30 | d r e i ß i g

[home - Tom Rosenthal]

DAFÜR NIMMT CLARY ab. Und zwar nach dem ersten Freizeichen.

Keine zehn Minuten später sitze ich in ihrem Auto und erzähle ihr die ganze Geschichte, auch wenn ich es immer noch nicht richtig fassen kann.

Sie hört mir stumm zu, streichelt mir hin und wieder unterstützend über den Rücken und gibt mir genau den Rückhalt, den ich brauche. Sie ist da für mich und das bedeutet mir die Welt.

Auch sie ist schockiert und braucht einen Moment, um das Ganze zu realisieren. Aber sie hat sich schnell wieder im Griff und redet beruhigend auf mich ein, als ich eine Heulattacke nach der anderen bekomme.

Ich habe nicht bemerkt, wo wir hinfahren, bis sie auf den Parkplatz einer High-School parkt und den Motor abwürgt.

Durch meine Tränen blinzle ich sie fragend an. »Was tun wir hier?«

Sie deutet auf das Gebäude. »Das ist Masons Schule. Er hat heute ein wichtiges Football-Spiel und wollte erst nicht gehen, um für dich da zu sein, wenn du von deinem Vater wiederkommst. Aber wir alle haben ihn gezwungen, zu spielen und er hat erst eingeknickt, als wir gesagt haben, dass du es aber so wollen würdest.«

Ich lächle dankbar. »Ja, tatsächlich hätte ich das. Er liebt das Spielen.«

Clary nickt und eine Weile bleiben wir stumm im Auto sitzen. »Ich dachte, du willst vielleicht bei ihm sein«, erklärt sie dann und dreht den Kopf zu mir.

»Ja, das wäre schön.« Ich wische mir mit dem Handrücken über die Augen. Als ich mich im Rückspiegel betrachte, stelle ich befriedigend fest, dass sie doch tatsächlich rot und geschwollen sind. Immerhin etwas. Ich greife nach der Türklinke, doch bevor ich aussteigen kann, hält mich Clary am Ärmel fest.

»Was willst du jetzt tun, Syd?«

Ich weiß sofort, dass sie nicht genau diesen Moment gerade meint, sondern wie es generell weitergehen wird. Schluckend zucke ich mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, wispere ich.

Clary nickt verständnisvoll und auch in ihren Augen schimmern Tränen. Dann lässt sie mich los und richtet sich nach vorne. »Mason kann dich ja nach dem Spiel mitnehmen. Ich muss etwas erledigen.«

»Okay.« Ich zögere. Bevor ich aussteige, muss ich noch dringend etwas los werden. »Clary ... es tut mir leid, dass es momentan so viel um mich geht.«

Sofort schnellt ihr Kopf herum. »Syd, wehe du entschuldigst dich noch einmal dafür! Ich bin immer für dich da, hörst du? Und wenn gerade alles für dich schwierig ist, dann bist du Priorität. Du würdest doch genauso handeln, wenn ich an deiner Stelle wäre.«

Ja, das würde ich. Ich würde wahrscheinlich alles auf dieser Welt für sie tun.

Gerührt erwidere ich ihren Blick, dann verlasse ich das Auto und schaue ihr nach, bis sie davon gefahren ist.

Schwer seufzend drehe ich mich um und gehe auf das Gebäude zu. Es ist nicht schwer zu erahnen, wo das Spielfeld liegt, denn der Jubel schallt bis zu mir hier herüber. Ich umrunde die Schule und erblicke den frischen, grünen Rasen, auf denen die zwei Mannschaften wortwörtlich aufeinander losgehen.

Schnell husche ich auf die Tribüne, lasse mich auf einem freien Platz ganz an den Rand nieder und sehe mich um.

Das Spiel ist gut besucht, jede Menge Schüler und Schülerinnen sitzen hier oben und starren mit gespannten Mienen auf das Feld hinab. Manche von ihnen tragen Klamotten mit Schullogo und jubeln durchgehend, andere schauen eher still zu. Ein paar Mädchen, die eine Reihe schräg hinter mir sitzen, mustern mich bei meiner Ankunft und tuscheln dann kurz.

Ich ignoriere sie und konzentriere mich auf das Spiel. Erst nach einer Weile erkenne ich Mason, der in seinem Trikot wirklich verdammt gut aussieht. Ich spüre, wie die Schmetterlinge sich in meinem Bauch regen und lächle, weil das mich endlich von allem anderen ablenkt. In mir breitet sich eine angenehme Ruhe aus, die ich immer habe, wenn ich bei ihm bin.

