Kapitel 97 - The Dark Night Rises

Song Inspiration: In This Shirt – The Irrepressibles, She Knows – J. Cole

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Kapitel 97 – The Dark Night Rises

--- Sonnenuntergang. ---

Valentin Morgenstern. Mörder von Jace' Eltern. Mörder seines eigenen Sohnes, Mörder seiner Ehefrau, Mörder seiner Tochter.

Gekleidet in Schattenjägerschwarz wirkte er wie ein gewöhnlicher Nephilim. Die farblosen Adamantplatten, die seine lebenswichtigen Organe versteckten und seine Schultern zierten verrieten nichts über seinen Status; verrieten nicht, wer er war.

„Lord Valentin", hörte Jace Milo Coldridge links von sich sagen. Unterwürfig und zurückhaltend, wie es für einen loyalen Anhänger des Kreises gewollt war. „Die Zeit?"

Valentin reagierte nicht unmittelbar. Den Rücken weiter dem Strand zugekehrt, badete sein Gesicht in den letzten Strahlen der Sonne. Als verdiene er ihre Wärme. Auch ohne sein Gesicht zu sehen, ließ seine erhabene Körperhaltung Rückschlüsse auf seine Identität zu. Voll von sich selbst. In dem Glauben, den Willen der Engel zu befolgen. Ein König, Minuten vor der eigenen Krönung.

Dreißig Sekunden, vielleicht sogar eine Minute, vergingen, bis Valentin schließlich den Blick vom Sonnenuntergang löste, der sich langsam in der Finsternis der kommenden Nacht auflöste. Seine dunkelbraunen Iriden wirkten heller. Wie von der Sonne berauscht.

Damals, bevor Jace seinen Hass für diesen Mann zur Seite hatte schieben können, war er alles gewesen, was Jace auf ihrem Gesicht gesehen hatte. Doch jetzt, dem Teufel höchstpersönlich in die Augen blickend, sah Jace nicht nur Valentin Morgenstern. Er sah sie. In der klugen Kalkulation, während sein Blick über sie alle hinwegglitt und er die vorliegende Szenerie schweigend analysierte. In der neutralen Linie, zu der er seine Lippen zwang – sie hatte es getan, um ihre Emotionen zu verstecken; er, um die Vehemenz seiner Präsenz wirken zu lassen.

Nun, wo er Valentin Morgenstern das erste Mal leibhaftig gegenüberstand, bereute Jace endgültig die Wochen der Folter, die er Clary ausgesetzt hatte. Denn auch wenn das Erste auf Valentins Gesicht sie gewesen war, war in Summe kaum etwas von ihr in diesem Mann zu finden. Jonathan hingegen glich seinem Vater in deutlich mehr Hinsichten, die jedoch hauptsächlich äußerer Natur waren. Trotz seines dämonischen Wesens hatte er sich mit Ausnahme der Körperhaltung nur wenig von ihm abgeschaut, wie es schien. Zumindest, was die dämonischen Monate seiner Existenz anging.

„Wie erfreulich, dass ihr euch zu uns gesellt", sprach Valentin, seine Stimme nicht entzifferbar. Jace vermutete, dass wohl nur seine Kinder in der Lage waren, ihn bis zu einem gewissen Grad zu lesen. In einer weiten Geste streckte er den linken Arm aus.

Da erst erinnerte Jace sich daran, dass er diesem Mann die rechte Hand abgeschlagen hatte. Und tatsächlich fehlte am Ende seines rechten Ärmels die Hand.

Als spürte Valentin seine Aufmerksamkeit, bohrten sich dessen Augen in Jace, als würde er ihn erst nun wahrhaftig erkennen. Ein Lächeln formte sich auf seinen Mundwinkeln. Ein Lächeln, welches nicht an Jonathans Boshaftigkeit erinnerte. Schlimmer. Er war der geduldige Bösewicht, der achtzehn Jahre auf diesen Moment gewartet hatte. Er würde nicht aus der Haut fahren, um auf impulsive Weise mit Jace abzurechnen. Er würde warten, bis sich die perfekte Gelegenheit ergab, um es ihm tausendfach heimzuzahlen, ohne dabei seine Kultiviertheit fallenzulassen.

„Jace Herondale." Sein Name ging Valentin geübt von der Zunge. Als hätte er hunderte Konversationen über ihn geführt. Als würden sie sich kennen. Wie eine Viper vor dem Angriff, beugte er seinen Kopf ein kleines Stück in seine Richtung. Vielleicht um ihn genauer zu betrachten. Vielleicht um bedrohlich zu wirken. Etwas wie Verwirrung spiegelte sich in seinen empathielosen Augen. „Du siehst aus, als hättest du geweint."

Die Bemerkung warf Jace schlagartig zurück in die Realität. Endlich in der Lage, seinen Blick von Valentin zu lösen, folgte er seinem noch immer ausgestreckten Arm. Nur um Isabelle direkt auf seiner Rechten knien zu sehen. Und Adam neben ihr. Und Lyall neben ihm. Und dahinter ... dahinter knieten Aaron Wrayburn und die Schattenjägerin, die sich die Haare gefärbt hatte, um Clary zu imitieren.

Sie alle starrten ihn an, als wäre er hier die Anomalie und nicht Valentin verdammt nochmal Morgenstern.

„Kein Interesse an einer Konversation?", fragte Valentin und verließ das Wasser. Mit einem Gang so einheitlich wie der eines Königs schritt er auf das andere Ende der Reihe an Geiseln zu. Zur falschen Clary.

Das penetrante Gefühl, jeden Moment zu kotzen, ließ Jace den Kopf nach links wenden.

Vanessa Ashdown stand immer noch an Ort und Stelle, als hätte sie Wurzeln geschlagen. Nur lag ihre Aufmerksamkeit nicht auf ihrem Lord, sondern auf Jace. Etwas huschte über ihre eckigen Züge, als er ihre in Sonnenlicht getauchten Augen traf. Was auch immer dieses Etwas war, es verschwand so schnell, wie es gekommen war. Milo, der wieder in ihrem Schatten stand, löste sich von ihr, um sich hinter Isabelle zu positionieren. Vanessa folgte seinem Beispiel. Jace spürte den feinen Wind in seinem Nacken, als sie ihre Hand bewegte; wahrscheinlich um ihre Axt zu zücken. Er versprach sich, dass er sie töten würde, ehe er Valentin den Garaus machte. Jeder der auch nur halbwegs mit Blake verwandt war und seine Taten auch nur für einen Tag gebilligt hatte, verdiente nichts anderes.

