10 | z e h n


[young and sad - Noah Cyrus]

DER FOTOGRAF NICKT mir zu und schaut dann konzentriert durch die Kamera, gibt mir Anweisungen, wie ich mich hinstellen soll, damit er mich perfekt im Bild hat und überprüft mit seinen Assistenten mehrmals die Belichtung.

Ich stehe in einem riesigen Raum, vor einer grünen Leinwand, die später als Green-Screen benutzt wird, und vor mir sind mehrere Softboxen aufgestellt, die helles Licht auf mich strahlen.

Talia steht neben dem Fotograf und lächelt mir aufmunternd zu, wahrscheinlich, weil sie genau sieht, das ich überfordert und aufgeregt bin. »Sei einfach du selbst!«, ruft sie mir zu und ich lächle dankbar, aber gleich darauf verfalle ich wieder in Panik.

Wer bin ich überhaupt? Und wenn ich das nicht weiß, wie soll ich dann ich selbst sein?

»Okay, wir wären soweit«, meint der Fotograf jetzt. Er sieht freundlich aus, hat braune, schon angegraute Haare und ein offenes Lächeln auf den Lippen, ist vielleicht um die achtundvierzig.

Ich schaue an mir herunter und betrachte noch einmal das Outfit, das ich für die erste Runde trage. Es besteht aus einer schwarzen, lockeren Jeans und einem weißen engen Rollkragenshirt, das in die Hose gesteckt ist.

»Wie du weißt, brauchen wir erstmal Fotos von der Hose, auf manchen ist dein Gesicht drauf, auf manchen nicht«, erinnert mich der Fotograf nochmal und ich überlege fieberhaft, wie er heißt, er hat es nämlich schon gesagt, aber ich und Namen-merken sind keine Freunde.

Talia reckt die Daumen in die Höhe und ich bekomme Anweisungen von einer Frau im Blazer, wie ich mich am Besten hinstellen soll.

In den ersten Runden bin ich zurückhaltend und schüchtern und sehr überfordert, aber irgendwann klappt es ganz gut und der Fotograf gibt mir immer mehr Lobe.

Am Ende des ersten Outfitshoots fühle ich mich sogar so sicher, dass ich ganz alleine neue Posen einnehme, ohne die Hilfe der Blazer-Frau.

Talia grinst stolz und ich bin endlich mal wieder glücklich, fühle mich gut mit dem, was ich tue. Es macht wahnsinnig Spaß und ich genieße den Augenblick.

Dann ist es vorbei und der Fotograf, Mac, mir ist der Name wieder eingefallen, zeigt mir seine Favoriten. Zusammen suchen wir auf dem riesigen Monitor die schönsten Fotos heraus und er zeigt mir einen kleinen Einblick davon, wie es später aussehen soll, wenn der Green-Screen gegen eine anderen Hintergrund getauscht wird.

Talia ist dran und ich stehe gegenüber, juble ihr zu. Sie ist wirklich gut und ich habe lang nicht mehr so gelacht, denn manchmal macht sie alberne Spaßposen und Grimassen oder haut dämliche Witze heraus.

Auch Mac und die Blazer-Frau lachen und scheinen es ihr überhaupt nicht übel zu nehmen. Ganz im Gegenteil - es herrscht eine ausgelassene Stimmung.

Mehrmals tauschen wir Outfits, shooten für Hosen, Oberteile und Jacken, und bringen uns gegenseitig zum Lachen. Ich verstehe mich so gut mit Talia, das es mir scheint, als würden wir uns schon ewig kennen. Trotzdem weiß ich auch, das sie eine ziemlich gebrochene und traurige Seite hat, die sie mir selbst schon gezeigt hat. Sie scheint nicht immer der glückliche Mensch zu sein, der sie hier ist. Vielleicht gibt sie das alles gerade auch nur vor, ich habe ja keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich sie wirklich gerne mag und es Spaß macht, mit ihr zusammen zu sein. Und das reicht mir fürs Erste und ihr anscheinend auch.

