Kapitel 96 - My Hiding Sun
Kapitel 96 – My Hiding Sun
--- 30 Minuten vor Sonnenuntergang. ---
Mit jeder Minute, die verstrich, breitete sich die Hektik weiter in Jace' Adern aus. Zwischen den dichten Baumkronen schleichend war die Sonne kaum auszumachen. Wenn sich das bernsteinfarbene Licht doch zwischen den Blätterdächern hindurchzwängte und die Umgebung in einen späten Herbsttag verwandelte, hörte er das Herunterticken des Sekundenzeigers unaufhörlich und unausblendbar in seinem Kopf. Ein Rhythmus, der nicht dem eines lang zurückliegenden Tanzes ähnelte; der stattdessen in den Fingern juckte wie ein Überlebensinstinkt, der ihn antrieb, verdammt nochmal schneller zu laufen.
Jace musste seine Muskeln dazu zwingen, nicht aus der Reihe zu tanzen. Tatsache war, dass jede falsche oder überstürzte Bewegung sein oder der Tod eines seiner Gruppenmitglieder bedeuten könnte. Egal wie sehr sein Geist nach Rache sann. Und so presste er die Zähne so heftig aufeinander, dass er kurz darauf Blut schmecken konnte, und überließ Lyall den Vortritt.
Dieser hatte seine Wolfsform von dem Moment angenommen, als sie kurz nach Alec die Felsvertiefung verlassen hatten. Mit einem weit überlegenen Geruchs- und Sehsinn ausgestattet, war unverzüglich klargewesen, dass er die Führung übernehmen würde, um die Einheit zu Valentins Lager zu navigieren. Und das in einem Bogen, um das dichtbewachte Areal an der Küste zu umgehen. Zum einen konnte Lyall den Duft von Valentins Kriegern nach ihrer Frische einordnen und so Gebiete umgehen, wo sich kürzlich Wächter aufgehalten hatten. Zum anderen besaßen auch die Elben einen entwickelteren Geruchssinn und würden früher oder später ihre Fährte aufnehmen – Bogen oder nicht. Dann war es nur eine Frage der Zeit, wer schneller rennen konnte.
Auch Isabelle konnte ihre Ungeduld immer weniger verbergen. Sie war Jace einige Schritte voraus, folgte Lyall auf Schritt und Tritt. Nur die Finger ihrer rechten Hand klimperten geräuschlos auf dem Heft eines Dolches an ihrem Waffengürtel. Ein Takt, der dem seines imaginären Sekundenzeigers unheimlich nahekam.
Das Vorankommen war dank Lyalls scharfer Sinne um einiges zügiger als unter Magnus' Führung vorhin, allerdings war ein gemütliches Joggen für Jace trotzdem nicht schnell genug. Während sie Valentins Aufenthaltsort also mit jedem Atemzug approchierten, kämpfte Jace gegen den stetig wachsenden Druck an, auf eigene Faust zu handeln. Ein Gefühl in seiner Brust, welches ihm die Besinnung abschnürte. Seine Widerstandskraft schmolz dahin, wie der Schnee mit jedem weiteren Tag, den der Frühling voranschritt.
Es war mehr als nur ein Gefühl. Sein Inneres schien zunehmend durchzudrehen. Da war eine Stimme in Jace' Hinterkopf, die Jace unter normalen Umständen für seinen Instinkt gehalten hätte. Etwas, was nach ihm rief und ihn zum Innehalten bewegen wollte – zum Zuhören. Wie die Gefühlsübermittlung des Parabatai-Bunds zwischen Alec und ihm. Oder Ithuriels Bewusstsein, welches in seinen Kopf schlich, um Erinnerungen mit ihm zu teilen. Keine Worte, nein. Emotionen, die seine Sinne schärften wie ein Stein ein Messer. Emotionen, die sein Herz schneller schlagen ließen. Auf eine Weise, wie nur sie es vermocht hatte.
Jace merkte nicht, wie er sich zu Adam umdrehte. Adam trug als einziger eine Uhr. Er musste wissen, wie lange noch. Er musste wissen, wie lange er noch gegen dieses Etwas in seiner Brust ankämpfen sollte.