„Wirklich bedauerlich, dass niemand von euch bereit ist, sich mit mir zu unterhalten", seufzte Valentin und zeigte auf die letzten Strahlen der Sonne. Die Nacht war fast eingekehrt. Noch wenige Momente und es würde sein, als hätte die Sonne nie existiert. „Bereit, einige Fragen zu beantworten."

Da die allgemeine Aufmerksamkeit nicht länger auf Jace fixiert war, schaute er sich im Lager um. Soweit es ihm, mit zugekehrtem Rücken möglich war.

Es glich einem kleinen Dorf. Schwarze Zelte säumten nördliche Fläche, weiter vom feineren Kies und den Gezeiten entfernt. In einiger Distanz tummelte sich eine Gruppe Nephilim, die Valentins Worte verfolgte. Mit Ausnahme von Vanessas Einheit, die sich hinter ihren Geiseln platziert hatten, hielten alle anderen einen gesunden Abstand zum Geschehen. Ihre Mienen strahlten eine vergiftete Genugtuung aus, als würde ihnen alles recht sein, was Valentin in den nächsten Minuten entschied. Ihre Gesichtszüge sprachen eine deutliche Sprache: Sie wussten, dass sie einem Mörder folgten – es interessierte sie nicht. Die einen folgten ihm, weil er ihre Werte vertrat und sie nur nie den Mumm gehabt hatten, eigenständig zu handeln. Die anderen folgten ihm, weil sie dem Stern zum Greifen nah sein wollten; weil nur ein Funke seines Lichts ihnen mehr Macht bot, als sie im Rat jemals halten würden. Wie Motten wandten sie sich von ihrer eigentlichen Lichtquelle ab, weil sie eine vermeintlich größere gefunden hatten. Doch Motten waren nicht intelligent genug, um zu verstehen, dass sie verglühen würden, sobald sie dem falschen Licht zu nah kamen.

Obwohl sie alle kampfbereit gekleidet waren, wirkte niemand von ihnen mental bereit, sich einer tatsächlichen Schlacht zu stellen – vor allem die Älteren. Valentin hatte ihnen zwar versprochen, dass sie Teil seines Gefolges sein würden, aber vom Kampf hatte er sie sicher nicht befreit. Sie mussten glauben, dass die Dämonen die Arbeit für sie erledigen würden. Was bedeutete, dass Valentin noch nichts von Jonathans wahrem Verbleib wusste.

Jace konnte nicht einschätzen, wie groß Valentins menschliches Herr war. Der letzte Stand der Dinge war, dass sich ihm etwa siebzig Schattenjäger angeschlossen hatten. Selbst wenn davon bereits knapp zehn tot sein sollten, was er bezweifelte, gab es keinerlei Hinweise auf das Elbenheer. Mit Ausnahme einiger weniger dominierte das Schwarz der Schattenjäger dieses Lager.

„Mühe deine müden Augen nicht, nach den Feenwesen Ausschau zu halten." Valentins Scharfsinn war unübertroffen. Er befand sich noch immer am anderen Ende der knienden Reihe, musterte Jace dennoch aus adlerscharfen Augen. Aaron spannte den Kiefer an, als Valentin ihm väterlich die Schulter klopfte. „Aaron hier hat sich ihrer angenommen. Ich muss zugeben, dass du meine Erwartungen als General übertroffen hast, Aaron." Sein Mund teilte sich in einem gönnerhaften Lächeln. „Als mein Sekundant mir meldete, dass eine fünfzig Mann starke Armee direkt hierher unterwegs war, war ich überrascht. Natürlich habe ich nicht lang gebraucht, um die Illusion deines Hexenmeisters zu durchschauen. Die Armee der Feenwesen habe ich dennoch in den Wald verschieben lassen. Es muss schließlich nicht jeder auf Anhieb meine Heeresgröße abzählen können, nicht wahr, Herondale?"

Lyall und Maia hatten nicht gesehen, ob noch weitere Kämpfer von Aarons Einheit überlebt hatten, aber Valentins Aussagen untermauerten ein dunkles Bild. Es bereitete Jace Übelkeit.

Aaron räusperte sich und scheute den Blickkontakt mit Valentin nicht. Seine Tapferkeit stand außer Frage. „Sie waren ehrenwerte Nephilim. Sie haben das hinterhältige Massaker, was du über sie gebracht hast, nicht verdient."

„Es gibt keine ehrlosen Schattenjäger, Aaron. Ich bewundere jeden von ihnen für die Bereitwilligkeit, das Leben für die eigenen Weltansichten zu lassen. Allerdings bin ich bereit, für meine eigenen das Gleiche und mehr zu tun."

„Bereit die eigenen Schwestern und Brüder zu verraten. Deine sogenannten Werte haben deine Familie auseinandergerissen. An deinen Händen klebt das Blut deiner eigenen Familie, Mistkerl." Isabelles Zischen durchschnitt die unheilversprechende Atmosphäre des Strands. Die Dämmerung spiegelte sich in ihren in Valentin bohrenden Augen. Mit einer solchen Intensität, dass es Jace nicht überrascht hätte, wenn Valentin in Flammen aufgegangen wäre.

Die Quittung für ihr Ausholen bekam sie ohne Umschweife. Aus dem Augenwinkel sah Jace Milos Hand ausholen. Isabelle hatte die Zähne fest zusammengebissen, als sein Schlag ihren Hinterkopf traf. Valentin zum anderen, schenkte dem Theater keinerlei Beachtung. Er führte die Unterhaltung mit Aaron ungerührt fort, als hätte Isabelle nie gesprochen.

„Als man mich unterrichtete, dass meine Tochter an deiner Seite gesichtet wurde, habe ich mich bereits auf ein Wiedersehen mit Clarissa gefreut." Seine dunklen Pupillen senkten sich auf die falsche Clary. Er verzog den Mund und offenbarte damit einen Einblick in seine Gedanken, der ihnen bisher verwehrt geblieben war. Möglich, dass es seinerseits beabsichtigt war. „Als die Elben mit der Nachricht zurückkehrten, dass sie sie gefangen nehmen konnten, war ich negativ überrascht. Ich hatte meine Männer losgeschickt, um sie etwas auf Trab zu halten, nicht um sich einfangen zu lassen. Dieses ... Mädchen vor die Füße geworfen zu kriegen, war eine Erleichterung."

