03 | d r e i

[Heather - Conan Gray]

DER SPIND KNALLT heftig zu, obwohl ich ihn gar nicht angefasst habe. Verwirrt schaue ich auf und blicke in das aufgebrachte Gesicht Clarys. Sie hat Augenringe und ist blass, ihre Lippen sind zu einer dünnen Linie verzogen.

»Wieso hast du alle Anrufe von mir ignoriert?«, poltert sie auch schon los. Ich hole tief Luft und schließe den Spind langsam ab. Dann drehe ich mich zu ihr und ziehe dabei den Reißverschluss meines Rucksacks hoch.

»Ich hatte zutun«, schwindle ich und werfe mir den Rucksack über die linke Schulter.

»Du hattest zutun?«, wiederholt Clary aufgebracht und fuchtelt wild mit den Händen in der Luft herum. »Das meinst du nicht ernst.«

Ich seufze tief und setzte mich in Bewegung. Eigentlich habe ich keine Lust, wieder mit ihr über dieses Thema zu reden, mit dem sie bestimmt gleich wieder anfängt. Die Genveränderung. Deshalb habe ich auch ihre ganzen Anrufe ignoriert. Obwohl ich weiß, dass ich es mir nicht mit Clary verscherzen sollte. Sie ist meine beste, und leider einzige richtige, Freundin. Ich kenne sie schon Ewigkeiten und habe sie so lieb gewonnen, das sie wie eine Schwester für mich ist. Und ich will sie auf gar keinen Fall verlieren. Aber manchmal weiß sie echt nicht, wann Schluss ist.

»Hallo, Johnson, ich rede mit dir!«, brüllt sie über den vollen Korridor hinweg. Andere Schüler drehen sich neugierig zu uns um, bevor sie ihren Weg durch das Getümmel fortsetzen.

Clary hastet auf mich zu und packt mich so heftig am Arm, das ich gezwungen bin, stehen zu bleiben. Vorsichtig schaue ich ihr in die karamellfarbenen Augen, die sie zu wütenden Schlitzen verzogen hat.

»Jetzt bleib doch mal stehen.« Ihre Stimme ist eine Spur sanfter geworden. Ich seufze tief, während sie fortfährt: »Wir müssen darüber reden.« Da haben wir's.

»Es gibt nichts zu reden.« Ich schüttle ihren Arm ab. Als ich wieder in ihre Augen schaue, sehe ich wie verletzt sie ist. Sofort kommt schlechtes Gewissen in mir hoch. »Okay, wir reden«, sage ich deshalb matt und ziehe sie zum Mädchenklo. Zum Glück ist es leer, als wir eintreten.

Clary lehnt sich an eine Toilettenkabine und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie sucht meinen Blick, aber ich tue so, als wären die Riemen meines Rucksacks viel interessanter, als alles andere in meinem Leben, und schaue intensiv auf diese herab, während ich sie in meinen Händen hin und her drehe.

Stille.

Dann erhebt Clary das Wort: »Bist du jetzt zufrieden?«

»Das hat doch nichts mit zufrieden oder nicht zu tun.« Ich hebe endlich den Blick und reibe mir müde mit der Handflächen über die Augen, aber nur vorsichtig, um die Wimperntusche nicht zu verschmieren.

»Womit dann? Erklär's mir, denn ich verstehs nicht.« Clary schaut mich jetzt so bohrend an, dass ich sie schließlich doch angucke. Und es bereue. Sie sieht aus wie ein trauriger, verstoßener Welpe.

»Das habe ich doch schon. Ich will nicht mehr ich sein.«

»Aber warum? Was ist  falsch an dir, Syd? Du bist meine beste Freundin, ich hab dich wahnsinnig lieb und du bist genau richtig, so wie du bist.«

Bei ihren Worten wird mir kurz warm ums Herz. Dieses Gefühl wird aber sofort von dem anderen schweren Gefühl vertrieben, dass ich jeden Tag mit mir rumschleppe. Ich bin nicht genug.

Ich schaue sie ernst an, ignoriere ihren verletzten Hundebaby-Blick. »Das bin ich eben nicht.«

Verwirrt legt die den Kopf schief. »Wie meinst du das?«

Ich hole tief Luft. »Schau mich doch mal an, Clary.« Ich deute an mir herunter. Verständnislos folgt sie meinem Blick.

»Nichts an mir ist genau richtig. Weißt du wie es sich anfühlt jeden Morgen in den Spiegel zu gucken und das hier da drin zu sehen? Und dann gehe ich vor die Tür und sehe all die hübschen Mädchen, mit ihren tollen Figuren, den tollen Haaren, ach was, alles an ihnen ist toll. Und dann denke ich mir: Ernsthaft? Dann gehe ich auf Instagram und da passiert das ganze nochmal von vorne. Und die Tatsache, das sich kein einziger Typ für mich interessiert, macht es auch nicht besser, okay? Ich fühle mich so unwohl in mir drin, das ich es kaum noch aushalte.« Ich verstumme.

Ihre Augen werden riesengroß, Tränen schimmern in ihnen. Sie schaut mich geschockt an und gibt einen erstickten Laut von sich. »Was redest du da, Syd?«, bringt sie schließlich hervor.

