22 | z w e i u n d z w a n z i g
[strong - london grammer]
ALS ICH GEENDET habe, sieht mich Mason eine Zeit lang einfach nur stumm an, sein Mund steht einen Spalt breit auf.
Zögernd fahre ich mir durch die Haare, atme zittrig aus und schüttle verärgert über mich selbst den Kopf. »Ich sollte ... ich sollte einfach gehen.« Schnell stehe ich auf und stolpere blind zur Tür, die Sicht wird mir von einem Tränenvorhang genommen.
Doch in dem Moment, in dem ich die Hand auf die Türklinke lege, ziehen mich zwei Arme zurück und ich werde an eine warme Brust gedrückt. Ich stehe überrascht stocksteif da, Masons Hände schlingen sich um meinen Oberkörper und sein Kopf ruht auf meinem.
Er ... umarmt mich. Niemals hätte ich mit dieser Reaktion gerechnet. Ich habe gedacht, er würde mich anstarren und mich dann loshaben wollen. Aber er ... er steht hier und umarmt mich, so fest und zärtlich, dass ich nicht anders kann, als mich zu entspannen und mich in seine Arme sinken zu lassen.
Aber ich lege meine nicht um ihn – dazu habe ich einfach keine Kraft mehr. Ich stehe einfach nur da, meine Beine schwach wie Wackelpudding. Aber ich falle nicht. Denn er stützt mich, hält mich, schenkt mir Wärme.
Ein Schluchzen bricht aus meiner Kehle hervor und er streicht mit den Händen beruhigend über meinen Rücken.
Schließlich rücke ich ein Stück von ihm ab, sodass ich ihn ansehen kann. »Wieso ... wieso tust du das?«, schniefe ich und ein trauriges Lächeln schleicht sich auf seine Lippen.
»Weil du das gebraucht hast«, lautet seine leise Antwort, dann zieht er mich zum Bett und platziert mich vorsichtig darauf. Er hält meine Hand, als er sich neben mich setzt, den Blick auf mein Gesicht gerichtet.
»Du musst jetzt denken, ich bin gestört.« Meine Stimme ist dünn.
Sofort schüttelt er den Kopf. »Nein, das denke ich nicht. Ich denke, dass jeder Mensch Fehler macht. Und das es normal ist, sich selbst finden zu wollen – egal auf welchem Weg.«
Unsicher sehe ich ihn an. »Du denkst also nicht, ich bin total dämlich, weil ich mich habe verändern lassen und dadurch total berühmt geworden bin und es jetzt bereue?«
Er lacht leise, sein Blick ist warm. »Nein, Sydney, das denke ich nicht. Ich verstehe dich auch irgendwie. Und ich finde es gut, dass ... dass du erkannt hast, dass es nicht gut für dich ist.« Prüfend sieht er mich an. »Ich kenne dich nicht lange, aber du wirkst, als würdest du daran kaputt gehen.«
Wieder schluchze ich und vergrabe das Gesicht in meinen Händen. »Ich dachte ... ich dachte, ich liebe es ...« Meine Stimme versagt und eine Weile schweigen wir.
»Sydney, weißt du, was Freiheit ist?«
Perplex löse ich die Hände von meinem Gesicht und sehe ihn verwirrt an. »Was?«
Er sieht mich eindringlich an, seine Hand wischt mir eine Träne von der Wange, was mir eine Gänsehaut verschafft. »Weißt du, was Freiheit ist?«, wiederholt er, diesmal eine Spur leiser.