„Natürlich hätte meine Clarissa sich nicht so leicht fangen lassen." Valentins Mimik erhellte sich vor Stolz. Der Anblick brach Jace' Herz, für Clary und Jonathan gleichermaßen. Kinder, die in den Krieg ziehen mussten, um die Liebe ihres Vaters zu erfahren. „Ich habe ihr alle Lehren auf den Weg gegeben, die sie braucht, um es eigenständig in mein Lager zu schaffen. Nichts anderes erwarte ich von ihr."

Die Wärme zog sich aus seinem Gesicht zurück wie die Wärme aus einem verschiedenen Körper. Ersetzt durch eine selbstgerechte Strenge, die Jace an einen Lehrer erinnerte, der Schüler für alternative Lösungswege bestrafte, die nicht seinen eigenen entsprachen. Sein Arm wanderte hoch in seinen Nacken, umfasste das breite Heft des Engelsschwerts und befreite es mit einem kraftvollen Scharren aus der Scheide.

Mellartach saugte die Dunkelheit der aufsteigenden Nacht in sich auf, wirkte im Schein des aufgehenden Mondes eher schwarz statt silbern. Würde er nun die Dämonen heraufbeschwören und sie alle töten? Die Sonne war fort, wie Jace schmerzlichst realisierte. Nichts stand mehr in Valentins Pfad der Zerstörung außer die aktiven Dämonentürme von Alicante.

„Umso mehr verärgert mich diese Imitation", fuhr Valentin schließlich mit einem festen Blick auf die falsche Clary fest. „Ich sehe den Sinn in Clarissas Plan nicht, jemand anders als sie auszugeben. Dachte sie etwa, ich würde all meine Kräfte allein auf sie konzentrieren? Natürlich wollte ich sie wieder an meiner Seite sehen. Doch ich werde mein Vorhaben, welches auf zwei Jahrzehnten Schaffen beruht, nicht aufs Spiel setzen, um meiner unreifen Tochter bei ihrem Versteckspiel hinterherzulaufen."

Das Engelsschwert gab ein tiefes Summen von sich, als Valentin es für einen effizienten Hieb ausstreckte. Die Klinge grub sich durch den Nacken der falschen Clary, trennte ihren Kopf feinsäuberlich vom Rest ihres Körpers. Während ihr Kopf dumpf auf den Kies plumpste und davonrollte, blieb der Rest von ihr für mehrere Sekunden in einer Starre gefangen, bis auch er sich der Schwerkraft beugte und dem Kopf folgte.

„Der Sonnenuntergang ist vorbei, die Frist für Alicante verstrichen und meine Dämonen bereit. Ich werde den Erzengel Raziel heraufbeschwören, ob sie nun hier ist oder nicht."

Isabelle zuckte so heftig, dass sie seitlich gegen Jace stieß. Adams Brust bebte und Jace war sich sicher, dass er ein Schluchzen unterdrückte. Aaron senkte das eigene Haupt, ob in Erwartung oder Schwermut. Blut regnete auf die Geiseln herab.

Doch Valentin schien kein Interesse an einer weiteren Hinrichtung. Er steckte das Schwert so schnell weg, wie er es gezückt hatte. „Der Rest von euch hat die Ehre, mir bei dabei zuzusehen." Er drehte sich um und winkte einen Nephilim heran, der umgehend an seine Seite eilte. Bei ihm handelte es sich um keinen geringeren als Horace Dearborn, dem Anführer der Kohorte höchstpersönlich. „Mein Sohn?"

Die aufkeimende Anspannung der anderen war spürbar. Die Erkenntnis von Valentins Unwissenheit könnte ihnen in die Karten spielen. Ihre Mission bestand immer noch darin, Mellartach in die Finger zu bekommen.

„Keine Rückmeldung, mein Lord."

Angesichts dieser Antwort verfiel Valentin in Regungslosigkeit. „Wir reden hier von meinem Sohn. Er ist wohl kaum persönlich bei dir vorbeigekommen, um sich zurückzumelden. Sucht ihn. Ich dulde keine Verzögerungen. Dass er es sich überhaupt erlaubt, zu spät zu kommen."

„Er hat das Lager nicht betreten", meldete sich jemand anders aus dem Hintergrund zu Wort. Jace widerstand dem Drang, sich umzudrehen. „Meine Männer halten seit seinem Aufbruch Wache."

„Dann haben sie wohl nicht gut genug Wache gehalten." Valentins Worte trugen eine neue Nuance der Schärfe in ihnen. Als niemand reagierte, senkte er das Kinn. Jace konnte nicht entziffern, was sich hinter Valentins Augen abspielte. Nach knapp dreißig Sekunden hob er unvermittelt den Kopf und schaute zurück zu Horace Dearborn, der immer noch am gleichen Fleck stand. „Gibt es Nachrichten von meinen Verbündeten innerhalb der Stadt?"

Die Frage schien Horace aus der Bahn zu werfen. Verspätet öffnete er den Mund, zögerte jedoch eine Erwiderung heraus.

Jace wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Clary diesen Moment miterleben könnte.

Langsam aber sicher weiteten sich Valentins durchtriebene Augen. „Sind die Schutzzauber deaktiviert?"

„Ich ... Wir–", stotterte Horace. Wenn wohl gerade jemand im Boden versinken wollte, dann sicher er.

„Eine simple Frage, Dearborn." Valentins meisterhaft gepflegte Fassade bröckelte. Sorgfältig behüteter Zorn sickerte an die Oberfläche, brachte ein Fragment des Fanatikers zum Vorschein, der Valentin in Wahrheit war. „Sind. Die. Schutzzauber. Deaktiviert."

„Ich ... Ich weiß es nicht", gestand Horace kleinlaut.

Etwas in Valentin musste angesichts dieser fatalen Antwort explodieren. Wie ein Jagdhund, der eine Fährte aufgenommen hatte, wirbelte er herum und rief in kontrolliertem Ton: „Weiß irgendjemand hier, ob die Dämonentürme von Alicante aktiv sind oder nicht?"

Mit einer Gründlichkeit, der man nicht entgehen konnte, glitt Valentins Blick über seine Anhänger. Anstelle von Antworten vertiefte sich einzig seine Empörung. „Wo ist mein Sohn?"