Jace merkte nicht, wie seine Beine sich vorwärtsbewegen. Auch von seiner Umgebung nahm er kaum mehr als ein verblasstes Spektrum an Farben wahr. Alles, was er vor seinem inneren Auge sehen konnte, waren Erinnerungen, die seine Finger zittern ließen. Ihre Stimme, eisern für die Welt und sanft für ihn. Ihre Augen, grün wie Leben. Ihre Haare, orange-rot wie die untergehende Sonne. Jace' Welt war in Dunkelheit gehüllt worden, sobald seine Sonne verschwunden war.
Umso fataler war der Schock, als Jace genau dieses Haar plötzlich einige Dutzend Meter seitlich von Adams Schulter ausmachte. Adam, der ohne ein Wort seinen Ärmel zurückgezogen hatte, um ihm das Ziffernblatt zu zeigen, zuckte zusammen, als Jace über seine eigenen Füße stolperte und unter dem Knirschen von Schnee und vertrocknetem Laub zu Boden ging. Der anmutige, kaum bezwingbare Jace Herondale in die Knie gezwängt von nichts als einem orange-roten Blitzen in seinem Augenwinkel.
Ein Laut, atemlos und heiser vom Schock, brachte seine Kehle zum Stocken. Im nächsten Moment war er auf den Beinen und wirbelte erneut zu Adam herum, spähte an ihm vorbei. Dieser musste etwas in Jace' Augen gesehen haben, da er ihm schon den Rücken gekehrt hatte und in den Wald hinausspähte. Die Einheit war zum Stillstand gekommen, aber Jace war in Windeseile an Adams Seite – bemerkte gar nicht die Waffe in dessen Hand. Seine Aufmerksamkeit lag auf der jungen Frau – auf ihr – die immer noch an Ort und Stelle versteinert stand wie die Engelsskulpturen in Alicante.
Unterbewusst nahm Jace war, dass ihm ihr Name über die Lippen ging; dass sich das Beben in seinen Fingern manifestierte, als ihre Augen sich über die Distanz hinweg begegneten. Für einen herzzerbrechenden Moment glaubte er, Überraschung in den ihren zu erkennen. Er hatte bereits einen weiteren Satz auf sie zugemacht, als jemand ihn packte und mit solcher Kraft zurückzog, dass ihm der Arm beinahe auskugelte.
Erst dann verflüchtigte sich der Schleier des Schmerzes vor Jace' Augen. Erst dann registrierte er, dass ihre Iriden gar nicht grün waren, sondern die Farbe von Kupfer besaßen. Ein Blinzeln später stellte sich ihr Haar als dunkler heraus. Rot-orange, zu dunkel für seine Sonne. Gerade richtig, um direkt aus seiner persönlichen Hölle zu stammen.
Die gefrorene Miene der jungen Frau verdrehte sich durch ein süffisantes Lächeln, welches ihre scharfkantigen Züge intensivierte. Jace hatte das Gefühl, dass es aufgesetzt wirkte. Zu intensiv, um echt zu sein. Zu fanatisch. Welch ein Trugschluss, wo sie sich doch auf dem Weg in die Hochburg der Fanatiker befanden. Die Runenenden an ihrem freien Hals verrieten, dass sie eine Nephilim war. Wenn sie hier war, dann musste sie–
Hinter Jace erklang ein düsteres Knurren, als ein weiterer Schattenjäger neben die Frau trat. Um die eins-neunzig, mit einer muskulös genügen Statur, um ihn auf Anhieb zu erkennen.
„Milo Coldrige", entkam es Adam, ehe Jace den Namen auch nur denken konnte.
„Adam Demonhunter." Jace hatte vor Jahren das letzte Mal ein Wort mit Milo gewechselt, hatte seine Stimme jedoch weniger gehässig im Gedächtnis. Er war einige Jahre älter als Jace und Alec und war in anderen Kreisen verkehrt als sie. Dass er in den Kreisen der Kohorte verkehrte, war ihm jedoch neu.