Ich weiß zwar nicht, was er mit dieser Frage bezwecken will, aber ich beschließe, ihm ehrlich zu antworten. Tief hole ich Luft. »Ich dachte immer, man ist dann frei, wenn man sich selbst zu hundert Prozent wohl fühlt. Denn wenn man nichts mehr an sich verändern will, kann man endlich nach außen gucken, in die Umgebung, und dort die Freiheit finden – oder sie zu sehen, denn wahrscheinlich war sie die ganze Zeit schon da.«
Er nickt langsam, dann kommt er ein Stück näher. »Und, fühlst du dich wohl? Bist du frei?«
Warum zur Hölle will er das wissen? Ich senke meinen Blick und starre auf meine Socken. Dann beschließe ich, wieder ehrlich zu antworten, auch wenn ich nicht weiß, warum. »Ich dachte immer, ich würde mich endlich wohl und frei fühlen, wenn ich alles an mir ändere, die Genveränderung durchziehe. Denn ich dachte, ich könnte nie frei und glücklich sein in meinem alten Körper. Doch jetzt ... ich fühle mich weder frei, noch wohl und geschweige denn glücklich.« Seufzend sehe ich ihm wieder in die Augen. »Ich dachte wirklich, dass es nur mit dem Äußeren zu tun hat, dass ich mich besser fühle, wenn ich schön bin. Aber ich glaube ... ich glaube, es hat mit meinem Inneren zu tun. Mit meinen Gefühlen.« Vorsichtig strecke ich die Hand aus und lege sie auf seine Brust, dort, wo sich das Herz befindet. Ich spüre seinen regelmäßigen Atem und seinen bebenden Herzschlag. »Denn die kann ich nicht ändern, egal wie viele Behandlungen ich mache«, flüstere ich.
Zärtlich legt er seine Hand auf meine und drückt sie kurz. »Das denke ich auch«, sagt er leise. »Und ich denke, wenn du so weiter machst, verlierst du dich vollständig.«
Mit einem Ruck ziehe ich die Hand zurück und wende den Blick ab. Plötzlich bekomme ich Panik. Hätte ich ihm das Alles wirklich erzählen sollen? Was, wenn er nur mit mir spielt? Wenn das Alles nur eine Masche ist, um mich ins Bett zu bekommen? Scheiße, ich hätte ihm nicht meine ganzen Gefühle offenbaren sollen. Zum Glück habe ich ihm nichts von den Panikattacken und dem leerem Gefühl erzählt, denn das bekomme ich noch immer nicht über die Lippen.
Er scheint zu merken, dass irgendetwas nicht stimmt, denn er schaut mich besorgt an und legt den Kopf schief. »Was hast du?«
Ich seufze tief und fahre mir müde über das verheulte Gesicht. »Ich ... ich traue dir nicht«, gebe ich ehrlich zu und sehe ihn von der Seite an.
Er nickt nur, wieder eine Reaktion, die ich nicht erwartet habe, und rückt etwas näher zu mir. »Und das ist okay«, wispert er.
Misstrauisch sehe ich ihn an. Warum ist er so toll zu mir? Ich verstehe es einfach nicht, verstehe einfach nicht den Sinn dahinter. »Warum?«, stoße ich unüberlegt hervor. »Warum tust du das für mich?«
Mason wirkt etwas vor den Kopf gestoßen, doch dann beherrscht er sich wieder und legt eine Hand an meine Wange. Unbewusste schmiege ich mich an die Innenfläche. »Du hast etwas besonderes an dir, dass ich nicht erklären kann. Aber ich möchte es herausfinden. Ich will dich besser kennenlernen, Sydney.«
Ungläubig sehe ich ihn an, mein Mund steht offen. Was? Und trotzdem ist da diese verdammte Stimme in meinem Kopf, die mir zu säuselt, dass es nur eine Masche ist. Doch ich beschließe, sie erstmal zu verdrängen. Denn er tut mir gut, ich spüre es. Die Leere ist weg, wenn ich bei ihm bin, obwohl ich ihn doch kaum kenne. Aber allein deswegen will ich ihn weiter treffen, auch wenn sich das vielleicht total egoistisch anhört.
»Und ich will dir helfen. Ich kann dir auch helfen, Freiheit zu spüren, denn ich kenne dieses Gefühl«, fährt er sanft fort und malt mit seinem Daumen kleine Kreise auf meiner Wange, welche beginnt angenehm zu kribbeln.
