34 | v i e r u n d d r e i ß i g

[i love you – Billie Elish]

DIE SONNE STEHT hoch am Himmel und es ist angenehm warm. Vögel zwitschern und die ersten Blumen beginnen zu blühen. Es ist ein richtiger Frühlingstag und die Luft richt so gut und frisch, dass ich erstmal stehen bleiben muss, um tief einzuatmen.

Ich stecke mir Kopfhörer ins Ohr und öffne den Reißverschluss meiner Jacke. Ich glaube, in Zukunft kann ich sie zuhause lassen. Ein Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht.

Ich liebe den Frühling.

Auf meinem Handy wähle ich meine Lieblingsplaylist aus und kehre dem blauen Gebäude den Rücken zu.

Die erste Therapiestunde war viel besser, als ich es für möglich gehalten habe. Die Frau ist eine etwas ältere Dame mit bunten Klamotten, die mir einen Tee gemacht hat und dann saß ich auf einer richtig bequemes Couch und habe ihn geschlürft.

Wir haben erstmal belangloses Zeug geredet, aber nach einer Zeit wurde es auch ernster. Ich glaube nicht, dass ich mich gleich ganz öffnen kann, aber ich denke, dass es vielleicht mit der Dauer irgendwann gehen wird. Auch weiß ich, dass es mir jetzt nicht sofort besser gehen wird und meine Probleme verschwinden werden, aber vielleicht wird es bald einfacher. Ich hoffe es.

Das Gebäude ist nicht weit weg von meinem neuen Zuhause, weswegen ich mich dazu beschlossen habe, es immer mit einem gemütlichen Sparziergang zu verbinden. Ich glaube, es tut mir gut, zu laufen und einfach ein bisschen nachzudenken. Für mich zu sein.

Letzte Woche war die Gerichtsverhandlung und alles hat so gut geklappt, wie ich es erhofft habe. Lou, Mason und auch Zara waren als Zeugen dort und alle drei anderen Opfer haben unfassbare Stärke erwiesen und ihre Geschichte erzählt. Auch ich musste dies natürlich tun und es war furchtbar, alles nochmal zu wiederholen. Aber ich habe es geschafft. Wir alle haben es geschafft. Und Cade hat ein paar lange, verdiente Jahre aufgebrummt bekommen.

Mittlerweile bin ich zuhause angekommen und schließe die Tür auf. Im Aufzug schaue ich mit Absicht nicht in den Spiegel, da dies mir nach wie vor schwer fällt.

Im Wohnzimmer treffe ich auf Talia, Marissa und Owen – der bei uns wirklich ein und aus geht –, die zusammen eine Serie schauen und jede Menge Essen vor sich haben. Vor Talia steht wie immer ein starkes Alkoholgetränk und es erinnert mich wieder daran, dass auch sie mit ihren eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Aber wer hat das nicht? Und ich weiß, dass sie ebenfalls Hilfe bekommt. Trotzdem ist alles nicht einfach. Ganz und gar nicht.

»Hey, Syd! Mason hat mir grad geschrieben, dass er auf dem Weg hierher ist, er hat dich nicht erreicht«, begrüßt mich Talia.

Ich schaue auf mein Handy und erblicke tatsächlich zwei verpasste Anrufe von ihm. Ich hatte mein Handy auf dem Heimweg auf »nicht stören«.

»Willst du auch ein Stück Pizza?« Marissa klopft neben sich und ich setzte mich. Hungrig greife ich nach einem und beiße rein.

»Ich liebe diese Stelle! Jetzt müsst ihr zuhören!« Owen zeigt aufgeregt auf den Fernseher. »Ah, habt ihr gehört? Er hat ihr endlich seine Liebe gestanden!«

Ich lache. »Wie oft hast du das schon geguckt, Owen?«

Er wedelt mit der Hand. »Keine Ahnung. Oft. Oh, schaut! Dieser Kuss ist der beste von allen!«

Talia, Marissa und ich sehen uns an und prusten los.

Und plötzlich habe ich ein warmes Gefühl in der Brust. Ein Gefühl, dass mir zuflüstert: Es wird alles gut.

Ja, es wird alles gut. Es muss einfach.