Er ist mein sicherer Platz. Mein Wohlfühlort.

Und als ich da auf der Tribüne sitze und ihm bei einer seiner Leidenschaften zusehe, wird mir dies so sehr bewusst, dass es fast wehtut. Aber es ist kein unangenehmer Schmerz. Er ist bittersüß, doch er zerreißt mich fast.

Ich habe Angst, ihn zu verlieren. Er bekommt immerzu meine ganze Scheiße mit, das muss doch ätzend für ihn sein. Ich könnte mir vorstellen, dass er irgendwann keine Lust mehr auf das Alles hat und abhaut. Und ich könnte es ihm nicht mal verübeln.

Mein Herz möchte bei diesem Gedanken zerspringen. In winzige, kleine Teile.

Genau in diesem Moment wird der Himmel dunkler und es beginnt, zu regnen. Erst nieselt es nur, aber innerhalb weniger Minuten regnet es stärker und meine Kleidung wird nass. Um mich herum werden Regenschirme aufgespannt oder die Jugendliche fliehen von den Tribünen, irgendwohin, wo es ein Dach gibt.

Aber mich kümmert der Regen nicht. Alles, was ich sehe, ist Mason. Mason, dessen Haare nass in seiner Stirn kleben. Mason, dessen Gesicht zu einer konzentrierten Miene verzogen ist. Mason, der mit den anderen zusammen auf die Gegner zurennt. Mason, der den Ball erwischt. Mason, wie er rennt. Mason, dessen Augen leuchten, als er einen Punkt macht. Mason, wie er seinen Kopf in den Nacken legt und strahlt. Von einem Ohr zum anderen. Er sieht wunderschön aus. Nicht nur heiß oder charmant. Nein. Richtig schön.

Und in diesem Moment kapiere ich es.

Ich kapiere, dass das Gefühl, was ich für ihn habe, so tief geht, wie ich es noch nie hatte. So tief, dass ich nie wieder etwas anderes fühlen will.

Das Spiel wird abgepfiffen. Ich glaube, Masons Mannschaft hat gewonnen, aber ganz sicher bin ich nicht. Die Menge um mich herum jubelt ausgelassen. Mason klatscht sich mit seinen Freunden ab und sie stecken kurz die Köpfe zusammen. Immer noch strahlt er.

Ich bin mir sicher, dass er mich in diesem Moment vergessen hat. Sonst wäre sein Gesicht sorgenverzerrt und seine Augen dunkel. Und ich finde es gut. Es macht mir keinen Spaß, dass er die ganze Zeit nur besorgt ist, wenn er bei mir ist.

Keine Ahnung, an welchem Punkt meiner Gedanken ich aufgestanden bin. Aber jetzt laufe ich die Tribüne hinab, dränge mich an den anderen Menschen vorbei und betrete schließlich das Spielfeld.

Mason sieht mich sofort. Und dann passiert das, was ich schon dachte. Sein Lächeln verschwindet. Seine Stirn liegt in Falten. Er mustert mich; er sieht meine geröteten Augen. Womöglich weine ich sogar in diesem Moment. Ich weiß es nicht. Ich bin so unglaublich durcheinander. Mein ganzes Leben wurde in den letzten Stunden aus den Angeln gehoben, wie soll man da überhaupt reagieren?

Er kommt sofort auf mich zugelaufen, seine Augen sind warm; alles an ihm strahlt dieses beschützendes Gefühl aus. Schutz für mich.

»Sydney, was ist passiert?« Er muss nicht fragen. Er weiß, dass etwas passiert ist. Er nimmt meine Hände und drückt sie. Kurz habe ich Angst vor seiner Berührung und muss an Cade denken, aber dann verschwindet dieses Gefühl wieder.

Das hier ist Mason. Mein Mason.

Seine Finger sind nass vom Regen und vom Schweiß. Aber sie sind warm und tröstend. Er sollte mich nie wieder loslassen.