„Vielleicht hat er länger für das Ausführen seiner Mission gebraucht und befindet sich noch auf dem Rückweg", schlug Horace versöhnlich vor.

„Vergleiche meinen Jonathan nicht mit deiner gewöhnlichen Tochter. Er ist mein Sohn. Er wurde für diese Art von Aufgabe ausgebildet. Er–" Als sich Valentins Blick in beiläufiger Manier von seinen Verbündeten zu den Geiseln verlagerte, brach er seinen begonnenen Satz ab. Erkenntnis flackerte hinter seinen Augen auf. Sein Starren, durchbohrend und forschend, war wie ein Lügendetektor. Jace war sich sicher, dass ihm jede Lüge auffallen würde. In wenigen Sekunden stand Valentin wieder vor ihnen, seine Pupillen wie Widerhaken in Jace vergraben.

„Dieses Versteckspiel ist nicht Clarissas Stil", fasste er nachdenklich zusammen. „Sie ist nicht wie ich, der sich jede List zum Vorteil macht, solange es dem richtigen Zweck dient. Nein, meine Clarissa ist direkt und läuft geradewegs in den Konflikt hinein, so wie Jocelyn. Sie würde sich nicht hinter ihren Freunden verstecken, wenn sie hier wäre. Also wo sind sie und Jonathan? Denn Jonathan ist die einzige Person, für die sie ein Aufeinandertreffen mit mir ausschlagen würde."

Das Herz pochte Jace bis zum Hals, aber er würde sich von Valentin nicht einschüchtern lassen. Während er hinter seinem Rücken nervös die Finger zusammenballte, begegnete er ihm mit regungsloser Miene. Keine Antwort ging ihm über Lippen oder wurde durch seine Züge verraten und die anderen imitierten ihn. Sie mussten Zeit schinden, damit Alec mit Magnus den Zauber auflösen konnte. Jace hatte keine Ahnung, wie lange es dauern würde und ob es ihnen unter den vielen suchenden Augen im Stützpunkt überhaupt gelingen würde.

„Wo sind sie?" Als wieder niemand antwortete, zuckte Valentin in einer Geste der Akzeptanz die Schultern. „Nun gut, wenn ihr nicht reden wollt ...", er verstummte allmählich und warf Milo ein knappes Nicken zu.

Milos Finger schnellten zu Isabelle, packten von hinten ihr Kinn und rissen es in die Höhe. Kein Laut entsprang ihr, als er einen Dolch zückte und ihn an ihre Halsschlagader presste.

Valentin lächelte zufrieden. „Möchte nun jemand reden?"

Isabelle und Jace wechselten einen eindringlichen Seitenblick. Sein Puls war bereits auf Hundertachtzig, doch was er in ihren Augen sah, tat nichts, um ihn zu beruhigen. Seine Schwester brauchte keine Worte, um ihn wissen zu lassen, an wen sie dachte.

Dieser Krieg wird brutal und erbarmungslos und es wird dort keinen Platz für Schwächen geben. Ich werde mich von meinem Vater nicht in die Position zwingen lassen, meine Schwächen zu ihrem Vorteil auszuspielen.

Die lautstarke, taffe Isabelle würde sich nicht von diesem Mann instrumentalisieren lassen – wollte sich nicht in eine Waffe gegen ihre Freunde und Familie zertrümmern lassen. Für Jace bedeutete dies, den Mund zu halten. Ungeachtet der Konsequenzen. Ungeachtet ihres Lebens.

„Glaubt ihr etwa nicht, dass ich sie töte?"

Jeder von ihnen glaubte ihm und das wusste Valentin. Es war nur seine Art ihnen eine letzte Chance zu gewähren, ihre Mauern zu testen, weil er auf ihre Informationen angewiesen war.

Valentin schaute zu Milo und war im Inbegriff, erneut zu nicken, als es aus Lyall herausplatzte. „Sie sind tot."

Jace war sich nicht sicher, was ihn vor Lyalls Worten zurückzucken ließ. Die Tatsache, dass er die Wahrheit offenbarte oder die Bedeutung der Worte als solche. Er fürchtete, dass Valentin seine Reaktion dank seiner aufmerksamen Beobachtungsgabe mitbekommen hatte, aber dieser schenkte Jace keinen Funken an Beachtung.

Valentin Morgenstern starrte auf den Werwolf, als verstünde er dessen Sprache nicht. Mehrere Sekunden lang blieb er stumm, suchte auf Lyalls herausforderndem Gesicht nach der Lüge. Dann brach er in Gelächter aus.

Diesen Verbrecher lachen zu hören stand nicht auf der Liste an Dingen, die Jace sich für diese Mission vorgestellt hatte. Ein ungläubiges, amüsiertes Lachen, welches seine Haltung transformierte und den charmanten, jungen Mann zurück zum Vorschein brachte, der er früher gewesen war.

„Von all den Ausflüchten, die du mir hättest auftischen können, entscheidest du dich sofort für die Unrealistischste von allen", sagte er schließlich, nachdem sein Lachen abgeebbt war. Lyall scheute sich nicht vor Valentins schneidendem Blick, als dieser ihn musterte. Im Gegenteil. Er reckte ihm das Kinn voller Selbstsicherheit, was Jace' Puls beruhigte. Wenn man dem Teufel absichtlich zu nah kam, musste man einen Plan parat haben. „Ihr Wolfsmenschen seid gewiefte Viecher. Ich spreche dabei aus Erfahrung, weil mein ehemaliger Parabatai ebenfalls zu einem mutiert ist. Deshalb bin ich geübt darin, auf nichts zu vertrauen, was deine Art von sich gibt."

„Sie sind tot", wiederholte Lyall, spuckte es Valentin mit einem breit-tapezierten Grinsen förmlich vor die Füße. „Das ist die Wahrheit. Euer Sohn wird nicht kommen, weil er versagt hat. Meine Art befindet sich in Sicherheit hinter den Stadtmauern."

„Was auch immer du durch diese Lüge erhoffst, zu erreichen, hat hier ein Ende", knurrte Valentin. „Ich habe weder die Zeit noch den Wunsch, dieses Verhör durchzuführen. Denn macht euch nichts vor, das hier ist ein Verhör. Und jeder, der nicht liefert, ist nutzlos für mich."