Ich wende kurz den Blick ab. »Du hast mich schon gehört.«

Sie fährt sich mit der Hand fahrig durch die Haare. »Wie kannst du nur so etwas sagen?« Ihre Stimme wird lauter und zorniger. »Das stimmt doch alles gar nicht, Syd! Du bist so ein toller Mensch und das müsstest du doch eigentlich wissen. Mit dir kann man Spaß haben, lachen aber auch weinen. Man kann bei dir sich selbst sein. es gibt nur ganz wenige Menschen, bei denen so etwas möglich ist. Und jeder Typ, der das nicht blickt, ist ein verdammtes Arschloch.« Sie hält kurz inne. »Außerdem, wie kommst du darauf, deine Werte anhand irgendwelcher Typen abzumessen? Du bist so viel besser als das, Syd.«

Ich unterbreche sie. »Irgendwelcher nicht vorhandenen Typen.«

Sie wirft mir einen vernichtenden Blick zu und fährt einfach fort. »Und hast du schon mal darüber nachgedacht, dass alles auf Instagram gephotoshoppt sind?! Die sind so nullachtfünfzehn und unscheinbar, wie jede andere. Die bemerkt man gar nicht, wenn man an ihnen vorbei geht. Aber du, du hast so einen tollen Charakter, du bleibst in Erinnerung! Du hast das alles nicht nötig. Diese Influencer leben von Like zu Like, total krank und armselig, wenn du mich fragst. Natürlich nicht alle, aber die meisten.« Sie stoppt und atmet hektisch ein und aus.

Ich schaue sie ungläubig an, auch wenn ich ihre Wort nicht richtig zu Herzen nehme, weil ich weiß, das sie spätestens morgen total verdreht in meinem Kopf herum geistern und ich sie nur noch als blasse, gelogene Erinnerung ansehe, weil diese Worte unmöglich auf mich zutreffen können, bedeuteten sie mir schon etwas. »Bist du denn gephotoshoppt

Stille.

»Wie bitte?«

»Naja, schau dich doch mal an, Clary. Dafür dass du das alles ziemlich oberflächlich findest, springst du aber sehr schnell von einem zum nächsten Typen. Aber ich verurteile dich nicht, keineswegs. Würde ich so aussehen, würde ich es auch so machen.«

Sie schweigt lange. Dann holt sie tief Luft. »Syd, du bist nicht hässlich, das weißt du schon? Und außerdem gucken Typen nicht nur aufs Aussehen, sie schauen auch auf den Charakter. Alles andere wäre dumm. So jemand wie Zara zum Beispiel, ist vielleicht für eine Nacht gut, aber danach? Sie hat null Qualität. Und das meine ich nicht böse, ich möchte sie nicht haten. Aber es nunmal so. Vielleicht sieht sie aus wie ein Supermodel, aber wo ist ihr Charakter?«

Ich schüttle den Kopf. »Das wird überall gesagt. Jungs schauen nicht aufs Aussehen. Aber wir wissen beide ganz genau, dass sie es natürlich tun, Clary. Sogar ziemlich genau. Vor allem in unserem Alter, ist das fast das einzige, worauf sie gucken. Was nützt ihnen ein Charakter, wenn sie eine gute Nacht haben können? Sogar mehrmals? Und ich sage nicht, dass alle so sind. Aber du weißt, dass ich Recht habe. Und auch wenn sie nach Charakter gucken, wollen sie trotzdem, dass sie gut aussieht. Das ist nicht fair. Und ich sage nicht, das Mädchen anders sind. Aber ich hasse es.«

»Willst du so einen Typen, Syd? Einen Fuckboy oder so? Es gibt so viele Gescheite«, kontert sie wütend.

»Wo?«, feure ich zurück.

Darauf geht sie nicht ein. »Warum willst du überhaupt einen Typen, wenn es dich so unter Druck setzt? Das hört sich gar nicht gesund an, Syd.«

Ich seufze abermals auf. Sie kapiert es einfach nicht. »Es geht hier nicht um irgendwelche Typen. Ja auch, aber eigentlich geht es um mich. Ich will nicht mehr so sein. Ich fühle mich so unwohl, es wird von Tag zu Tag schlimmer, wie eine Dunkelheit, die mich heimsucht, und ich kann sie nicht aufhalten. Ich habe die Schnauze voll, die ganze Zeit zu denken, ich bin nicht gut genug, ich bin es nicht wert. Ich will mich endlich wohlfühlen. Mich gut fühlen. Selbstbewusst sein. Sicher fühlen, in meiner Haut. Und da kommt so eine Gelegenheit. Die lasse ich mir doch nicht entgehen, ich bin doch nicht blöd, Clary. Und sogar mein Dad will das, also...«

Clary schüttelt fassungslos den Kopf. Mitfühlend schaut sie mich an, sieht aus, als will sie mich fest in den Arm nehmen und - wer weiß? - vielleicht hätte ich das gerade echt gebraucht. Stattdessen wendet sie sich bedauernd ab und schaut an die Decke. »Du brauchst einem Therapeuten, keine Genveränderung.« Wow, hat sie viel Einfühlungsvermögen.

»Wirklich jetzt? Das ist wirklich das einzige, was du dazu zu sagen hast? Du verstehst mich kein bisschen, warum ich es tun will?«

»Nein.« Sie schaut mich noch immer nicht an. Als würde sie sich nicht trauen, in meine Augen zu blicken.

Ich ziehe die Augenbrauen hoch, nicke langsam. »Verstehe.« Ich rausche aus dem Mädchenklo, ohne mich noch einmal umzudrehen.

Natürlich habe ich nicht erwartet, das sie es auf einmal gut findet, aber ich habe gehofft, dass sie mich wenigstens ein bisschen versteht, wie ich mich fühle. Das sie für mich da gewesen wäre, mich unterstützt hätte. Und ja, vieles was sie gesagt hat, war gut gemeint, aber es wirkte eben nicht so, als könne sie mich wirklich nachvollziehen. Aber wie auch? Sie kennt das alles schließlich nicht.

Seufzend mische ich mich unter den Rest der Schüler, auf dem Weg zu meinem jetzigen Klassenzimmer. Es hat gerade zur ersten Stunde geläutet.

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