Kapitel 1: Das Camp

"Wir gehen es noch einmal durch."
Ich stöhnte abgrundtief und rollte mit den Augen.
"Mein Name ist Josefine Sophie Hallow, ich bin 16 Jahre alt und komme aus Brooklyn", leierte ich erneut herunter, damit auch wirklich jeder mir glaubte, dass ich keinen kompletten Gedächnisverlust hatte.
"Erinnerst du dich an den Weg zum Camp Halfblood?"
"Nein." Da lag das Problem. Nachdem ich ohnmächtig geworden war, hatte ich meinen kompletten Weg hier her vergessen...
"Erinnerst du dich an dein Ankommen im Camp?"
"Nein." Auch wenn mein linkes Schienbein eine beachtliche Narbe aufwies.
"Erinnerst du dich an den Satyr, der dich begleitet hatte?"
Ich schluckte einmal kurz und verlor den trotzigen Blick. "Nein."
Chiron stieß tief die Luft aus. Es war sehr wahrscheinlich, dass meine Begleitung tot war. Ich wusste das, aber keiner wollte es so wirklich aussprechen.
"Seit wann weist du von deinem Dasein als Halbblut?"
"Seit meinem achten Lebensjahr. Meine Mutter hatte es mir nach dem ersten Angriff eines Monster alles erzählt und seitdem waren wir eigentlich nur noch unterwegs. Unser letzter Aufenthalt war in Brooklyn, wo wir eine Wohnung hatten."
Dieses Wort, Halbblut, klang selbst nach all den Jahren noch wie ein Fremdwort in meinen Ohren. Vielleicht weil es einfach absurd war, wirklich zu glauben mein Vater sei ein Gott. Aber so war es anscheinend.
"Hast du deinen Vater je kennen gelernt?"
"Nein. Also nicht, dass ich mich erinnern kann."
Der Campkoordinator nickte kurz und erhob sich dann auf seine kräftigen vier Beine. Als Zentaur, halb Mensch halb Pferd, konnte er kaum stehen in dem eher niedrigen Gebäude. Er musste den Kopf einziehen, während seine flauschigen Ohren trotzdem noch die Decke berührten. Diese Welt war einfach so schräg... Aber nach acht Jahren Verfolgungsjagd und Kämpfe gegen Harpyien, Höllenhunde und andere Monster, wunderte einen nicht mal mehr einen Typen, dessen Unterkörper ein weißer Gaul war.
"Eine Frage noch", sagte der Campleiter hinten in der Ecke mit seinem orangenen Hawai-Hemd und den Shorts. "Woher wusstest du vom Camp?"
"Meine Mum hat immer schon von hier erzählt... Sie hat es nur nie übers Herz gebracht, mich hier abzugeben. Sie hatte Angst, sie würde mich nie wieder zu Gesicht bekommen", erklärte ich mit trockenem Hals und vermisste sofort meine Mutter. Meine durchstrukturierte, ernste, viel zu ordentliche Mutter. Sie war wahrscheinlich zu Hause in Brooklyn, ohne mich würden die Monster sie in Ruhe lassen, da war ich mir sicher.
"Nun ja, dabei wird es wohl auch erstmal bleiben", meinte der Dicke in der Ecke und konnte sich ein schadenfrohes Grinsen nicht verkneifen. Was für ein Idiot. "Das Camp ist nur für Götter oder Halbgötter betretbar."
Chiron legte mir tröstend eine Hand auf die Schulter und zwinkerte mir zu. Nachdem ich wach geworden war, war er der Erste, dem ich begegnete. Der unsympathische Typ in der Ecke, der sich selber Campleiter nannte, war laut Chiron Dionysos, der Gott des Weines, ein griechischer Gott, der seine Strafe hier absetzen musste und sich deswegen mit uns "Gören" herumschlug. Das war es nämlich, ein Camp.
Camp Halfblood für Halbgötter aus der ganzen Welt. Klang schräg, war es auch.
