24
Wie jeden Nachmittag traf Shaha sich mit den anderen drei Ivy Schülern in der kleinen Sporthalle von Conch.
Dort unterrichtete Jamie Lottie und sie in den Grundlagen der Etikette. Von der richtigen Art, eine Auster zu essen bis hin zur Reihenfolge des Bestecks, alles Dinge die Shaha bereits im Schlaf konnte. Doch für Lottie schien all das eine völlig neue Welt zu sein. Eine Welt in der sie sich nicht recht wohl zu fühlen schien.
Das einzige, bei dem Jamie sich zurück hielt war der Walzer. Jedoch funktionierte es nicht ganz wie geplant, da er offenbar erwartet hatte, Shaha könnte Lottie, wie schon bei den anderen Aufgaben, unter die Arme greifen. Dies war dieses Mal aber nicht der Fall. Denn der Walzer war kein typischer Tanz in ihrer Heimat und da sie noch nie auf einem der offiziellen Bälle, Empfänge oder Events getanzt hatte, hatte sie ihn nie erlernt. Und so war sie wahrscheinlich sogar noch planloser als Lottie, der Jamie schließlich Ellie zur Seite stellte. Shaha jedoch hielt sich zurück, sodass es schließlich Jamie war der sie zum Tanzen in die Mitte der Halle buchsierte.
Doch sie merkte wie unangenehm es ihm war.
Verlegen räusperte sie sich, »Du... Du musst nicht, ich kann auch einfach nur zusehen. Ich werde dadurch schon genug lernen.«
Ihr Tanzpartner verdrehte jedoch nur genervt die Augen, bevor er sie anwies, welche Schritte sie in welcher Reihenfolge zu welchem Takt zu machen hatte. Langsam doch sicher prägte sie sich alles Nötige ein. Schließlich waren es bloß noch drei Tage bis zu Beginn der Schulung.
Gerade während Lottie die Grußformeln für verschiedene Adelsstände vortrug, unterdrückte sie sichtbar ein Gähnen, woraufhin sie einen scharfen Blick von Jamie erntete. Er schien noch immer verärgert zu sein, dass sie ihm nichts von ihren Schlafproblemen erzählt hatte. Doch tief in seinen Augen schimmerte Sorge. Gerade als er seinen Mund öffnete um etwas zu sagen, knurrte Ellie laut.
Mit einem Schrei schleuderte sie ihr Heft quer durch die Halle.
»DIESES RÄTSEL MACHT MICH NOCH WAHNSINNIG!«
Nur wenige Zentimeter vor Shahas Gesicht fing Jamie das Heft, unter den verblüfften Augen von Lottie, geschickt auf.
Völlig unbeeindruckt vom Geschehen, trotz vormaligen Zusammenzuckens, runzelte Shaha die Stirn.
»Wie lautet es denn?«
Ellie hatte in letzter Zeit häufiger in diesem Heft herumgekritzelt und vor sich hingemurmelt, von mal zu mal frustrierter. Warum sie niemanden um Hilfe bat war Shaha jedoch schleierhaft. Selbst wenn Lottie und sie wohl kaum etwas zur Lösung der komplizierten Formeln beitragen könnten, so gab es doch noch genug andere die sicherlich von größerer Hilfe sein würden.
Jamie blätterte durch die Seiten, während Shaha ihm über die Schulter lugte, bevor er das Heft schwungvoll zuklappte.
»Wir wären dankbar, wenn du dein komisches Anagramm leise lösen könntest.«, gab er kühl von sich und platzierte das Heft neben Ellie auf der Bank.
Eben genannte setzte sich kerzengerade auf und rief: »Anagramm?«
»Ja«, erwiderte Jamie, während er Lotties Arm in die richtige Position für einen Knicks brachte und Shaha langsam an ihren Schultern etwas aufrechter hinstellte. »Du hast die Zahlen noch nicht in Buchstaben umgewandelt, aber es ist eindeutig der Name des Gründers der Schule, William - «
»WILLIAM TUFTY!«, kam es zugleich von Ellie und Lottie.
