• Kapitel 8 •

Alles, was ich für die nächsten vier Wochen brauche hat in einen großen Koffer gepasst. Ich weiß nicht, ob das für oder gegen mich spricht. 

Gestern habe ich den Vertrag von Stage zugeschickt bekommen und direkt unterschrieben. Ich hoffe, dass ich dank der guten Gage schnell eine kleine Wohnung in Oberhausen finden werde. 

Dass die Proben nur vier Wochen gehen ist äußerst untypisch. Normalerweise gehen sie mindestens acht Wochen. Doch schon bei der Ausschreibung stand geschrieben, dass die Zeit knapp ist und man sich darüber im Klaren sein sollte, bevor man überhaupt eine Bewerbung abschickt. 

Die Shows sind immer mein Highlight, wohingegen die Proben der blanke Horror sind. Was auf der Bühne immer so leicht aussieht, ist hinter der Kulisse um so härter. Es kommt auch schonmal vor, dass man von morgens bis tief in die Nacht hinein probt. Man wird für jedes mögliche Szenario vorbereitet. Besonders körperlich ist dies sehr anstrengend, weshalb man als Musicaldarsteller auf seinen Körper und die Gesundheit achten muss.

Manche Hauptdarsteller, spielen auch mal im Ensemble mit, wenn die Zweitbesetzung mal für ein paar Auftritte ihre Rolle übernimmt. Es gibt aber auch Hauptdarsteller, die dies nicht tun und lieber einen freien Tag genießen, soweit es das Theater zulässt. Ich gehöre definitiv zu der ersten Sorte. Ich liebe es auch mal im Ensemble zu spielen, weil dort oftmals viel mehr getanzt wird, was mir großen Spaß macht und das die beste Gelegenheit ist, um sich mal so richtig auszupowern.

„Ich werde dich vermissen", gestehe ich mir selbst und meiner besten Freundin ein, bevor ich ihr um den Hals falle. Seit der fünften Klasse sind wir unzertrennlich. Selbst die Jahre in Wien konnten uns nicht auseinander bringen. Und wenn es einen Menschen gibt, dem ich blind mein Leben anvertrauen würde - dann wäre dieser Mensch Laura. 

Sie drückt mich fest an sich und ihr kurzes blondes Haar kitzelt meine Wange. „Bei der Premiere werde ich in der erste Reihe sitzen. Aber bitte wunder dich nicht, wenn ich ab und an Mal einen bösen Blick auf die Bühne werfen werde, der gilt dann Mark, nicht dir." 

Ich beginne zu lachen, weil ich ganz genau weiß, dass sie das vollkommen ernst meint. 

„Sollte er dir dumm kommen bin ich sofort zur Stelle, um ihm in die Eier zu treten. Okay?" 

„Okay", antworte ich ihr und verabschiede mich für die nächsten vier Wochen. Zwischen der letzten Probe und der Generalprobe bleibt mir nur ein einziger Tag, um meine kompletten Sachen für eine längere Zeit nach Oberhausen zu holen. Online habe ich schon nach freien Wohnungen gesucht, doch bisher nichts passendes für mich gefunden. Kein Wundern, hat die Stadt doch gerade mal um die 200.000 Einwohner, wohingegen Hamburg mehr als 1,8 Millionen hat. Ich brauche wirklich großes Glück, wenn ich eine Wohnung finden möchte, in der ich mich auch wohl fühle. Ein Jahr ist eine lange Zeit.

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Nach einer vierstündigen Autofahrt bin ich endlich im Super 8 Hotel angekommen. Es ist ein wirklich schönes, sehr modern eingerichtetes Hotel direkt beim Metronom Theater. Ich will mir gar nicht ausmalen, wie früh ich hätte aufstehen müssen, wäre das Hotel weiter weg gewesen. 

Komplett ausgelaugt von der Fahrt lasse ich mich rücklings auf das bequeme Bett fallen. Für einen Moment gönne ich mir eine kleine Verschnaufpause und versuche zu verstehen, was hier gerade passiert. Ich habe endlich wieder einen Job. Wow, das hört sich falsch an. Ich war die letzte Zeit nicht wirklich arbeitslos. Ich habe privaten Gesangsunterricht gegebene und in der ein oder anderen kleineren Location gesungen. 

Mein Zeitplan für den heutigen Tag ist ziemlich straff. Um 15 Uhr beginnen die Proben. Die nächsten Tage starten wir schon um 8 Uhr, doch heute hat man uns die Zeit für die Anreise gegeben. 