„Das ist die–"

„Es interessiert mich nicht, Wolf. Ich würde niemals ein Wort aus deinem von Dämonenblut verunreinigten Maul glauben." Valentin drehte sich fort von Lyall. „Milo. Komm her und beseitige diese Geisel für mich. Ich trage nur das Engelsschwert und nur Nephilim verdienen es, durch diese Klinge gerichtet zu werden."

Rechts von Jace knirschte der Kies, als Milo sein Gewicht verlagerte. „Wie ihr wünscht, mein Lord."

Auf einmal ging alles ganz schnell. Milo schritt an Isabelle und Adam vorbei, zog sein Schwert und positionierte sich hinter Lyall. Jace dachte über einen Weg nach, Vanessa zu überwältigen, um auf die Füße zu kommen. Ein Schwall an Stimmen wurde laut, plötzlich redeten sie alle durcheinander. Dabei war es genau das, was sie nicht tun sollten: Vor ihrem Erpresser betteln.

Vanessas Finger gruben sich in seine Schultern und hielten ihn fest, noch ehe er die Bewegung überhaupt angesetzt hatte. Ohne das leiseste Anzeichen seinerseits hatte sie Jace durchschaut. Isabelle hingegen gelang es, aufzuspringen, und ein Elbenritter musste ihr den rechten Arm bei dem Versuch, sie stillzuhalten, ausrenken.

Horror stand auf Jace Zügen geschrieben, als Milo seine Klinge ohne auch nur eine Sekunde des Zögerns in die Halswirbelsäule des weitäugigen, protestierenden Lyalls stieß. Isabelle entließ einen entsetzten Schrei und warf Milo in krächzender Oktave eine Serie an Beleidigungen an den Kopf. Ohne Erfolg. Keinerlei Regung zeichnete sich auf Milos Gesicht ab, als wäre das hier routinierter Alltag. Das Blut an seiner Klinge schmierte er an seiner Monturhose ab, ehe er das Schwert wegsteckte. Und als wäre das nicht genug, versetzte er einen um Luft röchelnden Lyall einen Tritt. Milo hatte ihm nicht nur die Wirbelsäule durchtrennt, sondern auch Luftröhre und Adamsapfel. Er würde aller Wahrscheinlichkeit nach an seinem eigenen Blut ersticken.

Begleitet von der Geräuschkulisse aus schwerem Hecheln und unterdrücktem Schluchzen, schritt Valentin über Lyalls hievenden Körper hinweg und blieb vor Adam stehen. Gefasst musterte er ihn. Adam hingegen schaute nicht auf, blickte weiter auf Lyall, der keinen Meter entfernt vor ihm um sein Leben würgte.

„Du bist Adam, der Sohn von Bethany und Lucas", begann Valentin eindringlich und freundlich zugleich. „Deine Eltern wollten mir folgen, du hast sie davon abgehalten. Sie und deine Geschwister sind nicht innerhalb der Frist in meinem Lager erschienen. Für sie bedeutet das den Tod. Und ich verspreche dir, Adam, ich werde einen Weg in die Stadt finden, Dämonentürme hin oder her."

Der fade Beigeschmack auf Jace' Zunge verriet ihm, worauf Valentin hinauswollte. Bei den Namen seiner Eltern hatte Adam von Lyalls Gestalt aufgesehen. Er begegnete Valentins Blick nicht direkt. Adams Zurückhaltung und Furcht vor diesem Mann waren größer als sein Zorn über alles, was heute geschehen war.

„Sag mir die Wahrheit, Adam. Sag mir, wo Clarissa und Jonathan sich gerade aufhalten und ich verspreche, dass ich deine Familie und dich vor dem Schicksal verschone, welches den Rest der Nephilim ereilen wird."

Obwohl Jace' Hass auf Adam von nicht messbarer Größe war, wollte er nicht in Adams Schuhen stecken. Es war genau die Situation, vor der Clary sich gefürchtet hatte: Dass Valentin sie vor eine Wahl stellte. Mit seinem frischen Verlust von ihr konfrontiert, wusste Jace, dass er sich in jedem Szenario für Clary entschieden hätte.

Ich bin kein Held. Ich würde mich nicht für die Welt opfern, wenn unsere Trennung die Konsequenz wäre. Jace erinnerte sich noch zu genau an die Worte.

Trotz dieses Wissens sah Jace es nicht kommen, als Adam sich dazu entschied, seine eigene Haut zu retten. Er konnte nicht einmal sagen, weshalb es ihn derart überraschte.

Nachdenklich glitt Adams Blick zu Lyall und wieder zurück. Man konnte förmlich dabei zusehen, wie die verängstigte, trauernde Mimik von ihm abfiel wie die Haut einer Schlange. Sein wahres Gesicht, welches darunter zurückblieb, so frisch wie die Haut eines Neugeborenen, wirkte seltsam vertraut und doch ... anders. Diesmal wich Adam Valentins suchenden Pupillen nicht aus, nein, er starrte direkt hinein. Kein Wangenmuskel zuckte als er sprach, als wäre er ein Mensch, dem jede Emotion fehlte. Adam wirkte wie ausgewechselt. Nicht auf die gute, neue Art. Auf die altbekannte, verdrehte Art. „Schwört Ihr, dass meine Familie unbeschadet bleibt?"

Es fühlte sich an wie bei voller Geschwindigkeit Nase voran gegen eine Glaswand zu rennen. Jace' Kopf zuckte zurück, der Schwindel packte ihn einen Augenblick lang. Nicht nur er schien aus allen Wolken zu fallen. Isabelle neben ihm nahm einen keuchenden Atemzug, als hätte sie sich an Adams Worten verschluckt.

Valentin nickte ohne zu zögern. Angesichts ihrer Reaktionen, welche er aus dem Augenwinkel beobachtete, begannen seine Pupillen schalkhaft zu glitzern. Ein sanftes, vertrauensseliges Lächeln nahm auf seinen nun entspannten Wangen Gestalt an. „Ich schwöre es beim Erzengel."

„Ich will mehr als das", rollte es Adam höflich, Silbe für Silbe, von den Lippen. Unterwürfig. „Ihr habt sicherlich mitbekommen, was der Rat mit mir angestellt hat, nachdem die Wahrheit über meinen Verbleib im New Yorker Institut herausgekommen ist. Ihr wisst, dass ich Clarys bester Freund war, ehe man mich enttarnt hat. Ich habe in Eurer Mission gearbeitet."

