• Kapitel 10 •
VERGANGENHEIT
„Wer ist das?", frage ich Jan, als wir den Proberaum betreten und deute dabei auf einen großen Mann mit blonden Haaren, den ich nur von hinten sehen kann. Noch immer kann ich es nicht glauben, dass Jan mich weiterempfohlen hat und die Veranstalter mich dann auch tatsächlich für ihre Show gebucht haben. Jedes Jahr findet unter freiem Himmel für drei Abende, in einer atemberaubenden Kulisse ein Konzert statt, bei dem verschiedene Darsteller die Top Musicalhits performen. Im Gegensatz zu einem richtigen Musical, geht es hier rein um den Gesang.
Mit zusammengekniffenen Augen sieht mich Jan an. „Was denn?", frage ich ihn lachend, während wir der kleinen Gruppe näher kommen, die rund um das schwarze Klavier steht.
„Das ist Mark", antwortet er mir. „Sag mir nicht du kennst ihn nicht? Er spielt den Tod bei Elisabeth." Ich gehe den Namen immer und immer wieder in meinem Kopf durch, doch mir fällt beim besten Willen kein Gesicht dazu ein, obwohl ich das Stück schon einmal gesehen habe.
Ich bin wirklich aufgeregt, nicht nur, weil ich heute große Namen aus dem Musicalbusiness treffe, sondern auch, weil ich seit langem mal wieder andere Lieder proben darf, als die aus Tanz der Vampire. Seit einigen Monaten spiele ich dort nun an der Seite von Jan, der den Grafen spielt, die Hauptrolle. Für die Sommernacht des Musicals werden wir drei Wochen lang proben, für diese Zeit wird die Zweitbesetzung unsere Rollen auf der Bühne übernehmen.
„Hi Leute", begrüßt Jan alle in der Runde und legt seine Hand schwer auf Marks Schulter, der sich daraufhin zu uns umdreht.
Jetzt macht es klick.
Als ein Lächeln auf Marks Lippen erscheint, bleibt mir für einen Moment die Luft weg. Sofort erinnere ich mich an seine unglaubliche Bühnenpräsenz und an seine atemberaubende Stimme. Und verdammt, er sieht von nahem noch besser aus. Sein Lächeln wird immer breiter und entlarvt ein tiefes Grübchen, das seinem Gesicht schmeichelt.
„Moin. Ich bin Mia." Obwohl ich eigentlich zu allen sprechen möchte, halten mich Marks Augen noch immer gefangen.
„Ah herrlich, endlich bin ich nicht mehr der Einzige, der aus Hamburg kommt. Hallo Mia", entgegnet mir ein kleiner Mann mit dunklen Haaren und hält mir über das Klavier hinweg seine Hand hin. Damit reißt er mich aus meiner Starre und ich beginne mich leise zu räuspern. Nach und nach schüttle ich jedem die Hand, bis auf die von Mark.
Während Rosalie, eine blonde Frau mittleren Alters, damit beginnt die Songs für das Konzert aufzuzählen, spüre ich Marks Blick deutlich auf mir. Das ist ein Satz, den ich immer in Büchern gelesen habe und bei dem ich immer gedacht habe; wie zur Hölle soll man den Blick von jemanden auf seiner Haut spüren. Doch nun erfahre ich am eigenen Leib, dass dies wirklich möglich ist.
„Mia. Du bist die Neue in unserer Runde, welche Lieder würdest du gerne singen, abgesehen natürlich von den Tanz der Vampire Stücken, die wirst du sowieso mit Jan singen." Rosalie sieht mich strahlend an. Sie ist eine dieser Frauen, die immer etwas mütterliches ausstrahlen und von denen man glaubt, dass sie keiner Fliege etwas zuleide tun können.
„Ich bin ein wandelndes Klischee, ich weiß. Aber ich würde unglaublich gerne 'Memory' aus Cats singen", gestehe ich mit Blick auf die Songliste, die mehrmals auf dem Klavier liegt, sodass jeder reinschauen kann. Viele der Lieder werden auf dem Konzert in der Originalfassung, also auf englisch, gesungen. „Oh, und 'she used to be mine' aus Waitress."
Rosalie fragt, ob irgendwer Einwände zu meinen Wünschen hat, doch es bleibt ruhig. Als ich sehe, wie sie meinen Namen hinter die Lieder schreibt strahle ich wie ein Honigkuchenpferd.
Ohne großes Aufsehen zu erregen klopft mir Jan stolz auf die Schulter. Ich schaue ihn lächelnd an und forme mit meinen Lippen ein Danke. Schon auf dem Weg hierher habe ich ihm tausend Mal dafür gedankt, dass er meinen Namen genannt hat, als die Veranstalter ihn nach weiblichen Sängern gefragt haben.
Zwanzig Minuten lang diskutieren wir, wer welche Songs singen wird. Wir sind zu sechst; Rosalie, Jan, Mark, Julian, Sascha und ich.