»Okay, ihr zwei, jetzt brauchen wir noch Bilder mit euch zusammen, wir erstellen einen Banner für die Website, als Titelbild für die Damenjeansabteilung«, sagt Mac schließlich und Talia und ich grinsen uns gegenseitig an, verschwinden dann in der Umkleide, für das neue Outfit. Dabei unterhalten wir uns über unsere Lieblingssüßigkeiten und ich muss so heftig lachen, dass ich einen Schluckauf bekomme, weil sie mir von ihren abgefahrenen Eissorten-Kombinationen erzählt.

Als wir aus der Umkleide rauskommen, steht vor der grünen Leinwand ein Sofa, mit einem Teppich darunter, und einer Topfpflanze daneben. Wir platzieren uns darauf und beginnen zu shooten. Der Fotograf schießt begeistert Bilder und nickt zwischen durch immer wieder zufrieden.

Als wir für heute fertig sind, lächelt er uns breit an und sagt: »Wow, ihr habt echt eine tolle Verbindung beim Shooten, das gefällt mir. Ihr kommt echt gut miteinander klar und ergänzt euch gegenseitig. Das war ja mit Lexie nie der Fall.«

Lexie? Ich runzle die Stirn.

»Pinky«, flüstert mir Talia zu und mein Gesicht hellt sich sofort auf. Natürlich heißt sie nicht wirklich Pinky. Da hätte ich auch früher drauf kommen können.

»Ja, mit Lexie bin ich nicht so gut klar gekommen«, erklärt Talia jetzt und zuckt mit den Schultern. Mac nickt wissend und verabschiedet sich dann von uns.

Wir ziehen uns wieder um und schminken uns ab, wünschen Sofia noch einen schönen Abend und verlassen dann das Gebäude.

»Wow, das war echt ein schöner Tag«, sage ich, als wir nebeneinander herlaufen. Es ist schon spät und überall leuchten die Straßenlaternen in der Dunkelheit.

»Ja, das fand ich auch«, sagt Talia und mustert mich nachdenklich von der Seite. »Ehrlich gesagt hatte ich schon Ewigkeiten nicht mehr so viel Spaß beim Shooten.«

Ich drehe den Kopf zu ihr und schaue sie lange an, versuche herauszufinden, was sie so gebrochen hat.

»Weißt du, ich wollte nie Model sein.« Sie seufzt tief und holt dann wieder die Metallflasche hervor. Sie nimmt einen Schluck und hält sie dann mir hin. »Willst du?«

Ich zögere, schüttle aber schließlich den Kopf. Ich habe fast noch nie richtig Alkohol getrunken, nur mal ab und zu im Bella Donna Sekt oder Wein, aber etwas härteres oder eine große Menge noch nie.

Sie zuckt mit den Schultern und setzt sich die Flasche selbst wieder an die Lippen. »Aber meine Eltern haben mich als kleines Kind immer zu ganz vielen Shootings gefahren, sie waren besessen von der Idee, dass ihr Kind ein berühmtes Model werden könnte«, fährt sie fort und schüttelt den Kopf, als könne sie es immer noch nicht fassen.

Mitfühlend schaue ich sie an und berühre kurz tröstend ihren Arm. Sofort lächelt sie mich an, verzieht dann aber wieder die Lippen und erzählt weiter. »Wenn andere Kinder miteinander gespielt haben, war ich auf irgendeinem Fototermin.«

Ich schlucke schwer und mein Magen zieht sich schmerzhaft zusammen, als ich an eine jüngere Version von Talia denke, die aus dem Fenster eines Firmengebäudes schaut, wo sie gerade fotografiert wird, und den Spielplatz mit all den glücklichen Kindern unter sich sieht, genau weiß, dass sie dort nie spielen wird.

»Als ich immer mehr Erfolg hatte, wurden meine Eltern immer hartnäckiger und ehrgeiziger. Ich hatte einen strengen Essensplan, an den ich mich immer halten musste. Wenn meine wenigen Freunde von der Schule Eis aßen, musste ich Karotten und Smoothies zu mir nehmen.« Sie seufzt tief und ich weiß nicht was ich sagen soll, bin geschockt von den Eltern, die so etwas ihrem Kind antun.