Die griechischen Götter wie Poseidon, Zeus, Hermes um nur einige wenige zu nennen, kamen oft auf die dumme Idee in Menschengestalt auf die Erde zu kommen, Menschen zu verführen und Kinder zu zeugen, die also zur Hälfte Gott und zur Hälfte Mensch waren. So wie ich, ein Halbblut. Camp Halfblood war für uns alle die Anlaufstelle, damit wir sicher vor den Monstern waren, die Halbblüter jagten und töteten.
Mein Vater war Apollo oder Apollon in der römischen Version, der Gott des Lichts, der Sonne, der Heilung, des Frühlings, der sittlichen Reinheit und Mäßigung, der Weissagung, der Kunst und des Bogenschießens. Danke Wikipedia. Getroffen hatte ich ihn noch nie, aber laut meiner Mutter hatte ich die grünen Augen von ihm. Ehrlich gesagt hätte ich aber gerne mehr von ihm, als seine grünen Augen, wie wäre es mit einer gemeinsamen Vergangenheit, ruhigen Abenden vorm Kamin, spannenden Gutenachtgeschichten oder lustige Thanksgivings. Gemeinsame Erinnerungen.
Mum hatte es versucht mir zu erklären. Er sei ein Gott, er hatte viel zu tun. Aber Zeit mich zu zeugen und dann wieder sitzenzulassen hatte er, oder wie? Meine Mutter meinte, es sei unfair so zu denken. Ich hätte ja noch viele andere Geschwister, die das selbe Schicksal wie ich teilten. Aber was war denn das hier für ein Schicksal? Ich war mein Leben lang weggerannt, hatte nur mit meiner Anwesenheit das Leben meiner Mutter gefährdet und jetzt war ich für immer hier in diesem Camp eingesperrt, bis ich eines Tages von irgend einem Monster zerfetzt werden würde. Oder so ähnlich.
"Ich denke, das reicht erstmal mit den Fragen", meinte Chiron und wackelte gebückt auf den stelzenartigen Beinen aus dem Raum. Wie er wohl mit einem so breiten Körper durch die Türen passte?
Dionysos, oder auch Mr. D, warf mir einen äußerst genervten Blick zu und erhob sich stöhnend, wobei seine Wampe unter dem Hawai-Hemd hervor lugte. Ich versuchte wegzuschauen, aber es war einfach zu amüsant, denn der Gott des Weines sah beim Aufstehen wie ein hilfsloses, fettes Baby aus. Ich zwang mich in die andere Richtung des Raumes zu schauen und hob dafür den Eisbeutel auf dem kleinen Nachtschränkchen wieder an meine pochende Schläfe. Es fühlte sich an, als würde ein Basketballtunier in meinem Kopf stattfinden und immer wenn der Ball auf dem Boden aufkam, schlug ein Schmerz durch meinen Kopf.
"Chiron schickt dir einen der Tutoren, der dich herumführt", meinte Mr. D, der bereits an der Tür war.
"Danke", gab ich zurück und legte mich zurück auf mein Krankenbett, während mein Kopf weiter pochte. Was auch immer mich auf dem Weg ins Camp verfolgt hatte, es hatte ganz schön zu gebissen, mein Bein schmerzte mindestens so wie mein Kopf.
"Könnten Sie mir noch etwas Nektar und Ambrosia bringen, Mr. D?", rief ich dem wandelnden Hawai-Hemd hinterher.
"Prometheus hat euch Menschen Beine gegeben, also benutz sie!", kam die wütende Antwort.

Keine zehn Minuten später rappelte ich mich in meinem Bett auf und versuchte aufzustehen, wobei mein verletztes Bein sehr zittrig war, doch irgendwie schaffte ich es zu stehen. Mit langsamen Bewegungen ohne die Füße richtig vom Boden zu heben, arbeitete ich mich zur Tür vor. Wenn dieser Tutor nicht kam, würde ich mir selber das göttliche Wundermittel gegen Schmerzen bei Halbblüter holen. Meine Mutter hatte immer etwas dabei gehabt, wenn wir auf der Flucht waren. Dabei war es gar nicht so nützlich, wie es klang, denn so wie es uns Halbgötter heilte, so tötete es Menschen. Ich war fast an der Tür angekommen und streckte meine Finger bereits der Klinke entgegen, als sich in dem Moment die Tür öffnete, meine Beine zusammen klappten und ich fiel.