Die Überraschung ihrer aufgeflogenen Tarnung vergessen, stapfte die rothaarige Schattenjägerin, die eher Isabelles Alter entsprach, ohne Umschweife auf ihre Einheit zu und ließ eine Axt in ihrer rechten Hand kreisen. Milo folgte ihr ohne zu zögern. Erst nachdem die beiden sich in Bewegung gesetzt hatten, tauchten aus den dämmernden Schatten des Waldes weitere Schattenjäger und Elben auf.
Lyalls Knurren wurde jäher. Isabelle fluchte im Flüsterton. Adam, der Milo wohl besser zu kennen schien, ging angesichts dessen breiter Statur sofort in Angriffshaltung über. Ehe die beiden Männer sich zu nahekommen konnten, kam die Schattenjägerin zum Stehen. Milo folgte ihrem Beispiel so unverzüglich, dass klar war, wer das Kommando hatte. Seine dunklen Pupillen ruhten nicht auf Adam oder überhaupt ihrer Einheit, sondern allein auf der jungen Kriegerin, hinter der er sich positionierte.
„Ich bin so froh, euch alle lebend zu sehen", richtete sie das Wort an ihre Einheit, wobei ihre hellen Augen in erster Linie auf Jace ruhten. Ihr Ton strahlte Dominanz und Kampferfahrung aus, vor allem jedoch eine wirre Erleichterung, welche Jace' Finger wie von selbst in Richtung seiner Seraphklinge wandern ließ. Als niemand Anstalten zu einer Erwiderung machte, sprach sie in heiterem Ton weiter. „Habt ihr etwa gedacht, dass eure Duftmarke uns entgehen würde? Zu doof, dass ihr die Wege parallel von euch nicht auch mit einer Wolfsnase auskundschaften könnt, sonst hättet ihr uns sicher bemerkt."
„Vanessa", sprach Adam die Jace unbekannte Schattenjägerin an. Angesichts der Schwere, mit dem er den Namen aussprach, wagte Jace einen Seitenblick zu Adam herüber. Auf dessen Zügen rangen Unbehagen und Ärger um Kontrolle. Kannte er hier etwa jeden?
Das intensive Starren von Vanessa heftete sich ruckartig auf Adam und die Axt in ihrer Hand schwang schneller durch die Luft. „Der Verräter", presste sie unbeteiligt hervor. „Nach allem, was du meinem Cousin angetan hast, überrascht mich deine Anwesenheit wenig."
„Cousin?", platzte es schließlich aus Isabelle heraus, die sich nicht länger zusammenreißen konnte. Die Strafe von Maryse und Robert für ihre Vergehen im Kreis war mit dem Nachteil verknüpft, dass Isabelle, Alec und Jace der Schattenjägergemeinschaft meistens nur aus der Ferne beigewohnt hatten. So waren soziale Kontakte zu Jugendlichen ihres Alters seltener.
„Aber ja." Vanessa schenkte ihnen ein humorloses, aufgezwungenes Schmunzeln, als wäre ihr in Wahrheit nicht zum Lachen zu Mute. „Mein Cousin Blake, zu dessen Tod der gute Adam unweigerlich beigetragen hat."
Die Art wie sie vor dem Aussprechen von Blakes Namen unmerklich zögerte, verriet Jace, wie viele Emotionen ihrerseits mit diesem verdammten Teufel verbunden waren. Umso größer war seine Abscheu, inmitten des Brocelind-Waldes, umgeben von Feinden, herausfinden zu müssen, dass Blake Ashdowns vergifteter Geist sie immer noch verfolgte.
„Vanessa Ashdown", presste Jace zwischen knirschenden Zähnen hervor. Die Hitze des Hasses legte sich über seine Sicht wie Wasserdampf sich auf ein kühles Fenster legte und die Sicht auf Klarheit und Rationalität verwischte. „Dann hoffe ich, du freust dich darauf, deinen Cousin bald wiederzusehen." Dann stürzte er sich auf die Schattenjägerin.
Etwas in Vanessas Augen blitzte, ihr Auftreten so ruhig, als hätte sie seinen Angriff vorhergesehen. Jace hatte die Strecke zu ihr nicht einmal zur Hälfte überbrückt, als sie bereits ihre Axt gehoben hatte. In einer präzisen Geste ließ sie sie auf seine Klinge herabsausen. Mit einer Kraft, die Jace ins Wanken brachte. Um ihn herum brach ein Kampf aus und er wusste, dass ein Sieg aussichtslos war. Sie waren deutlich genug in der Unterzahl und so unerwartet wie sie trotz ihres Bogens überfallen worden waren, hatten sie keine weitere List in der Hinterhand.