»Mason, du bist nicht glücklich, wenn du bei mir bist. Ich bringe dich dazu, immer nur besorgt zu sein, ich gebe dir meine ganze Last mit auf den Weg, so viel Scheiße, die du gar nicht tragen musst. Ich will, dass du glücklich bist, ich will, dass du immer so lächelst, wie du beim Spiel gelächelt hast und nicht, dass du diese Falten auf der Stirn bekommst und ...« Ein Schluchzen bricht aus meiner Kehle und stoppt meinen wirren Redefluss.

»Sydney, stopp.« Sanft lässt Mason eine meiner Hände los und legt seine Finger an meine Wange. »Das ist nicht wahr«, sagt er leise. »Du machst mich glücklich. Ich empfinde deine Probleme nicht als Last, ich möchte dir helfen, damit auch du glücklich bist. Mir tut es weh, wenn du leidest, Sydney. Und, ja, ich bin besorgt. Aber das heißt nichts schlechtes. Besorgnis kann man nur für einen Menschen empfinden, der einem wichtig ist, verstehst du?«

Wieder schluchze ich auf, aber bei seinem liebevollen Blick, mit dem er genau in meine Augen sieht, kann ich nichts anders, als ihm zu glauben. Und es nimmt mir eine riesengroße Last ab, seine Worte gehört zu haben. Ich habe es gebraucht. Ich hatte so schreckliche Angst, dass er das Alles nur nervig findet, dass er mich einfach nur heiß findet und mehr nicht, dass er genauso ist, wie alle anderen, dass er geht, dass er ...

»Sydney, ich liebe dich.«

Meine ganze Welt explodiert. Ich bin nicht mal sicher, ob das gut oder schlecht ist. Da ist nur dieses überwältigende Gefühl in mir, dass in jeden Winkel meines Körpers strömt und meine Gliedmaßen zu weichem Pudding macht. Und dann fange ich erst richtig an zu heulen.

Als ich den Kopf hebe, tropft der Regen von meinen Haaren auf mein Gesicht und vermischt sich mit meinen Tränen. »Du kannst ... nicht ...«, würge ich hilflos hervor und schüttle den Kopf. Er kann mich nicht lieben, keine Frage. Ich glaube ihm kein Wort. Plötzlich bekomme ich Panik. »Warum?«, stoße ich hervor. »Weil du dich in mein Aussehen verliebt hast?« Die Wut spricht aus mir. »Weil ich ein heißes Model bin? Ernsthaft, Mason? Ist das Liebe für dich? Ein perfektes Mädchen zu lieben ist bestimmt einfach, aber das bin ich nicht.« Ich schluchze und er starrt mich entsetzt an.

»Sydney, verdammt, was redest du da? Ich liebe nicht dein Aussehen, ich liebe dich! Ich liebe das Mädchen in dir drinnen!« Er legt seine Hand auf mein Herz und schüttelt fassungslos den Kopf. »Und nein, du bist kein perfektes Mädchen, Sydney. Du hast genauso deine Macken, wie jeder andere Mensch, aber das macht dich nicht weniger liebenswert! Das zeigt nur, dass mit dir alles stimmt. Dass du genau richtig bist, okay? Du. Bist. Genau. Richtig. Aber ich kann dir verdammt nochmal nicht helfen, wenn du selbst so davon überzeugt bist, dass jeder nur deine Schale liebt. Du musst endlich mal selbst erkennen, dass du ein toller Mensch bist und ich weiß, dass dir das schwer fällt und du denkst, dass jeder Mensch dich nur auf dein Äußeres reduziert. Und, ja, leider machen das auch viele und so wird es immer sein, aber nicht nur bei dir, sondern bei so vielen anderen. Ich weiß, dass du es womöglich niemals schaffen wirst, die Gen-Veränderung zu akzeptieren, aber du musst erkennen, dass es Personen um dich herum gibt, die dich lieben. Und du musst lernen, dich endlich selbst wertzuschätzen

Ich kann Mason nur anstarren. Mein Kopf ist wie leer gefegt und dann wiederum voller als jemals zuvor. Trotzdem kann ich keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Mein Mund öffnet sich automatisch und mir kommt das Erstbeste über die Lippen. »Ich weiß nicht, wie.« Es ist die Wahrheit. Ich bin schon so daran gewöhnt, mich selbst runter zu machen, dass ich gar nicht weiß, wie man sich selbst wertschätzt und respektiert. Aber das Schlimmste ist, dass ich gar nicht weiß, ob ich das überhaupt will. Es ist ein verdammter Teufelskreislauf.