Bevor ich auf den Boden aufschlug, Schlangen sich zwei Arme um meine Brust und zogen mich wieder hoch. Ich sah noch etwas verschwommen, mein Kreislauf versuchte sich noch zu stabilisieren. Die helfende Hand schleppte mich halb zurück auf das Krankenbett und als ich legte, stöhnte ich laut. Alles tat weh. Jemand stützte meinen Kopf und flößte mir Nektar ein und sofort breitete sich wohlige Wärme in mir aus, darauf folgte Ambrosia und sofort ging es mir besser. Ich öffnete meine Augen...
Und war verknallt. Er hatte blondes Haar, das ihm ungebändigt vom Kopf abstand, seine Augen waren sturmgrau und die Züge seines gebräunten Gesichts waren ebenmäßig und schön. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, ob ich jemals einen so hübschen Jungen gesehen hatte.
"Geht's dir jetzt besser?", fragte er und seine Stimme war sanft und überraschend tief, wobei er höchstens siebzehn war. Er war perfekt. Mein Traummann.
Weil ich nicht antwortete, wollte er mir gerade noch etwas Ambrosia reichen, aber ich richtete mich schnell auf um zu zeigen, wie perfekt es mir gerade ging. Er musste mich nur weiter so wundervoll ansehen.
"Warum hast du nicht auf dem Bett gewartet? Du bist noch zu instabil."
Mein Blick heftete sich an sein Gesicht, die leicht schräge Nase, die hohen Wangenknochen. Die süßen Grübchen. Er schnipste mit seinen Fingern direkt vor meinen Augen und ich zuckte zusammen.
"Mir geht's gut", stotterte ich und richtete meinen Blick auf den Boden. Ich benahm mich wie der letzte Volltrottel.
"Schön. Soll ich später nochmal wiederkommen, wenn du laufen kannst? Oder soll ich dich schon in deine Hütte bringen? Da wird es aber wohl etwas lauter sein..."
"Hütte klingt gut!" Nicht einmal ganze Sätze konnte ich heraus bringen. Gott, er war so perfekt.
Von dem ganzen Hüttensystem hatte ich bereits von meiner Mutter gehört: Jede der griechischen Gottheiten hatte eine eigene "Hütte", in der die Kinder desjenigen wohnten. Ich würde also in die Apollo-Hütte ziehen zu meinen ganzen, mir noch völlig fremden Geschwistern.
Er half mir hoch und schlang einen Arm um meine Taille und mein ganzer Körper kribbelte, während er mir half aufzustehen. Ich war zwar noch etwas wackelig, aber es war besser als vorher, jetzt war ich auch wieder im Besitzt von etwas namens Gleichgewichtssinn. Zu meinem Bedauern zog er seinen Arm zurück, als ich einen festen Stand hatte und legte lediglich eine Hand auf meinen Rücken um mir den Weg zu zeigen. Die göttlichen Speisen gaben mir Kraft und so kamen wir ohne weitere Verzögerungen zur Tür, was ein kleiner Erfolg war. Ich warf ständig Blicke zu dem Jungen und versuchte dabei jedoch so unauffällig wie möglich vorzugehen. Das war gar nicht meine Art, noch nie fand ich jemanden derart faszinierend.
Hinter meinem vermeidlichen Krankenzimmer lag ein langer Korridor, von dem viele Zimmer abgingen. Wahrscheinlich andere Krankenzimmer. Dahinter befand sich eine eher weniger eindrucksvolle Eingangshalle, die eher schlicht gehalten war und stets aus Holz bestand. Das ganze hatte etwas von einem europäischen Landhaus.
"Willkommen im Camp Halfblood", meinte der Junge und grinste, dann öffnete er die Tür nach draußen und ein Schwall an Hitze stieß mir entgegen. Und ich blickte auf das gleichzeitig Spannendste als auch Beängstigendste, das ich je gesehen hatte.

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