ellie, während sie nun an Shahas Stelle regelrecht gegen die Tür hämmerte.
Lottie verpasste der maradovischen Prinzessin einen Stoß und zischte zugleich mit Shaha: »Ellie!«
Doch die grinste nur schief und zuckte mit den Schultern, bevor sie noch einmal laut gegen die Tür hämmerte.
»Es scheint niemand da zu sein.«, bemerkte Shaha trocken und hoffte inständig, das Ellie mit ihrem Getrommel aufhören würde.
Lottie seufzte und machte ein enttäuschtes Gesicht. »Dann müssen wir eben ein andermal wiederkommen.«
Shaha nickte zustimmend, doch Ellie lehnte sich an die Tür und schniefte. »Oder wir schleichen uns rein und schauen mal nach. Ich bin sicher, das hätte die Füchsin auch so gemacht.«, grinste sie.
Shahas Augen wurden groß. Gerade hätte sie alles dafür gegeben, wäre Jamie bei ihnen gewesen und hätte Ellie angebellt, sie solle sich besinnen und an ihre Akte denken.
Schon hatte Ellie den Knauf gedreht und die Tür aufgestoßen. Lottie folgte ihr sogleich.
Shaha fluchte leise und atmete tief durch, bevor sie hinter den beiden her ins Zimmer eilte. Draußen schmiere zustehen machte sowieso keinen Sinn.
Das sechseckige, schlichte Zimmer war ganz anders, als man es sich wohl vorgestellt hatte und doch mochte Shaha es auf Anhieb. Mitten im Zimmer, dessen Boden überquoll vor lauter Papiere, Bücher und Stapel alter und neuer Dokumente, stand ein bescheidener Mahagonischreibtisch. Hinter dem Tisch hing ein großes, in Gold gerahmtes Porträt von William Tufty.
Aus seinem Rahmen betrachtete er sie mit wachsam Augen, der Künstler hatte den nachdenklichen Ausdruck darin perfekt eingefangen. Seine Hände ruhten in seinem Schoß und darin hielt er einem kleinen runden Spiegel, in dem sich er selbst trüb widerspiegelte. Betrachtete man den weitläufigen Saal im Hintergrund, schien Tuftys zierliche und schmale Gestalt regelrecht zerbrechlich dagegen.
Was hatte das alles bloß mit dem Gedicht zu tun?
Sie zermarterte sich das Hirn, doch die richtige Lösung wollte ihr einfach nicht in den Sinn kommen.
Plötzlich ertönte eine schroffe Mämnerstimme hinter ihnen: »Der alte Herr ist beeindruckend, was?«
Shaha zuckte so heftig zusammen, dass sie ganz den Plan vergaß.
Glücklicherweise schien Lottie nicht völlig gelähmt zu sein. »Direktor Croak ... Es tut uns schrecklich leid ... Wir ...«, doch dann versagte ihre Stimme.
Shaha räusperte sich und übernahm dann rasch. »Wir wollten eigentlich zu ihnen, doch ... Und die Tür war unabgeschlossen. Da wollten wir auf sie warten ... Und dann ... Entschuldigen sie bitte.«
Doch der Direktor lachte bloß heiser. »Ach, schon gut! Glaubt ihr, ihr seid die Ersten, die durch William Tuftys Sirenruf angelockt wurden?«, er gluckste leise und machte einen Schritt auf sie zu. »Eure Freundin Miss Binah Fae saß genau mit dem gleichen Blick davor, als sie kaum einen Monat in Rosewood war.«
Erleichtert atmete Shaha auf, er würde sie also nicht bestrafen.
»Es tut uns wirklich leid.«, echoten alle drei im Chor.
