24 | v i e r u n d z w a n z i g

[Cinnamon - Jome]

ES IST SCHWERER als gedacht, die zwei großen Koffer und die zwei Stoffbeutel alleine über den nassen Boden zum Haus zu schleifen. Genervt stemme ich mein ganzes Gewicht dagegen, damit sie sich von der Stelle bewegen, bedenke dabei aber nicht, dass einer der beiden Beutel darauf liegt und im nächsten Moment auf den nassen Asphalt fällt.

Frustriert halte ich in der Bewegung inne und klaube ihn vom Boden. Er ist komplett durchnässt.

»Brauchst du Hilfe?«

Verwundert hebe ich den Blick und erkenne Owen, der direkt vor mir steht und mich belustigt bei meinem Handeln beobachtet.

Ich seufze tief. »Ehrlich gesagt schon.«

Er grinst und packt einen der beiden Koffer am Griff. »Was tust du da eigentlich?«

Ich greife nach dem anderen Koffer, häufe die Stofftaschen darauf und ziehe ihn hinter mir her. »Ich ziehe bei Talia und Marissa ein.«

Er zieht die Brauen hoch und legt den Kopf schief. »Warum so plötzlich?«

Schnaubend gehe ich im schnellen Tempo weiter. »Weil ich nicht mehr bei meinem Dad wohnen kann.« Mehr sage ich nicht dazu und er drängt mich auch nicht, eine genauere Erklärung abzuliefern. »Was tust du eigentlich hier?«

Seufzend hält er kurz inne und sieht mich an. »Ich bin mit den beiden zum Essen verabredet. Aber sie sind noch nicht da.«

Frustriert halte ich ebenfalls an und schnaube. »Sie sind nicht da? Na super. Und was machen wir jetzt mit den Koffern?«

Owen lacht nur leise und wir betreten die Eingangshalle. »Keine Sorge, ich habe einen Schlüssel.« Beschwingt läuft er zum Aufzug und drückt auf den Knopf.

Ich folge ihm etwas zögernd und bereue, dass ich nicht vorher angerufen habe. Wenigstens muss ich nicht in dieser Halle auf die beiden warten, im Schlepptau mit diesen umständlichen Koffern.

Die Türen des Fahrstuhls öffnen sich und wir hieven das Gepäck hinein, quetschen uns selbst noch dazu und fahren nach oben.

Im richtigen Flur angekommen, schieben wir die Koffer zu Talias Wohnungstür und Owen steckt den gezückten Schlüssel in Schloss.

Es ist totenstill als wir eintreten – nicht mal unsere Schritte geben einen Ton von sich, werden von dem teppichbelegten Boden gedämpft.

»Willkommen in deinem neuen Zuhause«, witzelt Owen halbherzig, aber ich gehe nicht darauf ein. In dieser Stimmung bin ich gerade nicht.

Stattdessen lasse ich Schuhe, Jacke und Taschen einfach liegen und gehe auf Socken in das helle, riesige Wohnzimmer. Dort lasse ich mich erschöpft auf das Sofa sinken und lehne den Kopf an die Lehne. Es ist viel besser als zuhause – auch, wenn ich mich noch immer seltsam fühle.

Im nächsten Moment spüre ich, wie das Sofa links neben mir etwas einsackt und drehe meinen Kopf zu Owen, der mich ansieht. In seinem Blick liegt Wärme und Besorgnis. Beides bin ich nicht gewohnt.

»Willst du darüber reden?«, fragt er sanft. »Ich könnte dir auch Eis anbieten – obwohl es nicht mir gehört.« Er grinst und entlockt mir ebenfalls ein kleines Lächeln.

»Eis klingt gut«, erwidere ich. Ja, Eis ist gut. Eis stopft die Leere und stillt das Gefühl für eine Zeit lang. Eis tut mir gut.