Der Trost, dass Jace vor seinem vermutlichen Tod eine Verwandte von Blake mit in die Unterwelt reißen konnte, verflog, sobald er die Waffen mit Vanessa Ashdown kreuzte. Er hatte sie für durchschnittlich gehalten, hatte in ihrem Kampf einen schnellen Sieg gewittert. Nun beschlich ihn das Gefühl, jede Sekunde von ihr ausgeweidet zu werden, wenn er nicht mit ihren Paraden mithielt.
Jace' Augen weiteten sich von selbst und die Verblüffung, die ihn aus der Konzentration seines Rachefeldzugs schleuderte, stahl sich unter seiner Maske hindurch. Eine wirbelnde Drehung um die eigene Achse später traf Vanessas kalkulierender Blick seinen und obwohl sie ihm offensichtlich ebenbürtig war, schien sie unzufrieden. Ihre eben noch vor Selbstsicherheit gehobenen Mundwinkel erschlafften zu einer neutralen Linie. Ihre gesamte Miene verschloss sich vor ihm, als würde sie ihm ihre Gedanken nicht offenbaren wollen.
In seinem Rücken rief Isabelle Jace' Namen. Inmitten eines Duells auf Augenhöhe war es ihm jedoch unmöglich, den Kopf zu drehen. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als die Furcht in ihm hochkochte, dass dies die letzten Worte seiner Schwester sein könnten. Sie waren unterlegen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis–
Der Stiefel in seiner Kniekehle traf ihn unvorbereitet. Er konnte nur noch zu Vanessa hochschauen und darauf warten, dass sie ihm den Kopf abhackte, als seine Beine abrupt unter ihm zusammenklappten. Stattdessen machte sie einen Satz nach hinten und wich seinem Körper aus, als dieser den feuchten Grund traf.
„Ich habe dir gesagt–", zischte Vanessa, nur um ihre Tirade abrupt abzubrechen. Ihr aufgebrachtes Funkeln war Milo gewidmet, der um Jace herum an ihre Seite stolzierte und sein goldenes Schwert in seine Rückenscheide schob. „Ich hätte ich allein besiegt."
„Ich weiß." Milo strich sich seine glatten, lederschwarzen Haare aus der Stirn. Er stand aufrecht wie ein gespannter Bogen und strahlte dabei eine selbstverständliche Autorität aus, dass Jace sich nicht länger sicher war, wer hier wirklich das Sagen hatte. „Allerdings rennt uns die Zeit davon."
Vanessa und Milo wechselten einen vielsagenden Blick, aus dem Jace nicht schlau wurde. Er nutzte ihre stumme Kommunikation, um sich umzuschauen. Isabelle und Adam standen nicht unweit von ihm, aber das war bereits alles Positive. Zwei Schattenjäger fesselten ihre Hände hinter dem Rücken und warfen ihre Waffen achtlos in den verdreckten Schnee. Lyall hatte es schlimmer erwischt. Seine menschliche Gestalt krümmte sich in der Erde zusammen, ein Wimmern entkam seiner Kehle. Da er nicht blutete musste Jace zweimal hinsehen, bis er kapierte: Seine Haut warf Blasen, die auf Verbrennungen hindeuteten. Über ihn beugte sich ein Elbenritter mit einer langen silbernen Peitsche. Sie hatten ihn wohl so lange mit dem Silber eingekesselt, bis er freiwillig die Gestalt gewechselt hatte.
„Steh auf", drang Milos gefühllose Stimme an Jace' Ohr.
Fremde Finger griffen nach dem Saum seiner Kampfmontur und rissen ihn fort vom Grund. Er nutzte seine zusammengesackte Körperhaltung, um nach einem Dolch zu greifen. Wieder auf schwankenden Füßen stehend, wollte er ihn Milo in den Oberkörper rammen. Seine Muskeln waren gerade im Inbegriff, die Bewegung auszuführen, als sich eine raue Klinge an seine Kehle legte wie bei einem zu schlachtenden Tier.
