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Hinter menschlichen Fassaden, steckt nahezu unendlich viel Geschichte;
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"Es war keine Absicht", entschuldigte ich mich sofort bei Esteban und starrte dabei etwas zu lange in seine braunen Augen. Bei genauerem Betrachten fiel mir auf, dass eines heller wirkte, als das andere. Es gefiel mir, was mir wiederum überhaupt nicht gefiel.
"Du solltest besser auf dich aufpassen", sprach er ruhig und nahm seine Hand von meinem Rücken, von der ich völlig vergessen hatte, dass sie sich da befand.
Ich begutachtete nur flüchtig sein schwarzes Hemd und die dazu passende schwarze Anzugshose, um anschließend meinen Mantel zu richten, der von dem Zusammenprall etwas hochgerutscht war.
"Vor wem bist du denn auf der Flucht?", fragte er in die Stille und sofort fiel mir Ronald wieder ein. Ich zuckte bei der Erinnerung an ihn ängstlich zusammen und schaute panisch über meine Schulter, doch er war dem Himmel sei Dank nirgends zu entdecken.
"Love?", riss Esteban mich aus meiner Starre und ich sammelte mich schnell, um ihn gefasst und selbstbewusst wieder anzusehen. Ich wollte auf keinen Fall, dass er etwas von meiner Unsicherheit spürte, wobei sein besorgter Blick mir schon zu genüge verriet, dass er es ahnte.
"Vor niemanden. Ich wollte nur zu meiner Arbeit", erklärte ich mit erhobenem Kinn und wollte schnell an ihm vorbei, doch er streckte seinen Arm aus, sodass er mich nah an seine Seite ziehen konnte.
Meine Atmung setzte kurzfristig aus, während mein Herz anfing unkontrolliert gegen meinen Brustkorb zu hämmern.
Normalerweise schüchterte mich niemand so schnell ein. Seine Aura hatte aber etwas an sich, dass es einem nicht leicht machte, bei ihm und seiner Nähe nicht nervös zu werden. Erst Recht, wenn man sich auch noch von jemanden anderem verfolgt fühlte.
"Hast du nicht etwas vergessen?", flüsterte er nah an mein Ohr und ich hasste es, dass er mir damit eine angenehme Gänsehaut auslöste, die sich über meinen gesamten Nacken erstreckte.
Schüchtern suchte ich seine Augen und versuchte meine Unsicherheit dann mit einem gespielten Lächeln zu verstecken, während ich seinen Atem auf meiner Wange spürte und mich widerwillig in den Tiefen seiner Augen verlor.
"Was meinst du?", kam es nur noch ganz leise über meine Lippen, als hätte ich irgendwo in dem ganzen Chaos meine Stimme verloren.
Ich dachte kurz, seine sonst so ausdruckslosen Mundwinkel zucken gesehen zu haben und wunderte mich darüber. Dann ließ er mich jedoch plötzlich einfach los, um noch ein letztes Mal mit seinem Mund nah an mein Ohr zu kommen.
"Ein einfaches Danke, Love", flüsterte er und wie erstarrt blieb ich stehen, während ich seine schweren Schritte hörte, die sich langsam aber sicher hinter mir entfernten.
Völlig von der Rolle und fassungslos über seine Wirkung auf mich, traute ich mich gefühlte Ewigkeiten nicht, mich zu bewegen.
Das war etwas Neues, so zu empfinden und ich wollte es jetzt schon nicht mehr. Solche Gefühle waren wie Gift - zumindest für mich. Sie lenkten mich ab, forderten zu viel meiner Energie und es war mir lieber, den Männern egal zu sein, als das sie Empfindungen für mich zeigten.
Nachdem ich schließlich die Stille und den kalten Wind um mich herum nicht länger ertrug, lief ich wie in Trance um die nächste Ecke und sah dann schon das All in, das eigentlich mit dem roten Schriftzug hell leuchtete. Dafür war es aber noch zu früh.
Ich klopfte mehrere Male an die schwarze Tür - sah mich dabei immer wieder um und hatte die ganze Zeit über das Gefühl, beobachtet zu werden.
Wahrscheinlich würde ich wirklich noch wahnsinnig werden, aber man sah sicher nicht jede Nacht, wie jemand angeschossen wurde.