»Schließlich haben sie mir Unterricht zuhause gegeben. Ich hatte keinen Kontakt mit anderen in meinem Alter, war einsam. Dafür war ich immer öfter im Fernseher auf irgendwelchen Fashionweeks zu sehen, auf Catwalks unterwegs und in irgendwelchen Magazinen abgedruckt. Mit dem vielen Geld, das ich verdiente, überhäuften mich meine Eltern mit Geschenken, als könnten sie damit wieder gut machen, das sie meine Kindheit zerstört haben. Ich war so oft kurz davor einfach irgendeinen Scheiß zu essen, den Essensplan aufzugeben, alles hinzuschmeißen und abzuhauen.« Sie schweigt lange und ich hake mich bei ihr unter, streiche beruhigend über ihre Hand. Leicht lächelt sie.

»Aber ich konnte es nie«, sie schluckt schwer, »ich konnte das ihnen nie antun, weil sie so glücklich waren, mit dem, was aus mir geworden war. Und das wollte ich ihnen nicht zertören. Ich weiß, das hört sich total dämlich an.« Sie lacht gequält, aber ich schüttle den Kopf. »Nein, hört sich's nicht. Ich verstehe das sogar.« Ja, ich versteh es genau, wie es ist, den Eltern alles recht machen zu wollen.

Sie lächelt dankbar und ich sehe die Tränen in ihren blauen Augen. »Als ich ihnen endlich die Stirn geboten habe, den Mund aufbekommen hab und sagte, das ich verdammt nochmal keinen Spaß am modeln habe, lachten sie mich aus und schoben es auf die Pubertät und Stimmungsschwankungen und dass das nur eine Phase sei. Wir haben uns immer öfter gestritten ab dem Zeitpunkt, aber jedes Mal sagten sie das gleiche. Schließlich kauften sie mir eine eigene Wohnung, weil sie meinten, ich würde wieder klar kommen, wenn ich Abstand von ihnen hätte.« Sie lächelt grimmig und nimmt erneut einen Schluck.

Ich kann nicht fassen, was für Menschen ihre Eltern sind, begreife es einfach nicht. Etwas unbeholfen, aber dennoch energisch und liebevoll, streiche ich ihr erneut über die Hand und kuschle mich an ihre Schulter, während wir weite eingehakt nebeneinander herlaufen.

»Seit dem geht's mir wirklich besser. Ich habe Abstand von ihnen und neue Freunde gefunden, die wirklich zu mir halten, anstatt so toxisch zu sein wie ein paar der Models, zum Beispiel Pinky.«

»Das freut mich«, sage ich und lächle sie an. Sie erwidert es, aber um einiges schwächer und trauriger.

»Und trotzdem kann ich nicht hinschmeißen, weil mein Vertrag noch drei Jahre gilt. Und ihn aufheben geht auch nicht, weil ich freiwillig unterschieben habe, aus Loyalität zu meinen Eltern.« Sie seufzt tief und schmeißt die Hände in die Luft. »Und jetzt habe ich den Salat. Drei weitere Jahre in diesem Scheißverein. Ich bin zwar stinkreich, hübsch und hab eine eigene Wohnung, alles, was sich andere in meinem Alter nur wünschen, aber trotzdem bin ich nicht glücklich. Ich will frei sein.« Ihr Blick wird träumerisch und eine Weile starrt sie ins Nichts, dann dreht sie ihren Kopf zu mir.

»Du bist wirklich stark«, sage ich leise und drücke sie an mich. Ich lehne mich an ihre weiche Teddyjacke und sie legt den Kopf auf meine Schulter.

»Wir kennen uns zwar erst seit heute, aber wenn irgendetwas ist kannst du immer zu mir kommen, okay?«, nuschle ich in ihre Haare und sie nickt. »Danke.« Sie löst sich und schaut mir in die Augen. »Das bedeutet mir viel. Ich habe nicht so viele Menschen an meiner Seite und normalerweise erzähle ich ihnen am ersten Tag auch noch nicht meine gesamte Lebensgeschichte«, sie lächelt schwach, »aber irgendwie habe ich es bei dir trotzdem getan. Vielleicht weil ich es endlich mal loswerden wollte.«

Sie wendet sich ab und wir laufen wieder schweigend nebeneinander. Es ist kein unangenehmes Schweigen. Es ist eher schön und im Einklang, als würden wir so etwas öfter machen. Nebeneinander herlaufen und uns über persönliche Themen zu unterhalten. Es fühlt vertraut an.