Eine Weile sehen wir uns nur in die Augen, dann nicke ich. »Okay«, ich lege meine Hand auf seine, »aber du solltest wissen, dass ich nicht gerne über meine Gefühle rede. Und«, ich seufze, »dass ich dir noch immer nicht traue.«
Er grinst mich an. »Damit kann ich leben. So lange wir uns wieder sehen.« Nun legt er auch seine zweite Hand auf meine andere Wange und streicht ebenfalls sanft darüber. »Wir sehen uns aber wirklich bald wieder, okay?«
Ich nicke und lächle ihn leicht an.
Er steht ruckartig auf und zieht mich mit sich. »So, und jetzt vergessen wir die deprimierte Stimmung.«
Ich grinse. »Was hast du denn vor?«
Lächelnd schiebt er mich zu einer großen Musikanlage. Mit einer geschmeidigen Bewegung drückt er auf den Knopf.
Ich erwarte irgendeine Pop-Musik, und er anscheinend auch, denn er wird leicht rot, als aus den Boxen nun sanfte Klaviermusik ertönt.
»Das«, schnell dreht er sich um, »ist definitiv das Falsche.« Doch bevor er die Musik wechseln kann, halte ich ihm am Arm fest und drehe ihn zu mir.
»Es ist perfekt«, flüstere ich und bringe ihn damit zum Lächeln. »Was ist das? Ich glaube ich habe es schon mal gehört.« Ich deute auf die Boxen.
»Comptine d'un autre été von Yann Tiersen. Filmmusik von Amélie und ziemlich bekannt«, sagt er und lächelt leicht verlegen.
Ich muss schmunzeln. »Du hörst nicht nur Klassik, du kannst auch noch die Titel auswendig sagen?«
Er sieht mich leicht unsicher an. »Naja, so richtige Klassik ist das gar nicht und – «
»Ich finde es toll, dass du so etwas hörst«, unterbreche ich ihn schnell und gehe auf ihn zu. Dann lege ich meine Hand auf seine Hüften. »Kannst du tanzen?«, flüstere ich.
Er sieht mich verwundert an, doch dann wandern seine Mundwinkel nach oben. »Ich würde sogar sagen, ich bin der beste Tänzer weit und breit.«
»Du verdammter Angeber.« Ich haue ihm auf den Arm, doch im nächsten Moment werde ich schon in einer perfekten Bewegung herum gewirbelt und er zieht mich nah an sich heran. Mir stockt der Atem und ich blicke ihm in die leuchtenden Augen.
»Angeber, was?«, schmunzelt er und legt seine linke Hand an meine Taille, mit der rechten umfasst er meine. Dann beginnt er in sanften Bewegungen zu tanzen und zieht mich mit sich.
Ich blicke ihn fasziniert an und folge seinen Schritten blindlings. Denn ich kann ja nun tanzen – dank der neuesten Behandlung.
»Wo hast du so tanzen gelernt?«, frage ich atemlos. Aber nicht, weil mir die Bewegung die Puste nimmt – nein, es ist er, der mir den Atem raubt.
»Ich habe mit meiner ehemaligen besten Freundin einen Tanzkurs in der achten Klasse gemacht«, antwortet er leise und dreht mich sanft einmal um die eigene Achse.
»Ehemalig?«, hake ich nach, während er mich leichtfüßig in die Mitte des Raums bugsiert.
»Ja, sie ist weggezogen. Nach Australien.« Seine Stimme klingt etwas traurig, doch gleichzeitig auch endgültig. Behutsam dreht er mich nochmal um die eigene Achse und hebt mich leicht hoch, sodass ich überrascht einen kleinen Laut von mir gebe.
Er grinst und stellt mich wieder ab, streicht mit seiner Hand an meiner Taille entlang und drückt mit der anderen meine Hand, welche ganz natürlich in seiner liegt, als wäre es das normalste der Welt.
Das Lied wechselt. Es ist ebenfalls ein Pianostück und wieder kommt es mir bekannt vor.
