• Kapitel 12 •

„Das sitzt wie angegossen, als wärst du nie weg gewesen", sagt Carla, die Chefin unter den Kostüm- und Maskenbildnern. Sie ist schon seit Jahren dabei und fest angestellt für Tanz der Vampire. „Es ist so schön, dass du wieder da bist. Nur schade, dass Jan nicht wieder den Grafen verkörpert", fügt sie noch hinzu und streicht mir über die Schultern, um den weißen Stoff glatt zu bekommen. 

Nickend stimme ich ihr zu. Wenn sie nur wüsste, wie schade es ist, dass Jan nicht die männliche Hauptrolle spielt. Das weiße Kleid, das ein Nachthemd darstellen soll passt tatsächlich noch immer wie angegossen, was es für Carla einfacher machen dürfte, da sie nichts umschneidern muss. 

„Hast du noch Kontakt zu ihm?" 

„Ja, wir stehen im regelmäßigen Kontakt. Du weißt ja, er ist sowas wie ein großer Bruder", antworte ich ihr lächelnd. Ich habe ihm vieles zu verdanken. Besonders dankbar bin ich aber dafür, dass er selbst in meinen dunkelsten Stunden für mich da war. Ich habe mir immer einen älteren Bruder gewünscht und ihn vor Jahren mit Jan bekommen. 

„Grüß ihn ganz lieb von mir", bittet mich Carla. Sie ist definitiv die gute Seele hinter der Bühne und jeder, der sie kennenlernt, schließt sie sofort ins Herz. 

„Und jetzt zieh dich um Liebes, das letzte Kostüm ist der Naked Suit. Dann hast du es geschafft." 

Ich befolge ihre Anweisung und zwänge mich in den hautfarbenen Hauch von Nichts. Dieses viel zu enge Teil sitzt wie eine zweite Haut, schließlich soll es genau das darstellen. Auf der Bühne nackt auszusehen ist fast so unangenehm wie tatsächlich nackt zu sein. Nicht, dass ich letzteres schonmal ausprobiert hätte, ich stelle es mir nur ähnlich vor. Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen wirklich glauben, dass die Sarah Darstellerin komplett nackt in der Badewanne hockt, während der Graf vor ihr steht und ihr ein Liedchen trällert. 

„Carla? Deine Assistentin wollte, dass du dir das mal ansiehst. Das Hemd ist ein wenig eng." 

Ich höre Marks Stimme, als ich gerade aus der kleinen Umkleide hinaustrete. Perfektes Timing, Mark. Danke. Automatisch halte ich mir die Hände vor die Brust, obwohl man eigentlich nichts anderes als hautfarbenen Stoff sehen kann. 

„Wie wäre es, wenn du anklopfst, bevor du einen Raum betrittst?", fragt ihn Carla, doch anstatt sie anzusehen, starrt er mich ohne jegliche Emotionen im Gesicht an. 

Unmerklich schüttelt er für eine Sekunde den Kopf und reißt seinen Blick von mir los. „Entschuldigung, ich komme später nochmal wieder." Die Verunsicherung in seiner Stimme bringt mich zum grinsen. 

„Das ist aber ein Schnuckelchen unser neuer Graf", sagt sie und beginnt damit an dem Suit rumzuzupfen. Ich hingegen bin mit meinen Gedanken schon ganz woanders. 


VERGANGENHEIT 

Heute ist mein erster Probetag für die Sommernacht des Musicals. Jan kann leider erst später kommen, weshalb ich erst einmal mit Mark proben soll. Ich ziehe wie eine Verrückte an dem Rockzipfel meines gelben Kleides. Vielleicht hätte ich mich doch lieber für eine kurze Hose entscheiden sollen. Ich sehe aus, als wäre ich auf dem Weg zu einem Picknick im Park.

„Wow, der Spruch sie strahlt als würde die Sonne aufgehen, bekommt bei dir eine ganz neue Bedeutung." Erschrocken blicke ich auf und sehe in ein wunderschönes Gesicht. Ich war so sehr mit meinem Kleid beschäftigt, dass ich gar nicht mitbekommen habe, dass ich mich auf Mark zubewegt habe, geschweige denn, dass er überhaupt hier ist. 