»Was ist mit dir?«, fragt sie schließlich und ich lege den Kopf schief. »Was willst du im Leben? Auch frei sein? Und warum bist du Model geworden?«, fährt sie fort.

Ich atme tief durch und beschließe, ihr einfach alles zu erzählen. Und genau das tue ich dann auch.

Als ich fertig bin sieht sie mich perplex an, sie hat mich kein einziges Mal unterbrochen. Kurz überlege ich, ob das dumm war, es ihr zu erzählen, und ob sie jetzt überhaupt noch Kontakt mit mir will.

Aber die Sorge stellt sich als unnötig heraus, als die vortritt und mich in den Arm nimmt. Diese Reaktion hätte ich nicht erwartet, vor allem nach der von Clary, aber es tut unglaublich gut. Erleichtert seufze ich.

»Dein Vater ist ein Arschloch«, ist ihre erste Aussage und wir lösen uns wieder.

Ich runzle die Stirn. »Warum?«

»Na, überleg doch mal. Er kam damit an, er hatte die Idee, warum auch immer.«

Ich schweige lange, dann sage ich: »Trotzdem war es meine Entscheidung, ich habe mich nicht wohl gefühlt, jetzt tue ich es. Ich war nie hübsch, aber jetzt bin ich sogar schön.«

Sie zieht die Brauen hoch und mustert mich nachdenklich. In ihrem Blick liegt nichts verurteilendes und das nimmt mir etwas die Last von den Schultern. »Ich bin sicher, es kommt auch von seiner Erziehung, Syd. Schließlich hat er dir wohl das Gefühl gegeben, dass du nicht genug bist. Allein schon wegen dem Vorschlag. Vielleicht bemerkst du's nur unterbewusst, aber ich bin sicher, er hat viel damit zu tun. Wenn es nicht so wäre, hättest du dich irgendwann selbst akzeptiert, auch wenn du nicht die Hübscheste wärst, weil du einen Vater hättest der an dich glaubt. Und Freunde. Der Charakter ist so viel wichtiger, Syd.«

Ich schaue sie stumm an. Ihre Worte berühren mich auf seltsame Weise. »Aber diese Welt ist perfekt. Ich bin Model, sehe gut aus, dass ist etwas, was dich viele wünschen.«

»Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich dir sage, so ist es nicht. Diese Welt scheint perfekt zu sein, aber das ist sie ganz und gar nicht. Die meisten Leute bei uns achten sowieso nur auf das Aussehen und den Status, sind nur mit dir befreundet, weil du Geld hast. Es geht nicht um die inneren Werte. Oft fühle ich mich allein. Und natürlich sind nicht alle so, das ist klar. Aber die meisten.«

Ich schweige und schaue sie lange an. »Ich bin jetzt aber endlich mit meinem Körper zufrieden, Talia.« Und das ist die Wahrheit.

Anstatt mich zu ungläubig anzustarren, legt sie den Kopf schief und meint lediglich: »Das ist schön. Auch wenn ich mir sicher bin, es hätte auch anders geklappt.«

Ich nehme all meinen Mut zusammen und frage leise: »Verurteilst du mich?«

Sie reißt die Brauen in die Höhe. »Nein, das tue ich nicht, glaub mir. Jeder sollte das tun, was er möchte und mit was er sich wohl fühlt. Und wenn das bei dir der Fall ist, dann freue ich mich für dich. Trotzdem hab ich dir auch meine Sichtweise gesagt, wie ich das Ganze denke. Aber das ist meine persönliche Meinung, Syd.«

Ich nicke dankbar über ihr Verständnis und lächle. Sie lächelt warm zurück.

»Also, ich muss jetzt los. Gute Nacht, wir sehen uns bald. Und denk daran, du hast einen wundervollen Charakter, egal wie du aussiehst. Bleib du selbst und verstell dich nicht, so kommst du in dieser Welt am Besten klar, auch wenn es schwer erscheint.«

Mit diesen Worten lässt sie mich stehen, verschwindet in der Dunkelheit, lässt mich mit meinen verwirrenden Gedanken allein, die sich in meinem Kopf immer schneller drehen, bis ich nicht mehr weiß, was ich eigentlich denken soll.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top