SKYE - Die Bürde, nichts zu vergessen
Vielleicht hätte ich nicht zurückkommen dürfen, vielleicht hätte ich die Vergangenheit für immer hinter mir lassen und vergessen sollen, was geschehen ist. Aber das ist gerade das Phänomen dabei: Je mehr man versucht, etwas zu vergessen, desto weniger ist es möglich, es aus seinen Gedanken zu verbannen.
Ich dachte, dieses halbe Jahr weit weg von hier hätte etwas verändert, hätte den Nebelschleier etwas verblassen lassen, der über allem und jedem liegt, aber irgendwie ist es nicht geschehen. Ich kann sie immer noch genauso wenig vergessen wie zuvor. Ich muss Liv nur ansehen, um mich an die Zeit zurückzuerinnern, als die Welt noch in Ordnung war.
Zu viel ist geschehen. Dinge, die man nicht mehr rückgängig machen kann. Ich habe viel verloren. Liv noch mehr. Zu viel. Und man merkt ihr an, dass sie daran zerbricht. Noch ist ein Funken ihrer Selbst übrig, aber je mehr Zeit sie in ihrer selbst erschaffenen Dunkelheit verweilt, desto mehr verschwindet er.
In den letzten fünf Jahren habe ich Olivia Tate nicht ein einziges Mal ungeschminkt gesehen. Bis auf heute. Ich bin schon seit ein paar Tagen zurück, allerdings haben sich unsere Wege bis heute erstaunlicherweise nie gekreuzt. Und dann sehe ich sie und bekomme beinahe einen Herzinfarkt.
Sie sieht nicht einmal mehr aus wie sie selbst. Sie sieht aus wie ein verlorenes, alleingelassenes Mädchen, das nicht mehr weiß, wohin mit sich selbst.
In diesem Moment klingelt es zur vierten Stunde und ich schrecke aus meinen Gedanken hoch. Ein paar entfernt bekannte Gesichter ziehen an mir vorbei und manche Leute winken, deshalb setze ich ein Lächeln auf, das nicht echt ist. Aber das weiß ja keiner.
In Wahrheit bin ich viel zu sehr damit beschäftigt, darüber nachzudenken, was dieser Tag mit uns allen anstellt. Jahrestag. Nein, so darf ich das nicht nennen. Jahrestage feiert man, weil es sich um die glückliche Erinnerungen handelt. Aber als was soll ich es denn sonst bezeichnen?
»Fuck«, fluche ich, weil ich merke, was die Schule und dieser ganze verdammte Scheiß wieder mit mir anstellt. Genau deshalb bin ich auf dieses bescheuerte Internat gegangen. Ich dachte, es hätte sich gebessert, aber es hat nicht einmal eine Woche gebraucht, bis ich wieder genauso verkorkst geworden bin, wie ich es vor meiner Abreise war.
»Was hast du nur mit uns allen gemacht«, frage ich leise flüsternd niemanden und zugleich jemand sehr bestimmten. Dieser Jemand hat allerdings nicht die Möglichkeit, irgendetwas zu sagen.
Und so mache ich mich ohne Antwort auf den Weg zum Sekretariat und erledige das, weshalb ich eigentlich hergekommen bin.
Auf dem Weg dorthin kann ich mich nicht davon abhalten, über diese Situation weiter nachzudenken. Was geschehen ist, war schrecklich und schmerzhaft. Ich kann verstehen, dass Liv Zeit gebraucht hat, um das Geschehene zu verarbeiten. Ich habe mich von ihr ferngehalten und ihr den Freiraum gewährt, den sie so sehr zu brauchen schien. Aber es ist ein Jahr her und sie verhält sich, als würde sie eine Last tragen, von der außer ihr niemand weiß.
Ich habe es schnell gemerkt. Das, was Olivia durchlebte, war kein Trauerprozess, es war eine Art Meideverhalten. Sie versucht, dem Schmerz zu entgehen, und dabei stößt sie alles und jeden von sich weg.
In ihrem früheren Leben ist sie ein Feuerwerk der Gefühle gewesen: selbstbewusst, ein wenig eitel, aber doch nicht abgehoben. Denn da waren auch noch Stärke, Zufriedenheit, Güte und scharfe Intelligenz, die sie immer wieder auf den richtigen Pfad zu leiten vermochten.