Am liebsten würde ich kurz meine Augen schließen und ein Nickerchen machen. Längere Autofahrten machen mich immer total müde. Doch dafür bleibt keine Zeit. Ich muss duschen, mich umziehen und dann auch schon direkt los zum Theater. Die Vorfreude ist groß, heute endlich alle Darsteller kennenzulernen. 

Nadine hat mich kurz nach unserer gemeinsamen Audition angerufen und mir hörbar glücklich davon berichtet, dass sie die Nebenrolle der Magda bekommen hat, was mich unglaublich gefreut hat. Ich bin froh, sie an meiner Seite zu wissen. Es tut immer gut, jemanden um sich zu haben, mit dem man sich versteht und zu dem bereits ein gewisses Vertrauen besteht. 

„Einen wunderschönen guten Tag", höre ich Nadines Stimme durch mein Handy, nachdem ich ihre Nummer gewählt habe.

„Wow, mit wem hast du gerechnet, dass du so höflich abnimmst?", frage ich sie lachend, während ich dabei bin mich mit meiner freien Hand auszuziehen, um unter die Dusche hüpfen zu können. 

„Bist du schon da?"

„Ja, Zimmer 104 und du?", antworte ich ihr.

„Zimmer 92, wenigstens sind wir auf der selben Etage. Wann wollen wir los?"

Vor dem bodentiefen Spiegel im Badezimmer komme ich zum Stehen. Meine nackte Haut zu sehen verschlägt mir immer wieder die Sprache. Meine linke Hüfte ist übersät mit Brandnarben. Ich kann von Glück sprechen, dass ich sie nicht am ganzen Körper habe. 

„Erde an Mia", brüllt Nadine in mein Ohr.

„Sorry. Was hast du gesagt?", frage ich sie und reiße meinen Blick von mir selbst los. 

„Wann wollen wir los? So in einer Stunde?"

„Ja, ich hole dich ab. Bis später." Ich warte nicht darauf, dass sie etwas erwidert, sondern lege sofort auf. 

Die Erinnerungen an meinen Unfall sind plötzlich wieder ganz deutlich, sie spielen sich vor meinem Auge ab, als würde ich einen Film schauen. Mit den Fingern fahre ich über die Operationsnarbe unterhalb meines Hüftknochens und unmittelbar über dem Oberschenkel, während des warme Wasser der Dusche meine Haut hinab gleitet.

„Mrs Ellen, Sie hatten einen schweren Autounfall. Sie haben Verbrennung dritten Grades an der linken Hüfte, ihr rechtes Bein war eingeklemmt und musste befreit werden, bevor man sie aus dem Wrack ziehen konnte. Es erlitt einen komplizierten Oberschenkelbruch, weshalb wir sie sofort operieren mussten. Leider wurden bei dem Unfall auch ihre Nerven eingeklemmt und beschädigt. Um eine nicht mehr reparable Schädigung der Nerven zu verhindern, musste wir auch dies sofort operieren." Als der Doktor schließlich davon angefangen hat, wie lange der Heilungsprozess dauert, habe ich aufgehört ihm zuzuhören und nur noch stumpf aus dem Fenster geschaut. Alles was ich empfand war Schmerz.

Ich komme damit klar, keine makellose Haut mehr zu haben - Narben zu haben. Doch womit ich noch nie klar gekommen bin, sind die bemitleidenden Blicke, die einem zugeworfen werden, sobald jemand diese Verletzungen zu Gesicht bekommt. Wie es ist, solche Verletzungen für jeden sichtbar zu tragen, möchte ich mir gar nicht vorstellen. Ich kann froh sein, dass man meine nur dann sieht, wenn ich kaum etwas anhabe. 

Gerade für die Karriere auf der Bühne, können sichtbare Verletzungen schnell zum Aus führen. Was wirklich bitter ist. Dabei haben doch gerade Narben Charakter. Ich selbst als Zuschauer würde mich nicht daran stören, ob jemand Verletzungen an Armen oder ähnliches hat. Doch leider sehen die meisten Produktionen das anders. 

Es wird immer wieder in Auditions nach Schönheit gestrebt. Dabei ist Schönheit so subjektiv. 

Schön ist man nicht nur, wenn man volle Lippen hat.

Schön ist man nicht nur, wenn man einen perfekten Körper hat.

Schön ist man nicht nur, wenn man ein makelloses Gesicht hat.

Schön ist man nicht nur, wenn man strahlendes, langes Haar hat. 

Schön ist man nicht nur, wenn man ein hübsches Lächeln trägt.

Zur Schönheit zählt viel mehr als nur das Aussehen. 


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