„Du hättest ihn zuerst entwaffnen sollen", sagte Vanessa an Milo gewandt, aber sowohl ihre Aufmerksamkeit als auch ihre Axt waren auf Jace gerichtet. Während sie ihn aus nichts preisgebenden Augen betrachtete, zwang Milo seine Hände ohne jede Vorsicht auf den Rücken, um sie zu fesseln.
„Ich dachte die Herondales sind faire Krieger", erwiderte Milo und die herabwürdigende Art wie er seinen Familiennamen aussprach erinnerte Jace an Jonathan. Der Schattenjäger schnürte das Seil so fest um Jace' Handgelenke, dass er das Gefühl hatte, jegliches Blut würde aus seinen Fingern weichen. „Oder spielen sie ihre Ehre vor, so wie die Inquisitorin es tut?"
„Seit wann sind Kämpfe fair?" Vanessa griff nach Jace gefesselten Händen, um ihn zu führen, nachdem Milo ihn in ihre Richtung geschubst hatte. Sie beachtete ihn nicht, sondern blickte Milo hinterher, der sich nun Isabelles Hände schnappte. „Das solltest du besser wissen als die meisten."
„Verdammt, was ist nur aus dir geworden, Coldrigde?" Die Stille, die auf Jace' Worte folgte, überraschte ihn. Milo blickte über die Schulter zu ihm herüber, von der bisherigen Gleichgültigkeit keine Spur; eher verwirrt, dass Jace ihn überhaupt adressierte. „Wir waren nie wirklich befreundet ... aber das hier?"
Milo öffnete den Mund, nur um ihn wieder zu schließen. Seine Verwirrung verwirrte wiederrum Jace. Es hatte Zeiten gegeben, als Milo und er Zeit miteinander verbracht hatten. Die wenigen Wochen im Jahr, als er als kleiner Junge bei seiner Großmutter in Alicante gewesen war. Bis er irgendwann groß genug gewesen war, um nur für Kurzbesuche vorbeizuschauen. Der Kontakt zu Schattenjägern wie Milo war dadurch größtenteils verloren gegangen, aber er erinnerte sich dennoch an diese Zeiten. Milo jedoch sah aus, als hätte er keinen blassen Schimmer, wovon Jace überhaupt sprach.
Die Tatsache, dass sein ehemaliger Spielkamerad so verstrickt in eine zerstörerische Ideologie geworden war, stimmte Jace traurig. Die Gehirnwäsche der Kohorte hatte ihn so fest im Griff, dass er sich an diese vergangenen Kindertage nicht erinnern wollte. Es stimmte, dass sie nie wirklich Freunde gewesen waren – zumindest nicht langfristig. Aber sich so gegen jemanden zu wenden ...
Ihre Lage war aussichtslos. Vanessa würde alles daransetzen, sie vier an Valentin auszuliefern. Diese Leute taten alles, um in seiner Gunst zu stehen. Doch Milo war anders. Zu Milo hatte Jace einen persönlichen Draht. Wenn auch nur hauchdünn. Er musste wenigstens versuchen, ihn von diesem Pfad abzubringen. Musste zumindest versuchen, seine Familie und sich zu retten. Wenn er schon nicht sie hatte retten können.
„Ich war bei dir zuhause. Deine Mutter hat für uns gekocht. Erinnerst du dich denn nicht?" Den Vorwurf herunterzuschlucken war unmöglich.
„Ich ..." Milo wich seinen fordernden Blicken aus. Seine formelle Haltung strauchelte.
Jace spürte, dass etwas unter seiner harten Oberfläche sich regte. „Was hält deine Familie von diesem Pfad, den du bestreitest?" Er musste weiterbohren. „Was–"
„Genug!" Vanessa, die etwa die gleiche Größe wie Jace hatte, trat ihm erneut in die Kniekehle. Nicht brutal, aber kraftvoll genug, um ihn erneut ins Straucheln zu bringen. Ihre Axt schwebte gefährlich nahe an seiner Halsschlagader. In einer überdeutlichen Geste, griff legte Vanessa sie auf seiner rechten Schulter ab, während sie ihn gleichzeitig wieder auf die Füße hievte und vorwärtsschob. Es folgten Kommandos an die Elben, die überraschenderweise nicht mit der Befehlsausführung zögerten, wie Jace es angesichts ihrer Abstammung erwartet hätte. „Ab jetzt verpasst Ihr seiner Schwester für jedes von Jace gesprochene Wort eine Ohrfeige. Mal sehen, wie gesprächig er dann ist."