Owen erhebt sich sofort und geht hinüber in die Küche. Als er wenige Augenblicke wieder auftaucht, hat er eine Packung Schokoladeneis und zwei große Löffel dabei. Er reicht mir einen, setzt sich wieder zu mir und öffnet die Packung mit einer schnellen Bewegung.

Sofort versenke ich meinen Löffel in der süßen Masse und lasse mir den schokoladenhaltigen Geschmack auf der Zunge zergehen.

»Schon viel besser«, seufze ich genüsslich und Owen kichert leise.

Dann schiebt er sich ebenfalls einen großen Löffel in den Mund und sieht mich beim Schlucken an. »Dir geht es nicht gut«, stellt er fest.

Ich zucke mit den Schultern. »Wem geht es schon immer gut?«

»Aber dir geht es nie gut.«

»Du kennst mich nicht.« Meine Stimme gleicht einem Flüstern und ich sehe ihn eindringlich an.

Langsam nickt er. »Das ist wahr. Trotzdem, nenn es Intuition, ich merke einfach, dass es dir einfach nicht gut geht.«

»Okay. Du hast recht, aber das weißt du ja schon.« Ich seufze tief und nehme einen weiteren Löffel. »Mein Leben ist eine einzige Katastrophe.«

Er guckt ungläubig. »Das glaube ich nicht. Es gibt doch bestimmt gute Dinge. Ja, erzähl mir die guten Dinge, Syd.«

Kurz schaue ich ihn perplex an, aber dann zucke ich mit den Schultern. Warum nicht? Ich nicke langsam und konzentriere mich. Dann stiehlt sich ein Lächeln auf meine Lippen. »Zum einen wäre da meine beste Freundin Clary. Ich liebe sie mehr als alles andere auf der Welt.«

Owen lächelt und seine Augen schimmern warm. »Weiß sie das?«

Kurz überlege ich, aber dann nicke ich fest. »Ja, das weiß sie. Und ich werde es ihr wieder und wieder sagen.«

Sein Lächeln wird breiter. »Das ist doch schön. Erzähl mir mehr gute Dinge.«

»Da ist dieser Junge, den ich neulich kennenglernt habe«, fange ich an, ohne wirklich darüber nachzudenken. Aber Owen ermutigt mich mit seinem Blick, weiter zu sprechen und ich hole tief Luft. »Ich habe das Gefühl, er versteht mich. Und er nimmt mich wie ich bin, ohne, dass ich etwas für ihn ändern müsste. Er sieht mich irgendwie mit anderen Augen, als wäre ich ... als wäre ich toll.«

»Weil du toll bist, Syd.« Owen drückt meine Hand, aber ich schüttle heftig den Kopf und entreiße sie ihm.

»Das ist nicht wahr! Ich bin eine schreckliche Person, ich –«

»Nur die guten Dinge, erinnerst du dich?«, unterbricht mich Owen sanft und ich schließe kurz die Augen, um mich zu sammeln.

»Ja.«

»Dann erzähl mir mehr.« Owen nimmt wieder einen Löffel Eis und sieht mich abwartend an.

»Gut«, ich esse ebenfalls weiter, »da ist zum Beispiel Talia. Sie war da, obwohl ich sie nicht danach gebeten habe. Und trotzdem war sie da.«

Er nickt sanft und legt den Arm um mich. »Siehst du? Das sind drei tolle Dinge und drei tolle Menschen, gute Sachen, die in deinem Leben passieren. Es ist also keine Totalkatastrophe.« Er lacht leise und auch meine Mundwinkel zucken.

»Aber eine halbe«, erwidere ich tief seufzend.

»Erzähl es mir. Erzähl mir jetzt von den schlechten Dingen.«

Unschlüssig drehe ich den Löffel in meiner Hand hin und her. Soll ich es ihm wirklich alles erzählen? Aber ich kann nicht ... ikann ihm nichts von diesem Gefühl in mir erzählen. Aber ich könnte einfach anfangen. Könnte mit ein paar Sachen beginnen und gucken, wie weit ich gehen will. Immerhin ist es Owen. Ich kenne ihn zwar nicht lang, aber Talia vertraut ihm. Und außerdem würde es mir gut tun, es endlich ganz los zu werden, es hat mir schon bei Mason gut getan.

