22
Für die meisten Schüler viel zu früh am Morgen saß Shaha in einem der Studienzimmer von Ivy mit Blick auf das Rosenholzwäldchen.
Wie immer war sie bereits beinahe eine ganze Stunde vor Beginn der eigentlichen Trainingsstunden im Raum und studierte ihre Notizen der letzten Stunde.
Sie wusste, dass sie eigentlich gar nicht hätte hier sein müssen, es war schließlich Lotties Training. Doch so viel wie möglich über Maradova zu lernen konnte in ihrer eigenartigen Rolle als Eingeweihte nicht schaden.
Momentan stritten sich Ellie und Jamie darüber, warum Lottie den alten maradovischen Dialekt überhaupt noch lernen musste, wenn er doch sowieso nicht mehr gesprochen wurde.
Shaha stimmte Ellie in gewisser Weise zu, es war eine veraltete Form von Russisch, die kaum einer noch sprach. Aber warum lernte man Latein, wo es doch auch völlig nutzlos war, wenn man es so betrachtete?
Sie jedenfalls fand es hochinteressant und machte sich fleißig notizen um so viel wie nur irgendmöglich zu lernen.
Der Streit endete damit, dass Lottie die Geschichte des Maradovischen Dialektes zusammengefassen musste.
Kurz darauf kamen zwei Ivy-Schülerinnen an ihrer offenen Tür vorbei und kicherten, als sie Jamie sahen. Sichtlich genervt verdrehte Shaha die Augen.
Seit Jamies Rolle als Partist offiziell bekannt gegeben worden war, hatte er sich zu einem regelrechten Mädchenschwarm entwickelt. Das hieß, zu einem noch größeren als breits zuvor.
Plötzlich spürte sie Jamies prüfenden Blick in ihrem Rücken, mit einem verwirrten Ausdruck drehte sie sich daraufhin um und sah ihn fragend an. Doch er verschränke bloß die Arme, bevor er ein Blatt Papier vor Lottie auf den Tisch legte und sie dazu aufgeforderte, die Namen aller Mitglieder des Maradovischen Königshauses zu nennen. Prüfend musterte Lottie daraufhin das Blatt.
»In Oscars Tagebuch steht, dass der letzte König, Henric, zwei Söhne hatte. Dann muss König Alexander doch einen Bruder haben?«
Jamie und Ellie wechselten einen ernsten Blick.
»Claude. Eigentlich sollte er König werden, aber... «, Ellie senkte, ungewöhnlich für sie, ihren Blick auf den Tisch, »Er hat sich den königlichen Pflichten verweigert.«
»Er wurde verbannt.«
Taktgefühl gehörte nicht wirklich zu Jamies Stärken.
»Die maradovische Königsfamilie nimmt die Regeln sehr genau. Es ist wichtig, dass das euch beiden klar ist.«, erklärte er mit Nachdruck.
Überrascht hob Shaha eine Braue, warum sprach er sie damit an?
Lottie erschauderte. »Wie gruselig...«
Shaha nickte nur zustimmend.
»Ziemlich. Apropos gruselig...«, er legte sowohl Lottie als auch Shaha einen Brief in die Hand.
Neugierig betrachtete sie das Kastanienbraune Siegel. Es bestand aus vier zum Quadrat zusammen gesetzten Dreiecken, die sich in der Mitte überschritten und zwei Rauten bildeten. Irgendwie wirkten sie wie die Reißzähne eines Raubtieres.
»Was ist das?«
»Das ist unsere Einladung zum maradovischen Sommerball«, erklärte Ellie hörbar genervt, »Auch Blumenfest genannt.«, bei letzterem verdrehte sie die Augen.
Shahas Stimmung wechselte von neugierig zu geschockt.
Ein Ball?!
Doch gerade diese Tatsache schien Lottie regelrecht zu begeistern.
»Es ist einfach lächerlich. Der Ball findet jedes Jahr statt, immer liegt Schnee und das ganze hat überhaupt nichts Sommerliches.«
Na immerhin etwas positives.