"Was machst du-"
Ich ließ Pablo überhaupt nicht ausreden und stürmte aufgebracht an ihm vorbei die Treppen herunter.
Erst, als ich außer Atem an der Theke ankam, nahm ich mir ein Glas und schüttete Whisky ein, um es in einem Zug auszutrinken.
Pablo kam mit gerunzelter Stirn auf mich zu. Er sah dabei immer wieder zwischen mir und dem Glas hin und her und nahm auf einem der Hocker vor mir Platz.
"Was ist passiert?", wollte er wissen, doch ich hatte das Gefühl, ich müsste schnell noch ein Glas trinken, um überhaupt ein Wort herauszubekommen.
Ich knallte die Flasche nach dem Einschenken zitternd auf den Tisch und schaute ihn nachdenklich an.
"Der Mann von gestern, Ronald. Er wurde verletzt", gab ich aufgelöst von mir und biss mir dabei nervös auf meine Unterlippe.
Ich wusste nicht, wie ich Pablo mein Unbehagen gegenüber Ronald ausdrücken sollte. Er hatte nichts gegen Männer, die Frauen wie Schmutz behandelten und ich wusste mit großer Sicherheit, dass er mich wieder zwingen würde, mit ihm nach Hause zu gehen, wenn Ronald es verlangen würde.
"Was meinst du mit »verletzt«?", hakte er mit hochgezogener Augenbraue und lehnte sich ein Stück weiter vor.
"Naja", fuhr ich nervös fort und schaute nur noch auf meine Hände, die ganz ruhig auf dem Tresen lagen. "Wir sind zu ihm nach Hause und dann kam da ein maskierter Mann rein, der ihm in die Hand geschossen hat", erzählte ich mit trockenem Hals und schaute anschließend wieder auf in seine Augen. "Mir hat er nichts getan. Er hatte es nur auf ihn abgesehen."
Pablo wirkte eine Sekunde lang in sich gekehrt und richtete seinen Anzug, um aufzustehen und sich direkt neben mich zu stellen.
"Hat Ronald dich bezahlt?", war seine erste Frage darauf und ich schüttelte verneinend den Kopf, während er seine Hand an meine Wange legte. "Dann ist das nicht unsere Sache."
Seine Iriden huschten über mein Gesicht und ich sah mit angehaltenem Atem noch dabei zu, wie er sich genüsslich auf die Unterlippe biss. "Schade für Ronald, dass eine Nacht mit so einer schönen Frau, so bitter zu Ende geht", flüsterte er mir ins Gesicht und führte seine Lippen anschließend an meinen Hals. Kurz bevor er allerdings meine Haut berühren konnte, kam jemand die Treppe herunter.
"Hey", rief Josh zur Begrüßung, dessen besorgter Blick an meinem hilfesuchenden hängenblieb.
"Hi", brachte ich dankbar heraus und sofort entfernte Pablo sich von mir, um Josh wütend anzufunkeln.
"An die Arbeit", meinte er genervt und verzog sich zu meinem Glück wieder hinter die Bühne, wo sein Büro lag.
"Ich danke dir", flüsterte ich und lächelte Josh entgegen, der mich aber nur streng anblickte.
"Du solltest hier nicht früher hinkommen, als nötig. Ich bin nur hier, weil ich nicht mehr schlafen konnte und noch einiges im Lager zu tun habe", erklärte er und stellte sich dabei vor mich, als würde er mich von allem anderen abschotten wollen, doch das konnte er nicht.
"Ich konnte auch nicht schlafen", erwiderte ich ihm und atmete tief durch, während ich mir noch ein Glas einschenkte.
"Du könntest mir einfach mal sagen, wo du wohnst, dann-"
"Nein, Josh", unterbach ich ihn sofort und schaute ihn dabei flehend an. So oft wollte er schon wissen, wo ich wohne, doch niemand wusste es und das sollte auch so bleiben.
"Alles klar", murmelte er wie ein kleiner Welpe und ging dabei an mir vorbei. Schon tat es mir wieder leid, so zu ihm zu sein.
Genau das meinte ich. Lieber wurde ich benutzt, als mich so schlecht zu fühlen.
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