»Okay ...« Ich schlucke hart. »Fangen wir bei meinem Dad an. Weißt du, am Anfang fand ich die Genveränderung wunderbar, mir ging es gut. Ich war endlich schön, talentiert, riss die Aufmerksamkeit auf mich. Aber mein Dad setzte mich immer weiter unter Druck. Und nicht nur er. Ich selbst tat es und tue es noch immer. Als erstes bemerkte ich, dass ich mich nicht mehr wie ich fühle. Es war komisch, fremd. Aber ich machte mir nichts draus. Schob es auf die Nebenwirkungen und mir ging es dann auch wieder eine Zeit lang gut.« Ich halte inne und schaue zu Owen, der nach meiner Hand greift und sie ermutigend drückt.

»Lass dir Zeit«, flüstert er und isst einen weiteren Löffel Eis.

»Dann habe ich angefangen, diese dummen Pillen zu nehmen. Und es ging mir besser, ich habe mich gut gefühlt. Und jetzt ... jetzt weiß ich gar nichts mehr. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit es mir besser geht. Und ich weiß nicht, wie ich das alles stoppen kann. Denn mein Vater lässt es nicht zu. Ich muss immer weiter machen, er will, dass ich Karriere mache. Aber ich ... ich möchte aufhören. Weil ... ich nicht mehr kann. Und ich nicht will. Aber solange ich noch nicht volljährig bin ...« Ich lasse den Satz in der Schwebe hängen und seufze, weil das noch zwei Jahre dauern wird.

Plötzlich weiß ich, was Talia meinte, als wir uns das erste Mal getroffen haben. Sie sagte, sie müsse noch so lange weiter machen, wie der Vertrag gültig ist. Und das nicht alles so toll ist, wie es scheint, in dieser Welt. Ich verstehe sie jetzt. Damals habe ich es nicht.

Owen nickt leicht und ich lege aus einem spontanen Impuls heraus meinen Kopf auf seine Schulter. Aber er lässt es zu, streicht mir sogar sanft über die Haare. »Das muss schrecklich sein«, sagt er leise, »aber ich verstehe dich. Und ich bin hier, okay?«

Ich schließe erleichtert die Augen und kuschle mich noch mehr an ihn. »Danke.«

»Kann ich dich noch was fragen?«, will er nach einem kurzen Schweigen wissen und ich nicke etwas zögernd. »Du hast gesagt, am Anfang ging es dir gut, aber dann wusstest du nicht mehr, wer du bist. Und ob das wirklich du bist, richtig?«

Wieder nicke ich lahm mit dem Kopf.

»Liegt es ... liegt manches vielleicht an den ganzen Typen, die du auf einmal in deinen Bann gezogen hast?«

»Ich ... ich weiß nicht«, meine Stimme klingt leise, »vielleicht?«

»Wenn es so ist, dann lass mich dir eine Sache sagen: Scheiß auf die Typen. Scheiß auf jeden von den verfickten Arschlöchern. Du brauchst sie alle nicht. Keiner von ihnen definiert dich, okay, Süße? Keiner von ihnen, sollte dir das Gefühl geben, dass du nicht genug bist. Nicht wertvoll genug, nicht toll genug. Das ist alles absoluter Bullshit. Du bist wunderbar, egal, was sie sagen. Es gibt immer diese Typen, denen es nur um deinen Körper geht, weil du nun mal jetzt wunderschön bist. Aber es gibt auch andere. Also lass es nicht zu, dass sie dich verdammt nochmal definieren und kaputt machen.« Seine Stimme ist ernst und fest. Er sieht mir eindringlich in die Augen.