In Masons Augen liegt blanker Schmerz. »Ich weiß und das tut mir weh, wenn du so etwas sagst. Ich kann dir versuchen zu helfen, Sydney. Ich bin für dich da, aber ich glaube, dass du es selbst herausfinden musst.« Er schweigt einen Augenblick und sieht mich nur an.

Tränen laufen weiter über mein Gesicht, ich bin nass bis auf die Knochen.

»Kennst du das Sprichwort: Man kann erst jemand anderen richtig lieben, wenn man sich selbst liebt? Ich glaube, es stimmt.« Er streicht mir eine nasse Strähne aus dem Gesicht.

»Aber ich tue es«, rutscht es mir heraus und es stimmt tatsächlich. Mir war es schon auf der Tribüne bewusst, mir ist es wahrscheinlich schon eine ganze Weile bewusst. Ich räuspere mich. »Ich liebe dich, Mason.«

Er lächelt so ein schönes Lächeln, dass es fast wieder weh tut. »Aber solange du nicht selbst mit dir klar kommst, wirst du meine Liebe nie verstehen. Du wirst sie immer hinterfragen und zweifeln. Sydney, wenn du jetzt schon nicht glauben kannst, dass ich dich nicht wegen deinem Äußerem liebe, wie sollst du es dann morgen? Du wirst es nie.«

Er hart recht, er hat recht, er hat recht, so verdammt recht. Aber das macht es nicht besser. Denn trotzdem weiß ich nicht, wie ich anstellen soll. dass ich besser mit mir selbst klar komme. Und wieso fühlt sich das gerade so sehr nach Abschied an? Panik überkommt mich. »Mason, du lässt mich doch jetzt nicht alleine, oder? Du kannst nicht«, ich schluchze, »du kannst mich nicht ...«

Er küsst mich. Der Kuss ist nass, wegen des Regens, sanft und weich. Es liegt so viel Schmerz, Hingabe, Liebe und Vertrautheit darin, dass mir schwindelig wird. Er überwältigt mich so sehr, dass ich denke, jemand zieht mir den Boden unter den Füßen weg.

Ich kralle mich an Masons Trikot fest, weil ich Angst habe, dass er sonst verschwindet. Weil ich das Gefühl habe, dass ich ihn nur so halten kann.

Er legt seine Hände an meine Taille und zieht mich so nah an sich, dass ich gegen ihn sinke. Der Kuss vertieft sich und Masons Zunge gleitet über meine Unterlippe. Ich will gerade meinen Mund öffnen, da entzieht er sich mir.

Aber ich lasse ihn nicht los, da ich genau das befürchtet habe. »Nein, Mason«, flüstere ich.

»Ich werde dich nicht alleine lasse«, beruhigt er mich und streicht mir mit beiden Händen durch die Haare. Liebevoll steckt er sie hinter meine Ohren. »Aber vielleicht wäre es besser, wenn wir uns eine Weile nicht über unsere Gefühle unterhalten würden. Zumindest nicht auf dieser tiefen Ebene. Dass wir ein wenig emotionalen Abstand zueinander haben. So, dass du etwas Zeit für dich hast. Du brauchst diese Zeit. Du musst viele schlimme Dinge verarbeiten und gerade dann ist es gut, wenn du nicht psychisch von einer anderen Person abhängig bist. Zum Beispiel, dass es dir nur dann gut geht, wenn du bei mir bist. Das ist ungesund, Sydney. Du sollst immer glücklich sein, dass weißt du auch.«

Ich sehe ihn lange an und nicke schließlich. »Ja.« Stille. »Aber wer sagt, dass du die Person bist, die mich glücklich macht? Nimm dich dich nicht so wichtig«, versuche ich einen lahmen Versuch, einen Witz zu machen, aber Mason springt drauf an und lacht leise. Dann legt er mir den Arm um die Schulter und bugsiert mich zum Spielfeldrand.

»Du musst mich nachhause fahren«, informiere ich ihn.

Grinsend sieht er mich an. »Ach, muss ich das?«

Ich nicke und lächle ebenfalls. »Clary hat mich nur abgesetzt.«

»Okay.« Mason gibt mir seinen Autoschlüssel. »Warte im Wagen. Gib mir fünf Minuten, dann bin ich bei dir«, er deutet auf das Umkleidegebäude, »und dann erzählst du mir, warum du überhaupt hier bist und wie der Tag in der Klinik war.«

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