• Kapitel 4 •

Nachdem wir uns als Person, aber auch besonders unseren Werdegang vorgestellt haben und eine kleine Szene miteinander spielen sollten, hat die Jury Sabine dankend nach Hause geschickt. Dabei hat sie sich sehr gut in die Rolle reingefunden, wie ich fand. Aber manchmal ist es auch nur die Präsenz oder das Aussehen, das am Ende einfach nicht passt. Man kann noch so viel Talent haben, wenn die Jury findet, du siehst nicht der Rolle entsprechend aus, hast du kaum eine Chance. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Branche manchmal wirklich oberflächlich ist. Und diese Oberflächlichkeit ist ein großer Nachteil meiner Leidenschaft. Schon als Kind konnte ich nicht gut mit Ungerechtigkeit umgehen, weshalb ich es nicht verstehe wieso eine Rolle wie die der Sarah dünn sein muss, das perfekte Gesicht haben muss, eine gewisse Größe haben muss und und und...

„Mia, ich würde dich dann jetzt bitten. Singst du bitte die erste Strophe von Sarah und einmal den Refrain von Totale Finsternis?" Ralf lächelt mich aufmunternd an. Es mag ein Vorteil sein, dass wir uns bereits kennen. Es kann aber genauso gut auch ein Nachteil sein, denn vielleicht suchen sie tatsächlich ein frisches Gesicht, dass noch nie Sarah gespielt hat. Doch hätten sie mich dann überhaupt eingeladen? Ich habe unter all den Gesichtern heute auch das einer jungen Frau erkannt, die eine Zeit lang die Zweitbesetzung der Rolle gespielt hat.

Doch darüber denke ich jetzt nicht weiter nach. Ich versetze mich in meine Rolle, in die entsprechende Gefühlslage und lege anschließend alles was ich habe - alles was ich bin - in meine Stimme. Mit geschlossenen Augen beginne ich den Song, der mir von der Zunge geht, als wäre es das Normalste auf der Welt für mich ihn zu singen.

„Manchmal in der Nacht fühl ich mich einsam und traurig, doch ich weiß nicht, was mir fehlt." Blinzelnd öffne ich meine Augen wieder und schaue voller Sehnsucht in Richtung der Jury. „Manchmal in der Nacht hab ich fantastische Träume, aber wenn ich aufwach quält mich die Angst." Ich blicke über die Köpfe vor mir hinweg, als würde ich etwas in der Ferne sehen. „Manchmal in der Nacht lieg ich im Dunklen und warte, doch worauf ich warte ist mir nicht klar. Manchmal in der Nacht spür ich die unwiderstehliche Versuchung einer dunklen Gefahr."

Ich stelle mir vor, dass ich nicht alleine singe, dass ich mit dem Hauptdarsteller gemeinsam auf der Bühne stehe und er langsam die Wendetreppe hinabsteigt. Ich stelle mir vor, ich hätte das typische Outfit von Sarah an. Das ich ausgerechnet heute ein weißes Kleid angezogen ist kein Zufall.

Alles um mich herum verblasst und wo ich eben noch die Jury gesehen habe, sehe ich nun das Publikum, das mich mit großen Augen und Faszination ansieht. Als ich beim Refrain ankomme, stelle ich mir vor, dass der Darsteller von dem Grafen nun hinter mir steht. Mit meiner Körpersprache gebe ich zu verstehen, dass ich seine Anwesenheit deutlich spüren kann, auch wenn ich es noch nicht wage mich umzudrehen.

„Sich verlier'n heißt sich befrei'n, du wirst dich in mir erkennen. Was du erträumst wird Wahrheit sein, nichts und niemand kann uns trennen. Tauch mit mir in die Dunkelheit ein. Zwischen Abgrund und Schein, verbrennen wir die Zweifel und vergessen die Zeit. Du hüllst mich ein in deinen Schatten und trägst mich weit."

Voller Freude beende ich meinen Part, genieße das Kribbeln in meinem Bauch, das Adrenalin, das durch meine Adern strömt und die Gänsehaut, die über meine Haut fährt. Von hinten vernehme ich leises Getuschel, doch die Jury ist mucksmäuschenstill.