Als hätte er meinen Gedanken gelesen, beugt er sich etwas näher zu mir und sagt leise: »Das ist once upon a december von dem Disney Film Anastasia, aber die Klavierversion.«
Ich nicke nur und ein Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. »Disney also, hm?«
Er gluckst und zieht mich ein paar Schritte rückwärts mit sich. »Scheint so«, ist seine Antwort und er wackelt grinsend mit den Brauen.
Eine Weile tanzen wir einfach nur, ohne etwas zu sagen. Dann durchbreche ich die Stille. »Vermisst du sie?«
»Wen? Anastasia?« Verwirrt und belustigt schaut er auf mich herab.
Augenverdrehend schüttle ich den Kopf. »Nicht den Film, du Idiot. Deine beste Freundin.«
Sofort verblasst sein Lächeln und er wendet den Blick ab. »Manchmal«, gibt er ehrlich zu, seine Stimme nicht lauter als ein Flüstern.
»Das tut mir leid«, entgegne ich in gleicher Laustärke und er schüttelt nur leicht lächelnd den Kopf.
»Das muss es nicht.« Seine Finger umschließen meine Hand fester und er dreht mich ein drittes Mal um meine eigene Achse, doch diesmal so schnell, dass ich es nicht kommen sehe und in seine Arme falle.
Kurz verharren wir so, er sieht mich warm aus seinen großen Augen an, dann stellt er mich wieder auf die Füße.
In diesem Moment wird die Zimmertür aufgeschoben und mir fällt plötzlich ein, dass wir sie doch nicht offen gelassen haben.
Masons Mom betritt den Raum, auf ihrem Gesicht ein Lächeln. »Tut mir leid, dass ich nicht angeklopft habe«, sagt sie – anscheinend macht es ihr auch nichts aus, dass die Tür zu war – und stützt sich mit der Hand auf der Türklinke ab. »Ich habe mich einfach gefreut, dass du die Musik wieder hörst.«
Mason und seine Mom tauschen einen langen Blick, dann wendet sie sich ab, in ihren Augen schimmern Tränen.
Unbehaglich schaue ich zwischen Mutter und Sohn hin und her, bekomme das Gefühl nicht los, gerade in eine unpassende Situation reingeraten zu sein.
»Ich muss jetzt in den Laden«, sagt Monica und dreht sich zur Tür.
»Ich sollte auch gehen«, sage ich hastig, vielleicht etwas zu hastig, denn sofort liegen vier Augen auf mir. »Mein Dad erwartet mich sicher schon«, füge ich langsamer hinzu und Monica nickt mir zu.
»Komm gerne mal wieder vorbei«, sagt sie dann und verschwindet im Flur.
Mason nimmt meine Hand. »Ich bringe dich noch zur Tür.«
Ich lächle ihn breit an und dieses Lächeln fühlt sich so gut an, dass ich am liebsten nie wieder damit aufhören möchte.
Wir gehen die Treppe hinunter, unsere Hände sind noch immer miteinander verwebt.
Ich schlüpfe in Jacke und Schuhe und öffne die Haustüre. Draußen ist es noch immer kalt, aber es regnet nicht mehr ganz so stark wie vorhin.
Trotzdem drückt mir Mason bestimmt den Regenschirm in die Hand. »Sicher, dass ich dich nicht zu deinem Wagen bringen soll? Was wenn die Paparazzi wieder auftauchen?« Falten bilden sich auf seiner Stirn.
Beschwichtigen trete ich zu ihm und streiche ihm einmal über die Wange. »Ich komme klar.« Gerade, als ich die Hand wieder zurückziehen will, hält er sie fest und schließt kurz die Augen, dann lässt er sie fallen und sie schwebt kurz in der Luft zwischen uns, dann ziehe ich sie schnell an meinen Körper.
»Also dann.« Ich mache einen Schritt rückwärts.
»Versprich, dass wir uns wieder sehen«, sagt er, als ich schon im Regen stehe.
Ich sehe in seine wunderschönen Augen und nicke. »Ich verspreche es.«
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