„Man hat mir davon berichtet", gab Valentin mit einer Note der Skepsis zu, sichtlich im Dunkeln darüber, worauf Adam hinauswollte.

Isabelle, die sich nicht länger zusammenreißen konnte, zischte Adam etwas Unverständliches zu. Milo zog sie am Kragen ihrer Rüstung in die entgegengesetzte Richtung, ehe sie sich in Rage reden konnte. Auch Jace pochte das Herz bis zum Hals, denn obwohl er Adam nie für seine Taten Clary gegenüber verziehen hatte, hatte er tief im Inneren dennoch geglaubt, dass er nun wahrhaftig auf ihrer Seite stand. Hatte gedacht, dass Clarys Tod ihn tatsächlich getroffen hatte.

Doch dieser Ausdruck auf Adams Gesichtszügen, so reserviert und zuvorkommend, erinnerten Jace zu sehr an die Demonhunters. Zu sehr an vorgespielte Diplomatie und hinterlistige Freundschaft. Sie erinnerten ihn daran, dass Adam schon von klein auf gelernt hatte, seine Mitmenschen zu manipulieren. Aber nicht nur an die Demonhunters. Schlimmer. An Blake Ashdown.

„Ich möchte ungerne so enden wie der Unterweltler." Den abwertenden Ausdruck spuckte er aus, als würde dieser seiner Zunge nicht einmal würdig sein. Adams tannengrüne Iriden glitten kurz zu Lyalls ausgeblutetem Leichnam und er schürzte angewidert die Lippen. „Ich möchte, dass Ihr zu hundert Prozent von meiner Wahrheit überzeugt seid. Dass keinerlei Zweifel an meiner Loyalität Euch gegenüber besteht."

Die aufsteigende Galle in Jace' Magen war nur schwer herunterzuschlucken. Die Mischung aus einem Wimmern und einem Kreischen, welche Isabelles Gurgel entkamen, konnte selbst Milo mit einer Hand vor ihrem Mund kaum bändigen.

Valentin, der den meisten immer mehrere Denkschritte voraus war, drehte seinen Blick auf das Engelsschwert in seinem Nacken. Eine beherrschte Zurückhaltung legte sich über seinen Ausdruck, als er Adam forschend betrachtete. „Du glaubst, dass ich dich töte, wenn mir deine Wahrheit nicht gefällt?"

„Die Wahrheit ist nicht unbedingt schön", erwiderte Adam mit Fokus auf den nun dunklen See in Valentins Rücken. Das wenige Licht der spärlichen Elbenlichtfackeln warf lange Schatten auf sein leeres Gesicht – es reflektierte sich beinahe schwermütig in seinen Augen. Sein Adamsapfel bebte, als er zum Sprechen ansetzte. „Ich bin ein Schattenjäger und somit vertrauenswürdiger als der Wolf oder sonst ein Unterweltler."

Valentins Gesichtsausdruck war nicht zu deuten. Er musste Lyalls Aussage weiter für eine Lüge halten, denn seine Brauen zogen sich bedrohlich zusammen. „Wunderbar", flüsterte er in Antwort. „Dann streck die Arme aus. Aber versuch ja keine Tricks. Dein Leben und das deiner Familie kann schneller verwirkt sein, als du Blinzeln kannst."

Sie alle schauten mit großen Augen zu, wie Valentin Mellartach hob und auf Adams flache Handflächen legte. Jace fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Verbündeter oder nicht – Valentin schien sich nicht zu fürchten, dass Adam sich damit auf und davonmachen könnte. Umringt von dutzenden seiner Krieger war dies wahrlich unmöglich.

Adam entfuhr ein zittriger Atemzug, hob schließlich kühn das Kinn und nickte Valentin zu. „Fragt mich, was Ihr wollt, mein Lord."

„Wo sind meine Kinder wirklich?" Die Frage platzte förmlich aus Valentin heraus, anders konnte Jace es nicht beschreiben.

Einen tiefen Seufzer später begann Adam seine Erzählung. „Sie sind nirgends, denn sie sind tot, wie Lyall gesagt hat. Ihre Leichname hingegen ... die Stillen Brüder haben sie sicherlich."

Zwei kleine Sätze, die Valentins Welt auf den Kopf stellen. Es war offensichtlich. Seine Lider verfielen in ein hektisches Blinzeln, als würde er gegen die aufkeimenden Emotionen ankämpfen. Was auch immer er empfand, das Gefühl war selbst für Valentin Morgenstern zu heftig, um es abzuwehren. Sein Kiefer erschlaffte, während der Rest seiner Körperhaltung in eine Starre verfiel. Jegliche Farbe verließ sein Gesicht und seine Pupillen erweiterten sich.

„Wie ist es geschehen?", kam es ihm letzten Endes über die Lippen, der Unglaube trotz des Engelsschwert weiterhin präsent.

„Sie haben sich duelliert. Jonathan war auf dem Dämonenturm, um ihn zu deaktivieren und Clary war dort. Es war ein Zufall, dass sie sich begegnet sind", fuhr Adam fort. Die Art wie er den letzten Satz aussprach verdeutlichte, dass er es nicht für einen Zufall hielt. Ganz und gar nicht. „Sie haben lange gekämpft, waren sich aber ebenbürtig. Um es zu beenden hat Clary sich von ihm erstechen lassen. Sie hat sein Entsetzen genutzt, um ihn zu töten"

Nach minutenlangem Schweigen nickte Valentin. Die Überraschung hatte ihn zwar übermannt, aber von Trauer war keine Spur auf seinen Zügen zu erkennen. Es war Resignation, die sich über seine Gesichtsmuskeln legte. Wie ein Buch, dessen Ende man sich zwar anders erhofft hatte, es einen jedoch nicht persönlich genug betraf, um auf einer tiefen Ebene mitfühlen zu können. „Sie sind ehrenhaft gefallen, alle beide. So wie ich es immer für sie geplant habe."

Es dauerte, bis seine Worte zu Jace und den anderen durchsickerten. So wie ich es immer für sie geplant habe. Adam begann zu stottern. Die Kälte entglitt seinem Ton wie ein glatter Eiswürfel einem durch die Finger rutschte je fester man ihn festzuhalten versuchte. „Ihr ... ihr habt mit ihrem Tod gerechnet? Trauert Ihr überhaupt?"