Nach einer weiteren Folge, die Owen in derselben aufgeregten Stimmfarbe kommentiert, klingelt es und ich stehe auf.

Mason begrüßt mich mit einem zärtlichen Kuss, der die Schmetterlinge in meinem Magen zum Flattern bringt. »Hey«, flüstert er an meinem Mund ich grinse ihn an.

Dann huscht mein Blick zu seiner Hand, in dem er einen wunderschönen Strauß Blumen hält und der mich wieder an das erinnert, was wir heute vorhaben. Das Lächeln rutscht wieder aus meinem Gesicht.

Er scheint meine Panik zu spüren, denn sofort legt er seine freie Hand auf meine Wange und schaut mich sanft an. »Du schaffst das. Ich bin die ganze Zeit bei dir, okay?«

Ich nicke verkrampft, rufe den anderen Abschiedsworte zu und schlüpfe in meine Schuhe.

Mason nimmt wie selbstverständlich meine Hand, als wir diesmal die Treppe nach unten nehmen, und verflicht sie mit seiner.

Im Auto bin ich ich still und lege meinen Kopf an die Fensterscheibe. Mason schaltet das Radio an und lenkt mich damit etwas ab.

Als das Friedhofstor in mein Sichtfeld tritt, wird mir ganz flau. »Ich packe das nicht«, stoße ich hervor.

Mason parkt den Wagen, schnallt sich ab und lehnt sich über die Mittelknsole zu mir rüber. »Wenn du nicht willst, drehen wir sofort um. Aber ich bin da, Sydney. Wir können das durchziehen.«

Ich schaue auf die Fläche voller Grabsteine vor mir und ein Schauer läuft über meinen Rücken. Ich war seit ihrer Beerdigung nicht hier.

Ich konnte einfach nicht.

Aber jetzt ... doch, ich bin bereit. Ich muss es tun.

Zitternd greife ich nach der Klinke und öffne die Tür. Obwohl es draußen warm ist, fröstle ich, als ich das Auto verlasse.

Mason folgt mir und verschränkt die Hand mit meiner. Zusammen betreten wir den Friedhof und gehen schweigend zwischen den Gräbern hindurch.

Ihr Grab liegt etwas weiter weg unter einem Haselnussbaum. Dad und ich haben uns diese Stelle gemeinsam ausgesucht, weil wir dachten, dass sie ihr gefallen würde.

Der Grabstein ist ovalförmig und aus einfachem, groben Naturstein. Ihr Name steht schlicht in Messingbuchstaben darauf, ein kleines Kreuz ist darunter gezeichnet.

Moos hat den Stein bewachsen, aber ich mache es nicht weg. Es sieht sogar schön aus und ich denke, dass sie es mögen würde.

Die Erde des Grabes ist wider meiner Erwartungen nicht leer, sondern mit bunten Pflanzen bestückt. Ich frage mich, ob ein Friedhofswächter sich um die verlassenen Gräber kümmert, aber dann fällt mein Blick auf die violetten Veilchen. Die Lieblingsblumen meiner Mutter.

Das heißt, Dad kommt regelmäßig hierher und kümmert sich um das Grab.

Ein Kloß bildet sich in meinem Hals und mein Blick wird von einem Tränenvorhang verschleiert.

Ich hocke mich auf die Knie und lege die Hände an die Veilchen. Die Tränen rinnen nun meine Wangen hinab.

»Tut mir leid, dass ich so lange nicht hier war, Mom«, flüstere ich leise und schaue auf die Buchstaben ihres Namens. »Mir ging es nicht so gut, aber ich mache Fortschritte.« Ich lächle schwach. »Ich war erst wütend darüber, dass du mir nie die Wahrheit gesagt hast, dass Dad gar nicht mein Vater ist. Aber ich glaube, jetzt bin ich einfach nur noch froh. Wir waren eine tolle kleine Familie und wenn ich an die Erinnerungen zurückdenke, dann ist da nur Glück. Danke, dass du das ermöglicht hast, indem du nichts gesagt hast.

Allerdings war es auf der anderen Seite nicht fair gegenüber mir und meinem Nicht-mehr-Vater. Ich wünschte, du wärst da, um die Situation zu entschärfen.« Ich seufze und fahre mit den Fingern über den Randstein des Grabes. »Aber es wird besser.«

Mason kniet sich zu mir und legt die Blumen aufs Grab. Sie fügen sich toll in die bunte Pracht ein.