»Jamie, wir machen heute früher Schluss!«, rief Ellie während sie Lottie und Shaha am Arm hinter sich herzog.
Zuerst schien es, als wolle er sie noch festhalten, doch dann traf sein Blick den von Shaha. Diese schüttelte sachte den Kopf und schließlich schien er es sich anders zu überlegen. »Na schön, ihr könnt gehen«
Zusammen mit Lottie und Ellie saß Shaha im Gemeinschaftsraum. Während die beiden Freundinnen es sich auf einem Doppelsessel gemütlich gemacht hatten saß sie selbst am Fenster und beobachtete aufmerksam, wie die anderen Mädchen beide ein kleines Kästchen in Händen hielten, bereit es zu öffnen. Nachdenklich legte sie den Kopf schief und ignorierte das übliche Kichern der Ivy Schülerinnen außerhalb ihres Freundeskreises. Diese Reaktion war zur Gewohnheit geworden, wann immer die vier zusammen einen Raum betraten und Shaha war sich sicher, dass es nicht an der gesamten 'Lottie ist die Prinzessin von Maradova'-Geschichte lag.
Sekunden später wurde sie von Lottie aus ihren Gedanken gerissen.
»Unglaublich, das wir so lange gebraucht haben.«
Feierlich hoben beide die Deckel der Schachteln an und hielten beide jeweils einen kleinen Emailleanstecker in den Händen.
Vorsichtig beugte sich Shaha näher um die Bilder darauf besser erkennen zu können. Auf dem von Lottie befand sich das Bild eines Fuchses, auf Ellies das einer Maus.
»Hä?«, war Ellies einzige Reaktion neben einem fragenden Blick in Jamies Richtung.
»Das muss irgendwas bedeuten.«, stellte Lottie fest, bevor sie nachdenklich die Nase kraus zog und leise vor sich hin murmelte, »Eine Maus und ein Fuchs, ein Fuchs und eine Maus.«
Jamies Mundwinkel zuckten und sein Gesicht zeigte eine ungewohnte Regung. Melancholisch, beinahe wehmütig.
Shaha hingegen war planlos, doch umso mehr wollte sie helfen dieses Rätsel zu lösen. Mit tief gefurchter Stirn wandte sie sich an Jamie: »Woran erinnerst du dich?«
Er drehte sich jedoch bloß erneut zum Fenster und schwieg.
Plötzlich aber sprudelte etwas aus Lottie heraus: »William Tufty hat Kindergedichte geschrieben!«
Die blonde blickte zu Jamie hinüber, der ihren Blick überrascht erwiderte. »Du kennst es auch - du erinnerst dich an das Gedicht! Die Füchsin und ...«
»... die zierliche Maus.«, verfolständigte er den Titel des Gedichtes, bevor er hinzufügte, »Beinahe hätte ich es vergessen.«
Verzweifelt durchforstete Shaha ihr Gehirn, jetzt wo sie den Titel kannte musste sie irgendwelche Einzelheiten wiederfinden. Sie hatte nicht umsonst hunderte von Gedichten und Poesie auswendig gelernt, ohne das es wirklich ihre eigene Entscheidung gewesen war.
»Ich wäre nie auf die Idee gekommen, das der Gründer von Rosewood Hall einen meiner liebsten Kinderreime gedichtet hat. Es war auch das Lieblingsgedicht meiner Mutter.«, zärtlich strich Lottie über die Nadel bevor sie sie Ellie zurückgab.
»Glaubst du, Binah wollte uns damit auf seine Gedichte aufmerksam machen?«
Shahas schüttelte kaum merklich den Kopf, sie brauchten mehr Informationen.
Nach und nach schlossen sich Wörter zusammen, bevor sie das Bild der Seite vor ihrem geistigen Auge sehen konnte.