Zorn durchfloss Jace wie eine Lawine aus Magma. In einer Sekunde suchte er noch nach Gleichgewicht, in der nächsten strömte die Engelskraft wie flüssige Lava durch seine Adern. Er riss sich mit solcher Stärke aus Vanessas Klauen, dass diese ihm nur blind hinterherstolpern konnte. Noch in der Bewegung wirbelte er herum, trat ihr in die Rippen und schnappte sich die Axt aus ihrer Hand.
Das Feuer der Engel verbrannte Jace mit solcher Inbrunst wie es nicht einmal die Hölle könnte. Er spürte, wie sich der übermenschliche Fokus seiner Gabe auf Vanessa Ashdown ausrichtete. Er spürte die süße und benebelnde Macht, die ihm zuflüsterte, dass er alles und jeden besiegen konnte. Den ganzen Tag hatte er versucht, die Engelskraft heraufzubeschwören. Ohne Erfolg. Nun, im Angesicht der Niederlage, erlaubte ihm der Himmel endlich eine Chance.
Jace hörte die Schritte seiner Gegner, wie sie ihn umzingelten. Dabei hatte er nie vor ihnen davonlaufen wollen. Mit der Stärke eines Engels streckte er die Axt aus, zeigte mit ihr direkt auf Vanessa, die ihn aus geweiteten Augen anstarrte.
„Kommt nur her." Die Worte gemurmelt wie ein Gebet. Mit ausgestreckter Waffe drehte er sich einmal um sich selbst. Als seine Augen Vanessas fanden, spürte er, wie seine Mauern verrutschten – spürte, wie dieses Etwas wieder in ihm heraufkroch – ihm Dinge zuflüsterte und ihn zu Handlungen animierte. „Wollen wir nachsehen gehen, wie es Blake in der Hölle so ergeht?"
Jace konnte den Wahnsinn spüren, die Verzweiflung, den Schmerz. Ein Gemisch, welches er bis zu diesem Zeitpunkt mit Mühe und Not hatte unterdrücken können. Die befreiende Wirkung der Engelskraft in seinem Blut war der finale Tropfen, der diese Mischung zum Explodieren brachte. Ein Vulkan, der zu lange versucht hatte, dem Druck standzuhalten, nur um nun hochzugehen, wie keine menschliche Bombe es jemals könnte.
„Du kannst uns nicht alle besiegen, Jace", sagte Vanessa einige Oktaven zu starr. Es klang wie Furcht.
In seinem Inneren hoffte er, dass er Isabelle und den anderen die nötige Ablenkung verschaffte, um zu fliehen. Das war alles, was zählte.
„Nein." Die Stimme aus Jace' Kehle gehörte nicht ihm selbst. Sie gehörte dem Mann, der diesen trostlosen Körper bewohnte; der weitergemacht hatte, als sie aufgehört hatte. Er legte den Kopf schief und bohrte seinen brennenden Blick in Vanessas Gesicht. „Aber das ist auch nicht das Ziel."
„Das ist Selbstmord." Vanessa wirkte aufgebracht und überfordert. Sie brauchte ihn lebend. Aus irgendeinem Grund, den wohl nur Valentins verdrehtes Hirn kannte, brauchte Vanessa ihn lebend.
„Dann soll es so sein", flüsterte Jace. Gebrochen und gleichgültig und bereit, sich selbst in den Tod zu stürzen, wenn das bedeutete, sie endlich wiederzusehen. Jeder Atemzug auf dieser trostlosen Erde war ohnehin einer zu viel gewesen. „Im Tod vereint."
Isabelle schrie. Adam brüllte. Milo seufzte. Vanessa ruderte zurück. