10. Kapitel
Alle meine Sinne arbeiten auf Sparmodus, sie nehmen nur das Allerwichtigste auf und übertragen nur die notwendigsten Informationen, damit mein Körper entsprechend reagieren kann. Ich mache mir nicht einmal die Mühe, mir den Grund für diese absolute Dunkelheit um mich herum zusammenzudichten, stattdessen stolpere ich blind den anderen nach und lasse ich das Geschehene von gestern Nacht noch einmal vor meinem Inneren Augen abspielen.
Zuerst dieser Traum.
Verdammt, ja, ich habe Minho gern geküsst. Ich habe ihm gerne durchs Haar gestrichen, ihm gerne sein Shirt ausgezogen. Doch das danach... ich weiß nicht, was los mit mir war. Klar, ich mag Minho, aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass meine feige, schüchterne Wenigkeit gleich von Null auf Hundert hochfährt und solche intimen Dinge tut. Als hätte mich eine Kraft dazu gezwungen, genau das alles zu tun. Als wäre es vorrausgeplant gewesen. Und das einzige, woran ich in diesem Moment denken konnte, war: Hoffentlich erfährt Maren nie etwas davon.
Als ich dann aufgewacht bin, total geschockt über mich selbst, war der letzte Mensch, mit dem ich reden wollte, meine älteste Schwester. Der zweite auf der Liste wäre Minho, ich frage mich sowieso, wie ich ihm noch unter die Augen treten kann, ohne ständig an meinen Traum zurückdenken zu müssen.
Dann kam der Kampf. Was, zum Teufel, ist in Maren gefahren? Warum greift sie plötzlich Minho an, als hätte er eine von uns umgebracht? Als hätte er irgendein Verbrechen begangen, dass er nie wieder Rückgängig machen kann? Nach Chucks Tod waren das so ziemlich die schlimmsten Sekunden meines Lebens, zuzusehen, wie meine eigene Schwester meine einzige Stütze im Leben stranguliert. Es war einfach... grauenvoll. Das schlimmste daran war meine Machtlosigkeit, meine Schwäche. Ich hätte ihn nicht retten können, so sehr ich es auch versuchte.
Ein schriller Schrei reisst mich aus meinen Gedanken und ich fahre erschrocken herum. Bisher war ich nur stumm neben den anderen hergejoggt, habe das verwirrte Stimmengemurmel gar nicht wahrgenommen, doch nun klingelt es bei meinem Alarmsystem und reflexartig straffe ich die Schultern. Hier stimmt was nicht.
Nagut, dass hier etwas gewaltig schief läuft, ist nicht unbedingt schwer zu erraten, bei dem anhalteten Schmerzensgekreische eines Jungen, etwas entfernt von meinem Standpunkt. Körper rammen mich brutal zur Seite, als alle mehrere Meter auseinanderweichen, Stimmengewirr erfüllt den Gang und hallt als dumpfes Echo wider. Man kann die Angst förmlich in der Luft knistern hören, der gequälte Junge währenddessen hält weiter seinen Todesschrei an, immer wieder ertönen leise Klirrgeräusche, als würde jemand Metall auf Stein schlagen.
"Ach du Scheiße..."
ruft Thomas plötzlich, dann geht der Schrei in ein widerliches Gurgeln über, und bricht schließlich attrupt ab.
Die Stille erstickt selbst meine Gedanken, immer noch hallt die gellende Stimme des vermutlich nun toten Lichters in meinen Ohren wie eine hängende Platte.
"Was war das denn?"
kann ich Minho wie durch einen Nebelschleier fragen hören, seine Stimme klingt müde und rau wie Sandpapier. Obwohl er mir beteuert hatte, dass alles in Ordnung sei nach Marens Angriff, und er mich letztendlich beinahe genervt ins Bett geschickt hat, merkt doch ein jeder hier, dass er doch etwas mitgenommen von der Sache ist. So sehr ich mich auch bemühe, lässt er mich trotzdem nicht weiter an sich heran, als dass ich seine mürrische Schale hätte knacken können. Darunter befindet sich - da bin ich mir sicher - ein einfacher Teenager, der seinen ganzen Frust in sich hineinfrisst und stattdessen jenem nur seine harte Seite zeigt.
Nach einer kurzen Stilleperiode, die mir wie eine halbe Ewigkeit erscheint, antwortet Thomas.
"Sein Kopf war... weg. Da war nur mehr Metall."
"Wie meinst du, weg?"
schaltet sich nun auch Alby ein, ich zucke erschrocken zusammen, als die tiefe Stimme des Anführers direkt neben mir erklingt. Stoff schabt über Stein, Thomas richtet sich vermutlich auf.
"Na, weg halt! Nicht mehr da. Abgehackt..."
Schon wieder diese Stille.
Ein Räuspern unterbricht sie diesmal.
"Ich glaube, wir sollten von hier verschwinden. Und zwar schnell."
Sophie.
Trotz meines Grolls auf sie kann ich ihr hierbei nur zustimmen. Egal was dem armen Jungen den Kopf gekostet hat, ich will es nicht unbedingt bei mir ausprobieren.
"Weiter, hophop!"
ruft Newt vom Ende der Karawane und augenblicklich werde ich vorwärts gestoßen. Zuerst verspanne ich mich unter dem Griff, doch als mir ein missgelaunt klingender Minho ein "Mach schon!" ins Ohr brummt, entspanne ich mich wieder. Selbst wenn er so abweisend ist, beruhigt mich seine Gegenwart doch total. Ich fühle mich seltsam beschützt, ganz anders wie damals, im Labyrinth, mit meinen Schwestern. Auch damals wurde ich behütet wie ein Schatz, doch es ist nichts im Vergleich zu diesem Gefühl hier. Dieser Schutz ist viel stärker, wie eine Seifenblase um mich herum, durch wessen Oberfläche kein Gegenstand durchzudringen vermag.
Unzählige Schritte trommeln über den harten Untergrund, die Luft wird feucht und stickig und trägt den Geruch von vermodertem Papier mit sich. Ein weiterer Schrei ertönt, knapp hinter mir, doch als ich schon stehenbleiben will, werde ich wieder unsanft weitergeschupst. Niemand macht sich die Mühe, seinem Kumpel und Leidesgenossen zur Hilfe zu eilen, jeder ist nur daran bestrebt, seine eigene Haut zu retten.
Ein weiterer Schrei, diesmal vor mir. Ein Körper rollt gegen meine Beine, die Person windet sich und schlägt wie wild mit den Händen um sich. Ich stolpere und falle nieder, werde im nächsten Moment aber auch schon wieder hochgezerrt und weitergeschleift. Die ganze Situation ist seltsam bizarr und unreal, verstärkt noch wird dieses Gefühl durch die absolute Dunkelheit, die keinen Funken an Licht durchsickern lässt.
Eine gefühlte Ewigkeit rennen wir, bis der Zug so attrupt stopt, dass ich abermals auf der Nase lande. Diesmal muss ich mich jedoch selbst hochstemmen.
"Da ist ein Treppenauffang!"
ruft Alby ins Nichts, man kan deutlich die Begeisterung in seiner Stimme hören. Zu meiner Überraschung gibt niemand ein Kommentar ab, jeder ist damit beschäftigt, wieder zu Atem zu kommen. Schabende Geräusche hallen durch den Gang, dann quietscht etwas, wie eine alte, rostige Metalltür. Kurz danach offnet sich wenige Meter vor mir plötzlich eine kleine Luke einen Spalt breit und grelles Licht flutet den finsteren Raum. Stöhnend hält sich jeder die Hände vor die Augen, um sich vor den grellen Strahlen zu schützen, selbst vermehrtes Blinzeln hilft da nichts. Mit stark zusammengekniffenen Lidern mustere ich meine Umgebung erstmals.
Der Gang ist mit Metall ausgekleidet, der Boden ist steinern. So writ ich sehen kann, deutet nichts auf Einkerbungen oder ähnliches hin, wo todbringende Wesen oder Gegenstände hätten auftauchen können.
Mit den Augen suche ich die Masse ab, suche nach meinen Schwestern. Ich könnte versuchen sue telepathisch zu erreichen, doch diesen Vertrauensbeweis will ich ihnen noch nicht gewährleisten.
Mein Blick trifft den von Sophie, auch sie hat scheinbar nach uns gesucht. Erleichterung huscht ihr übers Gesicht, und ihre Mundwinkel heben sich leicht, doch das Lächeln scheitert kläglich. Stattdessen reisst sie panisch Augen und Mund auf, sprachlos starrt sie direkt hinter mich. Wie in Zeitlupe drehe ich mich um und das erste, was mir ins Augen stößt, ist ein gigantischer Tropfen, der sich wie eine hässlich Beule auf der sonst glatten Eisenwand bildet. Die Kugel wird immer größer, blubbert wie eine Lavalampe, dann löst sie sich von der Wand. Doch sie fällt nicht zu Boden, wie es die Schwerkraft normalerweise verlangt, sondern saust quer durch die Luft wie ein Pfeil.
Genau auf mich zu.
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