33 | d r e i u n d d r e i ß i g

[kids – current joys]

»WANN WARST DU bei der Polizei, Syd? Und warum alleine? Ich hätte für dich da sein sollen.« Mason sieht mich nicht an, seine Finger umschließen fest das Lenkrad, sodass die Knöchel weiß hervortreten.

Ich kann ihm seine Spannung nicht verübeln, denn was da drinnen abgegangen ist, war einen verdammten Oscar wert. Wenn nicht sogar zwei. Und zwar wegen meiner Verdienste.

Seufzend schlinge ich das dünne Jäckchen enger um meinen Oberkörper und starre aus dem Fenster in die Nacht hinein. Mich fröstelt es. »Es war ... spontan.« Und dann erzähle ich ihm alles.

Gestern habe ich nach der wiederholten Sache mit Cade also sofort die Schule verlassen. Ich bin direkt zum Club gefahren und tatsächlich, da war sie. Zara. Erst wollte ich nicht mit ihr reden, weil ich nur daran denken konnte, was sie zugelassen hat, aber dann habe ich es doch getan.

Ich setzte mich zu ihr und sie war eine ganze Weile erstmal still. »Wir müssen reden«, sagte ich.

Sie sah mich aus großen, glasigen Augen an. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie in Tränen ausbrechen würde. »Sydney ... Ich werde mir niemals selbst verzeihen können, das musst du wissen.« Ihre Stimme war schwach.

Ich schloss kurz die Augen, um die Wut in Schach zu halten und atmete durch. Sie hatte schlimme Fehler gemacht, aber sie wurde auch manipuliert von Cade. Schließlich hat sie es aus Liebe gemacht, was zwar total krank war, aber auf eine verzogene Weise auch wieder Sinn ergab. Alles, was sie wollte, war, dass er sie genau so liebte, wie sie ihn. Sie tat mir sogar aufrichtig leid. Trotzdem würde dies Alles niemals entschuldigen, was sie mir angetan hatte.

»Ich bin nicht hier, um dich fertigzumachen«, meinte ich schließlich und eine Träne kullerte auf ihrer Wange hinab. »Tatsächlich brauche ich Informationen von dir.«

»Alles, was du willst«, stieß sie hervor.

So, wie sie dort saß, zusammengekauert, weinend, gebrochen ... Das war nicht die fiese Zara, die ich kannte. Das war ein tief verzweifelndes Mädchen. Wieder meldete sich der Mitleid bei mir.

»Gut, hör zu ... Ich möchte Cade anzeigen. Ich will, dass er leidet, Zara. So richtig. Und du wirst mir sagen, ob er es schon anderen Mädchen angetan hat. Ob er es bei ihnen auch beendet hat.« Ich faltete die Hände auf dem Tisch.

Sie hatte aufgehört zu weinen und starrte mich fassungslos an. Ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund stand offen. »Dabei kann ich dir nicht helfen«, flüsterte sie.

Mit so etwas hatte ich gerechnet. Ich beugte mich vor und sah sie eindringlich an. »Ich weiß, dass du ihn liebst und dass es dir wehtut ... Aber merkst du nicht, was für schlimme Dinge er tut? Bitte, Zara, hilf mir.« Das Flehen in meiner Stimme war nicht zu überhören.

Sie kaute an ihrer Lippe herum und senkte den Blick. Schließlich sagte sie tonlos: »Er hatte eine Liste auf seinem Handy. Ich weiß nicht, wie man so doof sein kann, aber er war es. Sie hatte keine Überschrift mit ... du weißt schon. Aber es waren drei Namen. Und deiner stand auch schon darunter. Da wusste ich, was es ist.« Sie sah nicht auf. »Ich habe sie mir über AirDrop geschickt, weil ... keine Ahnung. Ein Impuls. Ich schicke sie dir.« Sie wagte nicht, noch einmal in mein Gesicht zu sehen.

Also stand ich einfach auf und wandte mich zum Gehen. Tränen trieben sich in meine Augen. »Danke«, flüstere ich.

Bevor ich außer Hörweite war, hörte ich sie etwas leise sagen. »Wird es aufhören? Der Schmerz, meine ich.«

Ich drehte mich wieder zu ihr um und ging zurück, bis ich direkt vor ihr stand. Sachte nahm ich ihre Hand und drückte sie. »Ja, Zara. Auch du wirst deinen Frieden finden.« Sie schaute mich ausdruckslos an. Ihr Blick war leer. »Falls es dir hilft ... Ich verzeihe dir.« Ich wusste selbst nicht ob es stimmte, aber ich hatte in dem Moment das Gefühl, dass es das Beste für uns beide sein würde, es auszusprechen.

Ganz schwach und langsam warf sie mir ein Lächeln zu, dann ging ich.

Keine zwei Minuten war die Liste bei mir eingetrudelt.