Direktor Croak lächelte, drehte sich zum Gemälde und betrachtete es nachdenklich. »Er war ein sehr weiser, sehr zurückhaltender Mann.«
»Und auch sehr freundlich.«, fügte er rasch lächelnd hinzu. Sein Gesicht war noch faltiger, wenn er lächelte. Er klopfte mit seinem Stock auf den Boden und fuhr fort: »Aber seine größte Kunst war das Schweigen.«, Croak guckste wieder, bevor er Shaha direkt anblickte. »Manchmal geht es auf der Welt ganz schön laut zu. Die Menschen streben nur danach, sich Gehör zu verschaffen und übertönt diejenigen, die wirklich gehört werden sollten. Das hat William Tufty begriffen. Er hat seine Position genutzt, um anderen Raum zum Sprechen zu geben.«, er senkte seinen Blick hinunter auf seine zerfurchten Hände. »Ich tue mein Bestes, ihm darin nachzueifern.«
Auf Shahas Gesicht erschien ein warmes Lächeln. Sie musste an die Ansprache von Professor Devine am Jahresanfang und an Croaks schlichtes Erscheinen denken.
Ja, man merkte das Croak nach dieser Philosophie lebte.
»Ich hoffe, es gelingt mir, so weise zu sein, wie er es war und denjenigen Gehör zu verschaffen, die es brauchen.«
»Danke«, sagte Lottie mit einem Mal leise und warf Ellie und ihr einen vielsagenden Blick zu.
Der Direktor lächelte erneut und hob die Hand zum Abschied.

Als sie wieder im Zimmer von Lottie und Ellie waren, schwiegen sie erst eine Zeit lang.
»Ich glaube ...«, begann Lottie schließlich langsam, »Ich glaube, dass William Tufty nicht als der geboren wurde, zu dem er später geworden ist.«
Shaha blickte sie neugierig an und Ellie legte abwartend den Kopf schief.
»Ich glaube«, fuhr sie fort, »er war eine Frau.«
»Was?«, wunderte Ellie sich laut, »Wie kommst du denn darauf?«
Doch Shaha ließ das Bild vor ihrem geistigen Auge erscheinen. Tufty, seine golden gerahmte Halbmond-Gläserbrille, der weiträumige Saal hinter ihm und die Dublikation des Gemäldes im Spiegel.
»Der Spiegel!«, rief sie mit einem Mal aus.
Lottie nickte und wandte sich schließlich an Ellie: »Kennst ihr das Gemälde Die Arnolfini-Hochzeit?«
Ellie schüttelte den Kopf, Shaha jedoch nickte. »Es wurde vom flämischen Künstler Jan van Eyck 1434 gemalt. Er hat sich selbst im Spiegel hinter dem Brautpaar mitten im Gemälde versteckt.«
Nun nickte Lottie. »Spiegel können in der Kunst alles Mögliche symbolisieren, aber meistens stehen sie für Frauen, Wahrheit und natürlich Spiegelungen. Ich hatte sofort das Gefühl, dass irgendwas an dem Bild komisch ist und dann hab ich es gesehen.«, sie machte eine Pause.
»Das gesamte Gemälde wird im kleinen Bild im Spiegel wiedergegeben. Alles gleicht dem großen Gemälde komplett, bis auf Tufty.«, fuhr Shaha fort. »Tufty ist als Fuchs gemalt.«
»Die Füchsin und die zierliche Maus - das ist beides er. Das sagt das Gemälde und das sagt das Gedicht.«, Lottie sah Ellie aufgeregt an. »Wer sie auch war, sie tarnt sich als William Tufty, weil sie so am glücklichsten war.«
Ellies Augen wurden groß und sie flüsterte: »Dann ist er wie ich.«
»Wer sie wohl war?«, überlegte Lottie laut.
Ein ungutes Gefühl machte sich in Shaha breit.
Was wollte Binah ihnen mit dieser Information mitteilen?
Plötzlich entglitten ihr alle Gesichtszüge.
Auch die anderen schwiegen mit einem Mal und alle wussten, was sie dachte.
Binah wusste Bescheid.

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