Sofort schießt mir die Röte in die Wangen und ich gehe seinem Blick aus dem Weg. „Hi", ist alles was über meine Lippen kommt. 

Ich würde mal behaupten, dass jeder Mensch eine Lieblingsaugenfarbe hat. Meine war immer grün. Doch das war, bevor ich in Marks Augen geblickt habe. Ich habe noch nie ein so vielschichtiges Braun gesehen. Oder aber ich habe nie wirklich hingesehen. 

„Wie geht es dir?", möchte er wissen und noch ehe ich mich versehe hat er mich in ein Gespräch verwickelt. Wir betreten gemeinsam einen kleinen Raum, in dessen Mitte ein weißes Klavier steht. 

Die Anspannung und Nervosität, die ich gerade noch empfunden habe, ist mit einem Mal verschwunden. Es vergehen mehrere Minuten, in denen wir uns über alles unterhalten, nur nicht über das, weshalb wir hier sind. Die Proben rücken in den Hintergrund, während wir es uns auf dem länglichen Hocker vor dem Klavier bequem machen. Zugewandt zueinander verfolge ich jede Bewegung seiner Lippen, sobald er spricht. Ich präge mir jedes Stirnrunzeln, jede Lachfalte, jeden Ausdruck in seinen Augen so sehr ein, als hätte ich Angst es könnte das letzte Mal sein, dass ich es zu Gesicht bekomme. 

Es ist so leicht mit Mark zu reden. Normalerweise spreche ich nur sehr ungerne über mich selbst. Ich lasse Leute gerne reden und höre ihnen zu; darin bin ich gut. Doch ich vermeide es stets, dass sich das Gespräch um mich dreht. Aber irgendwas in diesen warmen, braunen Augen legt eine Brücke zu meiner Seele und gibt mir die Möglichkeit loszulassen. 

Gemeinsam beginnen wir zu lachen, nachdem Mark eine Anekdote über einen gemeinsamen Bühnenauftritt mit Jan ausgeplaudert hat. Wie selbstverständlich beuge ich mich beim Lachen nach vorne und stütze mich mit meiner Hand oberhalb seines Knies ab. 

Und plötzlich ist sie da; Stille. 

Unter seinen dichten Wimpern schaut er mir direkt in die Augen, was dazu führt, dass ich meine Hand ruckartig von seinem Oberschenkel zurückziehe. Ich weiß nicht, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe. So geborgen. Als würde ich Mark nicht erst seit zwei Tagen, sondern viel eher schon seit zwei Jahren kennen. 

„Du hast auf deiner rechten Gesichtshälfte mehr Sommersprossen als auf der linken." Er wagt es als erster die Stille zu durchbrechen. 

„Was?", frage ich verwirrt. 

„Deine Sommersprossen...", beginnt er und hebt seine Hand. Ohne mich zu berühren schwebt seine Hand vor meinem Gesicht. Er hält für eine Sekunde in der Bewegung inne, bevor er mit dem Zeigefinger über meine rechte Wange fährt. 

Dies ist der Moment, in dem ich mich seiner Berührung entziehen sollte. Der Moment, vor dem ich im Studium immer gewarnt wurde. Man sollte sich niemals in einen Kollegen verlieben, denn der Zauber hält nur so lange an bis man die Bühne wieder verlässt. Doch Mark und ich stehen auf keiner Bühne, wir müssen nichts spielen, wir müssen nur für ein Konzert proben und danach trennen sich unsere Wege wieder. 

Langsam, als würde er die Wärme, die von seiner Hand ausgeht, genau so fühlen wie ich, fährt er mit seinen Fingern meinen rechten Wangenknochen entlang. Seine Augen folgen dabei jede seiner Bewegungen. Als er an meinem Ohr angelangt ist, streicht er meine Haare sanft hinter das Ohr, was mir ein kurzes Lächeln entlockt. 

Es liegt eine solche Anspannung in der Luft, das typische Knistern, das ich nur aus Büchern kenne, dass ich glaube gleich den Verstand zu verlieren. Mein Herz rast so sehr, dass ich Angst habe er könnte es schlagen hören. 