Aber was ist von Olivias früherem Wesen noch übrig geblieben?
Sie ist immer noch hübsch – natürlich – aber durch ihre dunkle, abweisende Ausstrahlung wirkt sie düster, nicht sehr umgänglich und dafür auf eine glanzlose Art schön. Nicht mehr strahlend wie die Sonne oder Sterne, sondern eher wie die dunkle Nacht. Unnahbar, geheimnisvoll, finster. Nicht anziehend attraktiv, sogar eher abstoßend. Kalte, kantige, schneidende Schönheit, die beinahe schmerzt.
Hör auf, an sie zu denken! Aber das geht nicht. So viele Jahre kenne ich sie nun schon, wir haben so viel miteinander durchgestanden, haben uns in den schlechten Zeiten gegenseitig gestützt, und nun ist das alles zerbrochen. Alles.
Ich kann sie trotzdem nicht vergessen. Ich weiß, ich sollte es, weil Liv mich niemals zurücknehmen wird, das hat sie mir klipp und klar zu verstehen gegeben, aber ich kann nicht aufhören daran zu denken. An sie ... und mich.
~ ~ ~
Während ich im Sekretariat darauf warte, dass Mrs Cassidy, die ich seit der fünften Klasse kenne, die Papiere holt, nach denen das Internat kürzlich gefragt hat, merke ich zum ersten Mal, dass ich froh bin, nicht wieder hierher zurückkommen zu müssen.
Kurz zeitig habe ichtatsächlich darüber nachgedacht, nach diesem halben Jahr Abstand zu meiner Heimat, endlich wiederhergestellt zu sein. Aber diese Begegnung mit Liv hat mir gezeigt, dass vor allem sie etwas dagegen hat. Sie will scheinbar jede noch so kleine Verbindung zu ihrem Leben davor kappen, und wer wäre ich, ihr das zu verbieten.
Und während ich so auf das altbekannte Bild starre, das mir durch zu viele Besuche im Direktorat nur allzu vertraut erscheint, erkenne ich, dass ich loslassen muss.
Dieser Wunsch, Liv wieder so zu lieben, wie ich es einst durfte, ist zum Scheitern verurteilt. Diese Liv existiert nicht mehr, sie hat sich vor der Welt zurückgezogen und einer düsteren Hülle Platz gemacht. Ich muss loslassen, bevor ich uns beide noch mehr in diesen Strudel der Verzweiflung hineinziehe.
Aber bevor ich endgültig aufhören kann, an sie zu denken, muss ich noch eine Sache tun. Denn trotz allem, was sie mir – und uns – angetan hat, kann ich nicht mit dem Wissen weiterleben, wie sehr sie hier leidet.
Also muss ich mit ihren Eltern reden.
~ ~ ~
Mrs Cassidy drückt mir die bedruckten Blätter in die Hände und lächelt mich warm an, muss jedoch gleich darauf einen Telefonanruf entgegennehmen, und ich verlasse das Sekretariat wieder – möglicherweise zum letzten Mal in meinem Leben.
Seufzend schlendere ich durch die Schule und betrachte das Banner an der Wand, auf dem in großen Lettern MITEINANDER zu lesen ist. Trotz der vielen Fehler und der weniger tollen Erfahrungen, die ich in diesem Gebäude gemacht habe, wird mir dieser kunterbunte Schriftzug fehlen ... ebenso wie einige Personen.
Ein schiefes Grinsen schleicht sich auf meine Lippen, als ich Pete in der Nähe des Ausgangs an die Wand gelehnt dastehen sehe.
»Was, wieder mal keine Lust auf Unterricht?«, stichle ich und kassiere daraufhin nur ein freches Schulterzucken.
»Ich musste dich natürlich sehen, wenn du deine hässliche Visage schon mal hier zeigst. Und tu bloß nicht so, als hättest du dich dieses Vergehens nicht schon tausendmal schuldig gemacht«, sagt er extra hochgestochen, um mir seine Intelligenz zu demonstrieren, die ihn – seiner Meinung nach – von zu viel Lehrergelaber freispricht.