Gerade schienen die anderen etwas zu beschließen, bevor sie leise vor sich hin murmelte: »Sie trafen einander tief im Wald und bauten zusammen ein Haus. Eine war schlau und eine war zart: Die Füchsin und die zierliche Maus. Sie spielten meisterhaft Versteck ...«, verunsichert verstummte sie.
Die verschiedensten Reaktionen waren auf den Gesichtern ihrer Freunde zu sehen.
Lottie schien überrascht, doch mindestens genauso begeistert, Ellies Gesicht zierte ein schiefes Grinsen und Jamie hatte skeptisch eine Augenbraue erhoben.
Zögernd lächelte sie und tippte sachte gegen ihre Schläfe. »Fotografisches Gedächtnis, funktioniert leider nur bei manchen Dingen. Normalerweise ist es eher mit dem eines Goldfisches zu vergleichen.«, erklärte Shaha leise und rutschte unsicher auf dem Sofa umher.
Ellie lachte leise auf und selbst Jamies Mundwinkel zuckten kurz. Lottie ließ sich mit einem leisen 'Puff' neben ihr auf das Sofa fallen und sah sie aufmerksam an. Shaha brauchte einen Moment, bis sie realisierte das von ihr nun auch der Rest des Gedichtes erwartet wurde. Verlegen räusperte sich und versuchte angestrengt, sich an den genauen Wortlaut zu erinnern, während alle sie anstarren.
Gerade als sie aufgeben wollte, fand sie das Bild wieder. Das Ellie soeben Jamie mit einem Kissen abgeworfen hatte, aus der festen Überzeugung heraus, er seie wie schon bei Lottie auch für Shahas Unsicherheit verantwortlich, hatte nicht unwesentlich dazu beigetragen. Leicht belustigt schmunzelnd räusperte sie sich:
»Sie- Sie spielten meisterhaft Versteck
... bis ihre Lust gestillt.
Die Füchsin barg sich gewitzt
in einem alten Bild.
Mit ihrer Weisheit,
ihrem Mut wurde sie bekannt.
Bald schon strömten
ins Eichenhaus
Schüler aus dem ganzen Land.
Nun sind sie im Zimmer des Meisters, der da wacht über das Haus.
Er blickt auf sie und sie auf ihn:
Die Füchsin und die zierliche Maus.«
Einen Moment herrschte Stille.
Doch dann schien Lottie ein Licht auf zu gehen.
»Ich glaube, sie meint ein Gemälde!«, verkündete sie stolz und setzte sich automatisch etwas gerader hin, bevor sie fortfuhr, »In der ganzen Schule hängen Gemälde von Tufty ... Bestimmt ist in einem von ihnen ein Hinweis versteckt.«
Daraufhin stand sie auf und blickte erwartungsvoll in die Runde. Shahas Blick ruhte jedoch auf der Uhr, auch Jamie sagte nichts.
»Worauf wartest du? Finden wir es heraus!«, Ellie tippte ungeduldig mit ihrem Fuß auf den Boden.
Jamies Gesicht verschloss sich mit einem Mal wieder und er löste sich vom Rahmen des Fensters.
»Hebt euch eure Schnitzeljagd für später auf. Gleich beginnt die Ausgangssperre und ihr habt sicher noch Hausaufgaben.«, er hatte nicht Unrecht. Sie würden einen Verweis riskieren, wenn sie sich nun auf den Weg machten.
Mit einem Mal warf er Lottie und Shaha einen scharfen Blick zu, mit dem er sicher mit Leichtigkeit einen der Pfeiler des eisernen Tores hätte durchtrennen können. »Und ihr müsst euch auf das Etikettetraining vorbereiten. In drei Tagen geht es los.«
Shaha seufzte und warf Lottie, die sichtbar schluckte, einen mitfühlenden Blick zu.
War sie wirklich bereit für all das?
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