Eine kleine Gänsehaut hat sich bei seinen Worten auf meinen Armen gebildet und wird jetzt, bei seinem Blick, noch stärker. Verdammt, er hat recht. Ich weiß es, aber trotzdem fühle ich mich scheiße. Doch ich bin ihm trotz allem mehr als nur dankbar.

Ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen und ich drehe mich genau zu ihm. »Danke, Owen.«

Er grinst nur und widmet sich wieder seinem Eis. »Weiß du, diesen Teil liebe ich«, sagt er und ich schaue ihn verwirrt an. »Der Teil, wenn ich meinen Lieblingsmädchen endlich sagen kann, das Typen abgefuckte Arschlöcher sind. Ich liebe diese Ansprache.« Sein Grinsen wird breiter und auch ich muss bei seinem vergnügten Gesichtsausdruck grinsen.

Lieblingsmädchen. Lächelnd wende ich den Blick ab und versenke meinen Löffel ebenfalls wieder im Eis.

In diesem Moment geht die Tür auf und Talia und Marissa betreten die Wohnung. Eingehüllt in ihren Designermänteln betreten sie das Wohnzimmer. »Wem gehören denn die Koffer ... « Talia bricht ab, als sie mich sieht und ein triumphierendes Grinsen schleicht sich auf ihr Gesicht. »Willkommen zuhause, Sydney.«

Ich lächle und stehe auf. Ohne, dass ich es geplant habe, falle ich ihr in die Arme.

Lachend drückt sie mich an sich, streicht mir beruhigend mit der Hand über den Rücken und vergräbt ihr Gesicht in meinen Haaren.

Eine Weile stehen wir so da, dann lösen wir uns voneinander und ich umarme ebenfalls Marissa kurz, die mich warm anlächelt und »schön, dass du da bist« sagt.

»Hat jemand Hunger?« Gut gelaunt stapft Talia in die Küche und wir alle folgen ihr.

Der restliche Abend wird noch richtig schön. Wir kochen alle gemeinsam, hören dabei laute Musik, die 2015 in den Charts waren und jeder kennt, tanzen dazu und grölen laut mit. Keiner kommentiert meine perfekte Stimme und ich bin ihnen sehr dankbar für ihr Taktgefühl.

Unser Nudelauflauf mit dem Salat wird richtig gut und wir decken gemeinsam den Tisch, setzten uns daran und beginnen zu essen. Unsere Gespräche sind beschwingt und ich muss viel lachen. Am Ende des Abends habe ich ein Dauergrinsen auf dem Gesicht, das ich so schnell auch nicht mehr verlieren will.

Beim Abräumen stehen Talia und ich nebeneinander und packen das Geschirr in die Spülmaschine. Owen und Marissa sind schon ins Wohnzimmer, um einen Film auszusuchen. Ich höre ihr Lachen bis zu uns hinüber.

»Talia«, beginne ich langsam und sie sieht mich an. »Es tut mir leid, dass ich nicht da war, bei der Übernachtung. Und das ich mich nie gemeldet habe. Ich bin eine totale –«

»Hey, Sydney, es ist alles gut, okay? Ich bin einfach froh, dass du jetzt hier bist«, unterbricht sie mich und legt das Besteck beiseite, kommt zu mir und schließt mich in eine feste Umarmung. »Und dass es dir gut geht.«

Ich nicke dankbar und lächle sie an.

Dann räumen wir weiter ein und gehen anschließend zu den anderen Beiden ins Wohnzimmer, wo wir uns zu viert aufs Sofa kuscheln, gespannt dem Geschehen von Tribute von Panem folgen und haufenweises Popcorn in uns reinstopfen.

Später liege ich in meinem neuen Bett und starre erleichtert an die Decke, als mein Handy vibriert. Ich nehme es vom Nachttisch und entsperre es.

Eine neue Nachricht von Mason wird mir angezeigt. Lächelnd tippe ich darauf.

Ichhole dich morgen nach der Schule ab. Die Freiheit ruft.

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