Verwirrt runzelte Shaha die Stirn: »Warum wurde ich eingeladen?«
Prompt kam eine Antwort zurück, »Weil du die Tochter eines orientalischen Öl-Milliardärs bist und Maradova seine Bande zum Süden stärken möchte.«, kurz räusperte such Jamie, »Das wird jedenfalls der offizielle Grund für dein Erscheinen sein.« Bei Shahas entsetztem Gesichtsausdruck zuckte ein belustigtes Lächeln über sein Gesicht, ehe er sich umwandte, als Lottie Stimme ertönte.
»Ein königlicher Ball? Klingt super! Wo kann ich mich anmelden?«
Ellie lachte nur, bevor sie zurück gab: »Sie haben Glück, Miss Pumpkin, das Blumenfest wird unser... Ich meine, Ihr Prinzessinendebüt sein!«
»Wirklich?« Lottie schien regelrecht auf Wolke sieben zu schweben, sprang auf und klatschte Begeistert in die Hände.
Ein warmes Lächeln zog über Shahas Lippen, Lottie verhielt sich wirklich noch wie ein kleines Kind.
Auf einmal hüstelte ihre Erdbeer Prinzessin verlegen, lief tiefrot an und setzte sich rasch wieder. »Ich meine... das klingt ganz nett.«
Ellie pustete los, doch Jamie seufzte nur leise auf. Besorgt runzelte Shaha die Stirn, denn das Seufzen hieß, dass Jamie das was er sagen musste nicht gerne zum besten gab.
»So einfach ist das alles nicht. Ellie wird offiziell als deine Begleiterin teilnehmen, so können wir ihre Anwesenheit rechtfertigen, aber alle Debütanten müssen einen ganzen Tag an Lady Priscillas Etikettetraining teilnehmen. Glücklicherweise findet es dieses Jahr in Rosewood statt.«
Shaha erstarrte.
»Alle.«, fügte Jamie noch einmal mit einem bedeutsamen Blick in ihre Richtung hinzu.
Es war das erste Mal, das Shaha offen zeigte, wie sehr sie die Vorstellung, etwas zu tun, dass sie nicht wollte, anwiederte. Doch schnell setzte sie sich wieder etwas aufrechter hin und straffe ihre Schultern.
Lottie schien das ganze mehr zu verwirren als zu überraschen.
»Das heißt, dass du Unterricht in guten Benehmen bekommst!«, an Ellies Stimme hörte man deutlich, dass sie ein Lachen unterdrückte.
»Ihr meint... Benimmunterricht?«, keuchte Lottie.
»Das ist kein Witz, Lottie.«, Jamie runzelte besorgt die Stirn, während er sprach, »Ihr beide werdet in zwei Wochen an dieser Schulung teilnehmen und du musst den allerbesten Eindruck machen. Es werden noch andere Prinzen und Prinzessinen und Jungen und Mädchen aus wichtigen Familien daran teilnehmen.«
Bei diesen Worten zog Shaha ihre Nase kraus, es klang einfach zu abartig.
»Es ist sehr wichtig, dass ihr euch gut einfügt.«, er bedachte sie beide mit einem strengen Blick.
»Für jeden Prinzen, dem ihr beim Walzertanzen auf den Fuß tretet, habt ihr was gut bei mir.«, fügte Ellie hinzu. Jamie grummelte, Lottie lachte und Shaha schüttelte nur den Kopf. Ellie war eben einfach Ellie.
Schließlich blickte Jamie auf die Uhr und begann, seine Unterlagen sorgfältig zusammenzupacken, bevor er sowohl Lottie als auch Shaha ein Blatt mit Notizen reichte. »Hier, das müssen wir alles durchgehen, bevor das Etikettetraining startet. Ich bin jetzt mit Raphael zum joggen verabredet. Bis später.«
Shaha horchte auf, sie hatte auch noch etwas zu erlegen. Beim Gedanken an ihr hoffentlich baldiges Training entwich ihr ein Seufzen.
In der Tür blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. »Wenn ihr irgendetwas braucht, gebt mir Bescheid.«, Ellie erntete einen scharfen Blick. »Damit meine ich keine Kaltgetränke fürs Fechttraining!« Die eben genannte Lächelte ihn unschuldig an. »Und Lottie, du solltest versuchen, heute Nacht besser zu schlafen.«
Shaha warf Lottie einen mitfühlenden Blick zu, ehe sie rasch ihr Sachen packte und Jamie hinterher eilte.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top