Ralf beginnt sich zu räuspern, erhebt sich und steckt mit den anderen Jurymitgliedern die Köpfe zusammen. Entweder finden sie mich sehr gut, oder sie schmeißen mich nun raus. Denn eigentlich haben sie sich bisher immer nur zugenickt, wenn sie der Meinung waren, dass das Mädchen weiterkommen sollte. Miteinander gesprochen haben sie immer nur dann, wenn sie jemanden direkt weggeschickt haben.

Ich zähle die Sekunden, bis Ralf sich endlich wieder auf seinen Stuhl setzt und mich ohne jegliche Emotionen im Gesicht ansieht. Er hat das perfekte Pokerface, was nicht gerade förderlich für meinen Puls ist. „Wir werden uns natürlich noch weitere Kandidatinnen angucken. Aber du warst bisher besser als jede andere vor dir. Daher tut es mir leid, sagen zu müssen, ..." Mein Herz bleibt stehen. „...dass alle, die wir zuvor gesehen und weitergelassen haben nach Hause fahren können. Für die Zweit- Dritt- und Viertbesetzung würde wir uns die Tage telefonisch mit euch in Verbindung setzen. Danke, dass ihr hier wart."

Das Getuschel, das gerade noch leise von hinten an mein Ohr drang, wird mit einem Mal lauter. Auch wenn es mir für jedes Mädchen leid tut, das denselben Traum hat wie ich, freue ich mich gerade so sehr, dass ich Nadine am liebsten in die Arme springen würde. „Danke Mia. Das war eine nahezu perfekte Performance. Ich bin ehrlich gesagt gespannt, ob dies noch jemand toppen kann."

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht drehe ich mich um und gehe auf Nadine zu. „Du warst so gut. Sie nehmen dich. Ich bin mir so sicher", sagt sie voller Begeisterung und scheint sich wirklich für mich zu freuen, was ich von den Frauen um uns herum nicht gerade behaupten kann. Manche Blicke, die mir zugeworfen werden, sehen tödlich aus. „Jetzt heißt es warten. Und ich hasse warten", lasse ich Nadine wissen und nehme einen großen Schluck von dem stillen Wasser, das uns hier zur Verfügung gestellt wird.

Die restliche Zeit vergeht wie im Fluge. Kurz nach mir war auch Nadine schon dran und hat leider eine Absage bekommen, genau so, wie viele weitere Mädels, die performt haben. Doch anstatt zurück in ihr Hotel zu gehen, wartet sie mit mir, weil wir später gemeinsam etwas essen gehen möchten und sie fast genauso gespannt ist wie ich, wer am Ende die Rolle bekommt.

Von Weitem höre ich, wie Ralf meinen Namen ruft und mich nach vorne winkt. Meine Hände sind vor Aufregung so nassgeschwitzt, dass ich sie mir an meinem Kleid abwische. Neben mir steht ein wirklich hübsches Mädchen, mit kurzen dunkelblonden Haaren. Entweder ist sie deutlich jünger als ich, ich würde sie auf 20 schätzen oder sie hat sich einfach nur verdammt gut gehalten, wo die meisten Frauen hier doch um die Mitte 20 sind.

„Ich würde dich bitten auch noch hier zu bleiben, Anna. Du hast sehr gut gesungen, nur die Darbietung war für uns noch nicht ganz ausgereift. Deshalb würden wir dich und auch dich Mia noch einmal im Zusammenspiel mit unserem Graf von Krolock sehen wollen. Meine Kollegen in Raum 17 haben dort schon eine Vorauswahl getroffen, die ich mir gleich ansehen werde. Bitte kommt doch in einer Stunde in Raum 17 und macht solange eine Pause."

Nickend stimmen wir beide Ralf zu. Ich reiche der blonden Frau die Hand. „Hi, ich bin Mia", stelle ich mich ihr vor. „Anna. Ich kann es gar nicht glauben, dass ich in der engeren Auswahl bin. Ich habe dich von hinten beobachtet und du warst so grandios." Eine zarte Röte steigt mir ins Gesicht. „Danke. Du warst aber auch wirklich gut. Möchtest du vielleicht mit mir und meiner Freundin Nadine die Pause verbringen?" Mit einem hastigen Nicken stimmt sie meinen Vorschlag zu.

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Gefällt euch Kapitel 4? Wird Mia die Rolle bekommen? Was meint ihr? ♥️

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