Valentin zuckte kaum merklich die Achseln. Jace analysierte sein Gesicht eindringlich auf jede Spur einer Emotion, fand jedoch nur eine grenzenlose Mauer vor. Er erwartete nicht, dass er sich dazu äußern würde. Vor seinem inneren Auge sah Jace bereits, wie er nach dem Engelsschwert griff und es zurück in seinen Besitz nahm.

Was auch immer der Tod seiner beiden Kinder in Valentin auslöste – kalt ließ es ihn nicht; unabhängig davon, was er nach außen zu vermitteln versuchte. Umso mehr überraschte es Jace, als er Adams Frage beantwortete. Offen und ehrlich und hart auf den Punkt – jedes Charisma, jede Wortausschmückung wie weggefegt. Das hier war der Kern von Valentin Morgenstern. „Sie waren Krieger. Natürlich musste ich damit kalkulieren, dass zumindest einer von ihnen stirbt. Dass Clarissa freiwillig geht, hatte ich als ihren Tod verbucht. Mir blieb immer noch Jonathan. Allerdings ... es ist ihm nicht gelungen, den Schutzzauber zu deaktivieren, nicht wahr?"

„Die Zauber sind aktiv", war alles, was Adam erwiderte. Ekel und Abscheu dominierten jede Silbe.

Es reichte, um Jace vor Augen zu führen, dass Adam nicht nur ihn, sondern auch Valentin getäuscht hatte. Dass er sie alle getäuscht hatte. Für einen Moment vergaß Jace seine neutrale Maske. Für einen Moment ließ er den Kiefer in Überraschung hängen. Wenn hier jemand gewieft war, dann war es Adam. Die letzte Person von der Jace es erwartet hätte. Bekam Valentin Adams Wesensänderung überhaupt mit?

Valentin sah aus, als würde sein Lebenswerk vor seinen Augen zu Asche zerfallen. Seine starren Augen blickten über Jace hinweg; starrten durch Milo und Vanessa hindurch in den sich ausbreitenden Wald, als existierte niemand von ihnen. Wie wenn die Existenz von Jonathan und Clary direkt an die aller anderen geknüpft war. „Das ändert alles."

Das tat es in der Tat. Ohne die gefallenen Zauber würde er die Stadt nicht mit seinen Dämonen einnehmen können. Und ohne Dämonen ... war Valentin in der Unterzahl. Hundertfach in der Unterzahl.

„Zumindest für den Moment." Den Kopf zur Seite geneigt, fixierte Valentin das Engelsschwert. Diesen Blick kannte Jace gut. Diese Durchtriebenheit. Für einen Moment sah er Clary vor sich, wie sie vor sich ins Nichts starrte, im Kopf jedoch ein Feuerwerk an Ideen und Berechnungen vor sich aufgebaut sah. Dieser Blick war der Beginn des Schmiedens von Plänen. „Ich denke–"

Sie würden nie herausfinden, was Valentin dachte, denn im Westen des Lagers zu Jace' Rechten zerfetzte eine gewaltige Explosion die Ruhe des spiegelglatten Sees. Ein Beben brachte den Grund zum Schwanken. In der folgenden Druckwelle knallten Jace' und Isabelles Köpfe gegeneinander, aber keiner von ihnen schien es zu bemerken. Bereits halb auf den Füßen blickten sie der dunkelblauen Rauchwolke entgegen, die sich fließend in alle Himmelsrichtungen verteilte. Einen Wimpernschlag später erschienen Alec und Maia aus den ziehenden Luftschwaden.

Die versammelten Krieger unter Valentins Kommando sprangen sofort in Aktion und griffen nach ihren Waffen. Valentin wirbelte um die eigene Achse und verzog die Lippen fuchsteufelswild. „Der Zauber darf nicht fallen!", brüllte er in das Chaos aus blauen Nebelschwaden und seinen umherlaufenden Verbündeten. „Sichert die Ränder des Lagers, wir wissen nicht, ob es sich nur um eine Ablenkung handelt!"

Dies war keine Ablenkung, wie Jace bereits wusste. Plötzlich waren alle in Auffuhr. Valentins Befragung hatte seine Nephilim abgelenkt. Dank der fehlenden Elben umso fataler, die erst mit einiger Verzögerung eintreffen würden. Aber das war noch nicht alles. Da war mehr. So viel mehr.

Zu Jace' rechten schnellte Isabelle zu Adam herum im gleichen Augenblick wie Valentin. Abgelenkt von der zeitlich perfekt abgestimmten Explosion, war dem Meisterplaner das wichtigste aller Puzzleteile kurz in Vergessenheit geraten. Lebensverändernde Sekunden. Rachegetriebene Herzensschläge. Siegesringende Atemzüge.

„Denk an deine Familie, Adam!"

Isabelle warf sich nach vorn und Milo gelang es nicht, sie festzuhalten. Adam, brillant und durchtrieben, drehte sich ohne auch nur eine Sekunde Verzögerung zu Isabelle und Valentins verbliebene Hand griff in die Luft, während Adam Isabelle das Engelsschwert direkt in die Arme spielte.

Drei Sekunden waren vergangen, aber die Welt, in der sie standen, war plötzlich eine völlig andere.

Isabelle kam schwankend auf die Beine und drehte sich wirbelnd zu Valentin herum, der ihr nur Zentimeter auf den Fersen war. Das Schwert schmiegte sich in ihre Hand und Valentin wich nicht schnell genug zurück, um der heiligen Klinge zu entgehen. Sein Schmerzensschrei war von Wahnsinn durchtränkt. Nun, im Anbetracht des Verlustes, verlor er die Drähte seiner Kontrolle, die er bisher so gekonnt gehalten und gesteuert hatte.

„Komm her, Lightwood Göre", zischte Valentin und griff an seinen leeren Waffengurt, Adams Loyalitätsbruch längst vergessen. Denn Loyalität bedeutete ihm nur so lange etwas, wie er einen Gewinn aus ihr schlagen konnte. Und für Adams Loyalität gab es nun nicht länger einen Zweck.

Isabelle grinste nur. „Hochmut kommt vor dem Fall, Arschloch."

Jace wusste, dass ihr Triumph nur von kurzer Dauer sein würde, wenn der Rest von ihnen nicht handelte. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Alec und Maia im Nebel verschwanden, nur um kurz darauf an anderer Stelle wieder aufzutauchen. Aaron rang bereits mit dem Elben in seinem Rücken. Adam hatte sich eine von Milos Waffen geschnappt und stach damit auf seine eigene Wache ein. Von Milo fehlte jede Spur.