***

Mit meinem Handy, meinem Laptop und einem Kaffee setzte ich mich auf mein Bett und fing an, die drei Mädchen ausfindig zu machen. Zwei waren ebenfalls von meiner Schule und das Letzte jemand, der auch in Zaras Kreisen verkehrte.

Die Telefonate waren eins der schlimmsten Dinge, die ich jemals getan hatte. Zwei von dreien weinten am Telefon und die dritte war so kurz angebunden und gefasst, dass ich durch das Handy beinahe ihren unterdrückten Schmerz spüren konnte. Ich wollte mir gar nicht ausmahlen, wie es ihnen ging. Bei ihnen kam schließlich niemand dazwischen. Die drei würden für immer mit diesem Trauma leben müssen.

Ich hasste Cade so sehr, dass ich mir seinen Tod wünschte. Aber davor sollte er Höllenqualen erleiden. Ich wollte, dass er die schlimmste Art der Folter abbekam, was auch immer diese sein mochte.

Alle drei Mädchen waren damit einverstanden gewesen, dass ich ihn anzeigte. Sie sagten, dass sie es sich vorher einfach nicht getraut hatten, weil in so vielen Fällen das Opfer gegen den Vergewaltiger wegen fehlender Beweise verlor. Aber jetzt waren wir zu viert. Zwei von ihnen wollten nicht selbst aussagen, sondern erst, wenn man sie wirklich befragte, was später auch passierte, und die dritte meinte am Ende des Telefonats zu mir, dass sie direkt heute Abend die Polizei anrufen und ihr alles erzählen würde.

Nach meinen drei Gesprächen saß ich zwei Stunden reglos auf dem Bett und weinte. Aus Hass, aus Schmerz und aus Mitleid für die Mädchen.

Schließlich trank ich meinen Kaffee aus, packte mein Handy ein und fuhr direkt zur nächsten Polizeistation. Eine junge Polizisten war für mich zuständig und hörte mir aufrichtig zu. Sie schrieb mit, gab mir Taschentücher, als ich wieder in Tränen ausbrach, und sprach mir am Ende Kraft zu. Sie nannte mich mutig, dafür, dass ich es gesagt hatte.

Dann meinte sie, sie müsse mit den anderen Opfern reden und müsse den Fall überprüfen. Dabei sah sie sehr bedauernd aus. Ich teilte ihr mit, dass eine der drei sie diesen Abend noch anrufen würde und dass die anderen auch kooperationsbereit waren.

Als Zeugin nannte ich Zara und wusste, dass sie mir helfen würde. Auch Mason und Lou gab ich an und beschloss, darüber später mit ihnen zu reden.

Lou hatte ich schon ein paar Tage nicht gesehen und deshalb piepste ich sie direkt nach der Anzeige an und fragte, wie es ihr ging. Wir schrieben eine ganze Weile, dann fuhr ich zurück nachhause. Dort erzählte ich niemanden etwas.

Die Polizisten rief mich später am Abend noch an und fragte mich, wo sie Cade am nächsten Tag antreffen können, sie sein fast fertig mit der Überprüfung und es sei fast sicher, dass er festgenommen würde.

Ich antwortete, dass er den ganzen Tag morgen in der Schule sei und sie meinte, dass es sich dann wohl nicht vermeiden ließe, eine öffentliche Festnahme vor den Schülern zu machen.

Ich fand das weniger schlimm. Sollten sie doch alle erfahren, was für ein Wichser er in Wirklichkeit war.

Es kam mir besser vor, Mason und den anderen erstmal nichts davon zu erzählen. Sie hätten sofort ihre Hilfe angeboten und wie sehr ich diese auch wertschätze, musste ich das alleine machen. So hat es sich richtig angefühlt.

Mason sieht mich ausdruckslos an, als ich meine Erzählung beende und ich erwidere seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

Schweigend dreht er sich weg und parkt das Auto aus. Erst, als wir schon eine Weile fahren, sagt er in die Stille hinein: »Ich bin stolz auf dich. Aber ich hätte es trotzdem besser gefunden, wenn du mir etwas gesagt hättest.«

»Ich weiß«, murmle ich. An seiner Stelle ginge es mir wahrscheinlich genauso.

»Es wird ein Gerichtsverfahren geben, Sydney. Bist du dafür bereit? Nochmal auszusagen, vor dem Gesetz?«

Ich schlucke. Daran habe ich auch schon gedacht. »Es wird schwer werden, aber ja, ich packe das.«

Kurz wirft mir Mason einen Blick zu, auf seinen Lippen ein sanftes Lächeln.

Als wir an der Straße vorbeifahren, wo es zu meinem alten Zuhause geht, weiß ich plötzlich, dass ich noch etwas zu erledigen habe. »Mason? Könntest du mich bei meinem ... Zuhause raus lassen?«

Ich sehe, wie Mason fest schluckt und seine Augen fangen meine. Sicher?, scheinen sie zu fragen. Ich nicke fest.