„Gott. Du bist so verdammt schön." 

Bum. Bum. Bum. Ist das der Moment, in dem ich falle? Wie können so simple Worte eine so große Wirkung auf einen haben? 

Bevor ich ihm danken kann, steht er auf und durchbricht das, was soeben zwischen uns war. 

Er geht um das Klavier herum und holt zwei weiße Blätter aus seiner Tasche hervor. „Kennst du den Song?", fragt er mich, als er wieder näher an mich herantritt. 

Direkt vor mir bleibt er stehen und der Ausdruck in seinen Augen, das Kräuseln seiner Lippen verrät mir, dass er verunsichert ist. Dieser Mark, den ich gerade zu Gesicht bekomme, passt so gar nicht zu dem, was Jan mir über ihn gesagt hat. Mark sei die Selbstsicherheit in Person, weiß genau, wie er bei Frauen ankommt und spielt gerne mal den Casanova, hat Jan mir gesagt.

Und vielleicht stimmt das auch. Doch jetzt. Hier. In diesem Moment spielt er nichts. 

Ich denke gar nicht erst darüber nach, was ich imstande bin zu tun. Langsam komme ich auf meine Beine. Der minimale Abstand zwischen uns ist alles andere als angebracht. Doch das ist mir egal. Ich schließe meine Augen und atme tief durch, nehme den Geruch von Sandelholz und frischem Deo wahr. 

Als ich meine Augen wieder öffne scheint durch die Fenster ein wenig Sonnenlicht auf sein Gesicht und da erkenne ich es. Das Grün in seinen braunen Augen. Wie in Zeitlupe beginne ich zu lächeln und es scheint, als würde er jede Bewegung meiner Lippen aufmerksam verfolgen.

Ich weiß nicht, wer den ersten Schritt gemacht hat. Ich weiß nicht, wer dem anderen zuerst entgegen gekommen ist. Plötzlich sind unsere Lippen eins. Mein Herz schreit renn und bleib gleichzeitig. Doch das verstummt, als ich seine Hand in meinem Nacken spüre und er mich näher an sich zieht. Zwischen unsere Körper passt kein Blatt Papier mehr. 

Mark packt mich unterhalb meiner Oberschenkel und seine Finger auf meinen nackten Beinen lassen meinen Körper in Flammen aufgehen. Mit einer eleganten Bewegung hat er mich auf dem Klavier abgesetzt, ohne auch nur für eine Sekunde unsere Lippen voneinander zu trennen. Wer braucht schon Luft zum atmen, wenn man stattdessen so geküsst werden kann. 

Seine Brust hebt und senkt sich mindestens so schnell wie meine eigene, als er sich schließlich von meinem Mund losreißt. „Verdammt, ..." Er kommt gar nicht dazu mehr zu sagen, weil ich ihn an seinem T-Shirt packe und erneut meine Lippen auf seine drücke. 

In diesem Moment verlor alles andere an Gewicht.


GEGENWART

„Mia?"

Ich war zu sehr in Gedanken versunken, um meinem Namen Bedeutung zu schenken. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich hier schon seit einigen Minuten stehen muss. Wie eine Stalkerin stehe ich im Türrahmen und beobachte das Geschehen einige Meter von mir entfernt.

Der Vocalcoach sitzt am Klavier, während Mark das Lied Die unstillbare Gier singt. Seine Stimme hat mich schon immer gefesselt und das wird sich vermutlich auch niemals ändern.

 „Sag mal. Bist du taub?" Nadine drängt sich in mein Blickfeld. 

 „Entschuldigung, ich war gerade irgendwie woanders", gestehe ich ihr.

 „Offensichtlich. Und ich weiß auch ganz genau wo. Beziehungsweise bei wem." Sie deutet mit einem Kopfnicken in Marks Richtung. 

Wir haben jetzt eine Stunde frei, lass uns etwas zu Mittag essen und du erzählst mir dabei mehr von dir und Mark. Ein Teil von mir würde gerne verneinen, der andere Teil hofft, dass das Reden dabei hilft zu vergessen. 

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