„Nichts gegen dich Rosalie, aber ich finde Mia sollte mit mir 'wenn ich tanzen will' singen. Ihre Stimme passt perfekt dazu", meldet sich Mark zu Wort und sieht mich dabei an. Ich bin mindestens einen Kopf kleiner als er und dadurch, dass er mittlerweile direkt neben mir steht, muss ich meinen Kopf leicht in den Nacken legen.
Rosalie beginnt herzhaft zu lachen und sagt: „Hast du sie überhaupt schon singen gehört oder bin ich dir einfach nur zu alt?" Sie zwinkert ihm spielerisch zu.
„Ich war auf der Premiere von Tanz der Vampire", antwortet er ihr mit einem Schmunzeln auf den Lippen.
Ich würde ihn gerne fragen, ob er sich sicher ist, denn aufgefallen ist er mir an diesem Abend nicht. Doch ich bleibe ruhig. An diesem Tag war ich so nervös und voller Adrenalin, dass ich vieles ausgeblendet habe.
„Wenn Mia damit einverstanden ist." Rosalie und auch alle anderen schauen mich erwartungsvoll an. Ich kenne das Lied, ich habe das Musical Elisabeth vor etwas längerer Zeit mal in Wien angeschaut.
Bevor ich antworten kann legt sich Marks Hand direkt auf meine, mit der ich mich am Klavier abstütze. „Wir rocken das schon", versichert mir Mark. Als ich spüre, wie sein Daumen leicht über meine Haut kreist, vergesse ich für einen Moment wie man spricht. Verknall dich bloß niemals in jemanden, der ebenfalls Darsteller ist. Eine goldene Regel, die mir schon beim Studium immer und immer wieder gesagt wurde.
Ich ziehe meine Hand unter seiner weg, was alle kurz auflachen lässt. „Aber sicher doch", antworte ich schließlich ein wenig zu ironisch.
GEGENWART
„Ihr habt euch also bei den Proben bei der Sommernacht des Musicals kennengelernt?", fragt Nadine mich völlig außer sich, als wäre es etwas total verrücktes. „Das wusste ich ja gar nicht. Ich wusste, dass er für drei Wochen bei Elisabeth ausgesetzt hat, um für das Konzert proben zu können, aber nicht, dass ihr euch dort kennerlernt habt."
Sie nimmt ihr Glas Rotwein in die Hand und trinkt einen großen Schluck.
„Ich hätte gerne auch einen Rotwein", sage ich zu dem netten Mann hinter der Theke. Eigentlich habe ich mir geschworen bei Wasser zu bleiben, als wir uns dazu entschieden haben noch einen Abstecher an die Hotelbar zu machen, schließlich müssen wir morgen früh aufstehen. Doch da wusste ich noch nicht, dass ich Nadine nun doch ein wenig mehr über Mark und mich erzählen werde. Ohne Alkohol werde ich das vermutlich nicht ertragen können.
Anna hatte eine anstrengende Anreise hinter sich, weshalb sie lieber schon etwas früher ins Bett wollte und auf ihrem Zimmer geblieben ist. Dabei wäre sie meine Rettung gewesen. Wäre sie hier, hätte ich eine fantastische Ausrede, weshalb ich mit Nadine nicht über Mark reden kann.
„Ok warte. Das bedeutet ihr kennt euch schon fast drei Jahre, oder?"
Jetzt wo sie es sagt. Manchmal kommt es mir so vor, als wären es nur wenige Monate gewesen.
Aber so ist es schließlich immer im Leben. Die guten Moment gehen so schnell vorbei wie ein Wimpernschlag - wohingegen die schlimmen Momente einem vorkommen wie eine halbe Ewigkeit.
„Und wie ging es weiter? Wann seid ihr euch das erste Mal näher gekommen?", möchte sie wissen. Vermutlich erwartet sie etwas ganz anderes, als die Antwort, die ich ihr gleich geben werde. Aber hey, ich war jung und naiv.
„Zwei Tage später." Meine Antwort klingt viel mehr nach einer Frage, so zögernd spreche ich die Worte aus. Es ist nichts, worauf ich stolz bin.
„WAS?", brüllt Nadine, was uns die Blicke von einigen der anderen Hotelgäste einbringt.
Meine beste Freundin Laura sagt immer, wenn sie die Zeit zurückdrehen könnte würde sie nichts - rein gar nichts -anders machen. Selbst ihre größten Fehler würde sie nochmal begehen.
Ich nicht. Ich definitiv nicht. Ich würde so vieles anders machen. Ich würde nicht diesen bescheuerten Song mit Mark singen. Ich würde ihn nicht länger als nötig in die Augen sehen. Ich würde ihm nicht auf die perfekten Lippen starren und vor allem würde ich ihn nicht küssen. Alles Dinge, die ich aus meiner Vergangenheit gerne streichen würde.
Aber man will so vieles, doch am Ende bekommt man nichts.
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Ich hoffe, es hat euch nicht gestört, dass ich ein kleinen Teil aus der Sicht der Vergangenheit geschrieben habe. Ich würde das gerne hin und wieder mal machen, um einfach deutlicher machen zu können, was Mia und Mark verbunden und schließlich auseinander gebracht hat. ♥️
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