Doch Vanessa hatte ihren Posten nicht verlassen. Ihre Finger bohrten sich weiter in Jace' Schultern, obwohl er bereits halb aufgestanden war. Ihr Griff hatte kein Gewicht, als würde sie ihn gar nicht zurück zu Boden drücken wollen. Der Ablauf der Ereignisse musste sie abgelenkt haben, denn als Jace sich von ihr löste und sich nach ihr umdrehte, um ihr den Garaus zu machen, fanden ihn ihre kupferfarbenen Augen erst verspätet.

Jace trat ihr in den Bauch, bevor sie sich auch nur bewegen konnte. Vanessa keuchte, stürzte jedoch nicht. Sie taumelte rückwärts, fort von ihm. Jede Stärke von vorhin verschwunden. Ein verächtliches Lachen platzte aus ihm heraus. „Jetzt bist du auf einmal nicht mehr so mutig, was?"

Für jeden Schritt, den sie machte, machte er zwei. Und als zwei Nephilim ihr versuchten zur Hilfe zu eilen waren sie schneller tot als Vanessa blinzeln konnte. Er schnappte sich eine Seraphklinge. In einer beschwichtigenden Geste hob Vanessa die Arme vor die Brust. „Jace ..."

„Die Ashdowns scheinen alle irgendwie Glück mit ihrem Ende zu haben", sagte er über das Gebrüll von Befehlen hinweg. „Verglichen mit ihren Sünden finden sie einen äußerst schmerzlosen Tod."

Halbherzig umklammerte ihre Vanessa Axt, ihre Füße nicht einmal in Angriffsposition. „Jace, hör mir zu–"

Eine weitere Explosion erschütterte den Strand. Diesmal schrie Valentin seinen Zorn den Engeln entgegen. Aaron und Adam hatten Isabelle flankiert, um ihr Rückendeckung zu geben, sodass Valentin das Schwert immer noch nicht zurück in seine Gewalt gebracht hatte. Es war nicht der Auslöser seines Ausrasters.

Der von Sternen besprenkelte Nachthimmel flimmerte einmal auf. Die unsichtbare Schicht des Zaubers löste sich auf und ließ den Brocelind-Wald schutzlos zurück. Valentin Morgenstern, beobachtet von tausenden Sternen, erwiderte ihre Blicke anklagend.

Magnus hatte es geschafft. Er hatte den Bann zu Fall gebracht, der den Wald umgab.

Irgendwo in den Wolken ließ Alec ein Grölen hören. Die Mischung aus Erleichterung und Stolz schwappten wie eine federleichte Berührung zu Jace herüber. Es reichte, um zu lächeln. Zumindest so lange, bis er sich an Vanessa Ashdown erinnerte.

Diese Schlacht war noch lange nicht gewonnen. Sie waren immer noch deutlich in der Unterzahl. Vanessa stand einige Meter von Jace entfernt, beobachtete ihn. Sie machte kein Anzeichen, ihn angreifen zu wollen, aber davongelaufen war sie auch nicht. Ein Blick an ihr vorbei verriet, weshalb. Milo hatte sich zurück an ihre Seite geschlichen. Während Vanessa auf Jace konzentriert war, sich jedoch keine Absicht von den Zügen ablesen ließ, blickte Milo herüber zu Valentin, dem knapp ein Dutzend Schattenjäger zur Hilfe eilten. Dagegen würde Isabelle auch mit Aaron und Adam nur schwer ankommen.

Jace wollte Vanessa den Rücken zukehren, aber sein Instinkt riet ihm davon ab. Er konnte es nicht erklären. Es musste der Durst nach Rache sein – die Erinnerungen an Blake und was er Clary angetan hatte.

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als ein gleißend helles Licht in der Mitte des Strands zum Leben flackerte. Einige Zentimeter über dem Boden schwebend bildete sich ein Strudel aus weißen Funken. Er breitete sich aus, nahm eine kreisrunde Form an und riss auseinander.

Ein Portal. Nur zehn Meter von Valentin entfernt. Magnus hatte es tatsächlich geschafft.

Nicht nur Valentin selbst, nicht nur seine Krieger, sondern auch Isabelle und die anderen hielten in ihren Aktionen inne.

Valentin starrte mit solcher Inbrunst in das Portal hinein, als ermöglichte es ihm einen Blick in die Tiefen seiner eigenen Seele. Als würde ihm die unangenehme Wahrheit, welche dort verborgen lag, keineswegs gefallen. Dann, als sich schließlich ein Bild auf der Oberfläche kristallisierte, versteinerte jeder seiner Muskeln. Ehrliche Überraschung flog über seine Gesichtszüge.

Eine Oberfläche, die kleinste Wellen warf, als sich eine Gestalt hindurchzwängte. Direkt gefolgt von einer zweiten.

Jace hörte zwar den gurgelnden Laut, der seiner Kehle entsprang, merkte jedoch nicht mehr, wie ihm die Seraphklinge polternd aus der Hand glitt.

Gekleidet von oben bis unten in schwarz, sodass nur ihre Haare sich unterschieden, traten sie durch das Portal hindurch. Die schwarz-wirkenden Zwillingsschwerter in jahrelang geübter Präzision positioniert. Verbrannt im himmlischen Feuer und auferstanden von den Toten. Die Gesichter vereint in grimmiger Entschlossenheit, tief in dem Blut verwurzelt, welches sie mit dem Mann teilten, der ihnen nun gegenüberstand.

Clary und Jonathan waren gekommen, um das Schicksal der Familie Morgenstern ein für alle Mal zu besiegeln.


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Willkommen zu einem neuen, actiongeladenem Kapitel. Es ist ziemlich lang und es ist ziemlich viel passiert. Also, was haltet ihr davon? Hattet ihr eine gewisse Vorstellung, was passieren würde? Hat sie sich erfüllt? Wie gefallen euch die Charaktere, allen voran Jace und Valentin, aber auch Milo und Vanessa? Würde mich echt interessieren!

Ansonsten sehen wir uns dann nächste Woche, zu meinem (bisher) allerliebsten Kapitel dieser Geschichte. Wobei der Kampf gegen Blake Ashdown schon nah drankommt haha. Seid gespannt!

Liebe Grüße
Skyllen

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