Als wir in meiner Einfahrt parken, dreht er sich mit dem ganzen Körper zu mir und nimmt meine Hände in seine. »Soll ich mit rein kommen, Sydney?«

»Nein, wohl besser nicht.« Ich seufze und starre auf die Tür. »Ich weiß ja nicht mal, ob ich Erfolg haben werde.«

»Ich schwöre, wenn ich irgendeinen lauten Ton höre, dann komme ich sofort rein und –«

Ich küsse ihn und drücke seine Hände. »Danke.« Dann fällt mir etwas ein und ich krame in meiner Tasche herum. Nach einer Weile hole ich die Tablettendose heraus und gebe sie ihm. »Die solltest du für mich entsorgen.« Ich räuspere mich. »Und hattest du nicht gesagt, du würdest mir mit einem Therapieplatz helfen?«

Er lächelt über beide Ohren, wie ein Honigkuchenpferd. Schnell drückt er mir einen stürmischen Kuss auf den Mund. »Ich helfe dir mit allem, Sydney.«

Ich lächle zurück, wenn auch nicht so stürmisch, und steige aus dem Auto.

Als ich die Tür aufmache, wird mir ganz schwindelig. Mein Vater muss in der Küche sein, aber ich gehe direkt daran vorbei, die Treppe hoch, zu meinem Zimmer. Der Anblick haut mich um und ich muss mich erstmal aufs Bett setzten.

»Sydney?«, höre ich meinen Vater von unten. »Bist du das?«

Ich erhebe mich und gehe zu den Wänden hinüber, an denen jede Menge Fotos von mir, Clary, Dad und Mom hängen. Entschlossen nehme ich sie herunter, ziehe einen Koffer aus dem Schrank und lege sie hinein. Auch die letzten Klamotten, die ich hiergelassen habe, folgen ihnen. Altes Spielzeug, das in der Kommode verstaubt, alte Malbücher und Schulsachen schmeiße ich ebenfalls hinein. Bis mein Zimmer ganz leer ist.

Mein Vater tritt in die Tür. Ich schaue ihn nicht an, sondern setzte mich auf das Bett und nehme den Kuschelhasen vom Nachttisch, den mir meine Mom geschenkt hat. Tränen laufen mir über das Gesicht, als ich ihn an mich drücke. Oh, ich vermisse sie so, so furchtbar.

Die Matratze senkt sich, als sich mein Vater neben mich setzt.

»Der war von ihr«, schluchze ich und deute auf den Hasen.

»Ich weiß«, brummt er und ich höre den Schmerz in seiner Stimme.

Vorsichtig drehe ich mich zu ihm und sehe ihn an. »Vermisst du sie?«

Er schluckt. »Ja, natürlich. Natürlich, verdammt.« Er reibt sich mit den Händen übers Gesicht. »Ich war krank vor Sorgen, du hast dich nicht gemeldet. Ich habe dich pausenlos angerufen.«

Ich presse die Lippen zusammen. »Ich habe deine Nummer blockiert«, gebe ich ehrlich zu.

Er sagt nichts. Er wird nicht sauer. Stattdessen geht er zu meinem Koffer herüber und holt eins der Fotos heraus, auf dem Mom, er und ich drauf sind. Es war kurz vor ihrem Tod. Schweigend kommt er zurück zum Bett und setzt sich neben mich. »Für mich warst du immer das schönste Mädchen der Welt«, wispert er jetzt.

Ich schluchze und wende mich von ihm ab. Wie kann er sowas sagen? Er hat unverzeihliches getan. Nie wieder werde ich ihm verzeihen. Aber ich vermisse ihn so schrecklich. Und sie.

»Ich werde ausziehen. Für immer. Ich werde meine eigenen Entscheidungen treffen. Und wenn dir noch etwas an mir liegt, dann wirst du mich gehen lassen. Ich maile dir ein Dokument zu, dass uns beiden dazu verhilft.« Den Stoffhasen fest an mich gedrückt schließe ich den Koffer und schleppe ihn die Treppe hinunter.

Mein Vater folgt mir, aber sagt kein Wort. Unten angekommen schlüpfe ich in meine Schuhe und sehe ihn ernst an. »Bitte.«

Noch immer hält er das Foto in der Hand. Er will es mir geben, aber ich wehre ab. »Behalte es. Du brauchst es dringender als ich. Vielleicht wäre jetzt der richtige Augenblick, mit dem Trauern anzufangen und zu überdenken, was du getan hast.« Ich schließe schmerzerfüllt die Augen und öffne die Tür.

Gerade, als ich hinausgehen will, höre ich ihn sagen: »Sydney, deine Mom und ich haben sich deinen ersten Schulball immer ganz besonders vorgestellt. Dass wir ganz viele Fotos von dir machen und dir beim Fertigmachen helfen. Dass wir dein Date kennenlernen und dann die ganze Nacht gespannt auf dich und deine Erzählungen warten. Leider ist alles anders gekommen. Ich habe versagt.«

Ich schließe die Tür und gehe mit tränenverschleiertem Blick zurück zum Auto.

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