»Touché«, antworte ich und hebe kapitulierend die Arme.
»Gut, dich zu sehen, Mann«, meint Pete nun und schlägt mir einen Tick zu fest auf die Schulter. Das Funkeln in seinen Augen verrät mir, dass das gerade nicht aus Versehen geschehen ist.
Ich werde ernst. »Ich weiß. Es ist zu lange her.«
»Ich verstehe es. Wir alle wollten hier weg, nachdem das ... passiert ist. Glaub mir, niemand macht dir einen Vorwurf. Aber ... ohne dich ist es komisch. Du fehlst bei unseren nächtlichen Eskapaden.«
»Ja, weil ich das Genie hinter unseren Eskapaden war, wie du es nennst«, ziehe ich ihn auf.
Er schnaubt. »Würde ich jetzt nicht so ausdrücken. Wir halten Samson ganz schon auf Trab. Ich glaube, am liebsten würde er mich für immer von der Schule schmeißen, macht es aber nicht, weil er weiß, dass mich das eher freuen würde.«
»Wäre es anders, wäre ich enttäuscht. Irgendjemand muss doch das Vermächtnis des Skye Walker weiterführen, oder? Da bin ich endlich mal von der Bildfläche verschwunden, und dann taucht einfach ein anderer Möchtegern-Skye-Walker auf.« Ich verschränke die Arme vor der Brust und richte mich drohend auf. »Pass bloß auf, dass du mir nicht den ganzen Ruhm von sechs Jahren wegstiehlst, Peter Pan LaTerra.«
Seine Augen werden groß. »Bist du bescheuert?! Du hast geschworen, dass dieser Name niemals laut über deine Lippen kommen wird, du Idiot!«
Ich muss mir das Lachen mit aller Macht verkneifen und danke Petes Eltern in Gedanken wieder einmal für diesen göttlichen Namen, mit dem sie ihren Sohn verdammt haben.
»Ich hätte es dir nie erzählen sollen«, erkennt Pete in diesem Moment frustriert, und streicht sich einige Haarsträhnen aus den Augen.
»Hättest du nicht«, stimme ich ihm schadenfroh zu, werfe dann aber einen Blick hinter ihn zum Ausgang. »Hör mal, ich muss noch wohin, und mein Zug geht in zwei Stunden. Und wenn mein Dad sein Auto nicht bald wieder unbeschadet in seiner Garage stehen sieht, bringt er mich wahrscheinlich um.«
»Was hast du denn noch vor, dass es so eilt? Eine alte Flamme wieder aufleben lassen?« Er wackelt mit den Augenbrauen und lächelt spöttisch.
Kurz schließe ich die Augen und atme tief ein, dann versuche ich mich an einem Lächeln. »Nein, das trifft es nicht ganz.« Meine Stimme klingt locker, aber Pete scheint meine veränderte Stimmung zu bemerken.
Er lässt den Kopf hängen. »Sorry, Mann, ich ... einfach sorry.«
Ich zucke gezwungen unbedarft die Schultern und beruhige ihn lächelnd mit einem »Alles okay«. Und weil er trotz seiner Niedergeschlagenheit immer noch die Neugierde in seinen Augen stehen hat, gebe ich seufzend nach. »Ich muss noch mit Livs ... mit Livs Eltern reden.«
Und nun scheint sich Pete tatsächlich zu wünschen, der Boden möge sich unter ihm auftun und ihn verschlucken.
»Olivia ... ist...« Er findet keine Worte und zuckt ratlos die Schultern.
Ich nicke verständnisvoll. »Ich weiß, ich hab sie heute gesehen.«
Pete weiß zwar nicht, was zwischen Liv und mir geschehen ist, aber er weiß zumindest genug, um zu verstehen, dass sie mir etwas bedeutet.
Ich lasse den Blick ein letztes Mal durch die schreiend leere Aula wandern, um Pete nicht in die Augen sehen zu müssen, als ich sage: »Sie ist gefangen in der Vergangenheit. Und sie muss sich aus diesem Gefängnis endlich befreien. Es wird verdammt nochmal Zeit.«
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