Minutenlang bleiben wir still sitzen und schauen auf die Blüten. Ich bin überwältigt, die Tränen laufen immer noch über mein Gesicht und mein Herz klopft schnell.

Aber ich bin auch froh, dass ich hier bin. Und weiß, dass es mir in Zukunft leichter fallen wird, wieder zu kommen.

Mit zitternden Händen umgreife ich Masons Arm und hake mich bei ihm unter. Vorsichtig zieht er uns beide wieder auf die Füße und küsst mich auf den Scheitel. »Das hast du toll gemacht, Sydney. Ich bin stolz auf dich.« Er guckt mich liebevoll an und mein Inneres wird warm. Es ist schön, wenn jemand immer hinter einem steht und Unterstützung gibt. Mason ist mein Fels in der Brandung.

»Ich liebe dich Mason. Und ich hoffe, dass ich irgendwann verstehen werde, warum du mich liebst«, sage ich leise und drehe mich zu ihm.

Er lächelt mich sanft an und gibt mir einen zarten Kuss. »Du wirst es. Du arbeitest an dir und du wirst Erfolge erzielen, Sydney. Irgendwann wirst du es verstehen.«

Ich nicke und lächle ihn an. »Danke, dass du heute mitgekommen bist.«

»Ich gehe überall mit dir hin.«

»Mom, hast du das gehört? Kitschiger geht's ja gar nicht.« Wir lachen und als wir zurück laufen, legt er den Arm um mich und umschlingt mich so fest, wie ich es gerade brauche.

***

Mason fährt uns zu sich nachhause und muss noch ein paar Sachen im Haushalt erledigen, um die seine Eltern ihn gebeten haben. Ich biete ihm an, zu helfen, aber er verneint streng und lässt mich auf seinem Bett zurück, damit ich mich ausruhe.

Ich setzte mich im Schneidersitz auf seine Decke und hole mein Handy aus der Tasche. Ohne darüber nachzudenken, schreibe ich meinem Vater eine simple Nachricht: Die Blumen bei Mum sind schön. Vor allem die Veilchen.

Dann schließe ich die Nachrichtenapp und lege mich auf den Rücken, den Blick starr zu Decke gerichtet.

Keine Fünf Minuten später kommt ein helles Bling und ich greife im Liegen wieder nach meinem Handy. Dad hat die Nachricht gelesen, aber nicht zurückgeschrieben.

Stattdessen ist eine Mail von ihm eingetrudelt.

Ich öffne sie argwöhnisch und kann dann meinen Augen kaum trauen.

Im Anhang: Vertrag_Volljährigkeit_Sydney.Clarke.Johnson.pdf,

steht da in fetten Buchstaben.

Mein Vater hat unterschrieben.

Ich springe auf. Mein Herz zerspringt in meiner Brust und dann juble ich, tanze wie wild im Zimmer herum. Ich habe es geschafft! Ich bin endlich raus!

Mason kommt verwundert ins Zimmer und sofort werfe ich mich in seine Arme. Er lacht über meine gute Laune. Strahlend halte ich ihm mein Handy hin.

Seine Augen weiten sich und dann beugt er sich vor und küsst mich. Er lehnt seine Stirn an meine und murmelt: »Du kannst endlich aufhören zu kämpfen, Sydney.«

Ich umschließe sein Gesicht mit meinen Händen und drücke ihm viele kleine Küsse auf seine Lippen, seine Wangen, seine Nasenspitze. Er lacht amüsiert. »Ich habe es geschafft.« Wieder wirble ich herum und ziehe ihn mit mir.

Er dreht mich einmal um meine eigene Achse und umarmt mich dann fest und stark.

Noch an diesem Abend löse ich den Vertrag mit der Gen-Klinik und das Geschäft mit meiner Agentin, spreche bei ihr noch einmal meinen Dank aus. Sie versichert mir, all meine Aufträge zu canceln und wünscht mir ein schönes Leben.

Und ich hoffe inständig, dass es ab jetzt wirklich nur noch schön wird, für eine lange, lange Zeit.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top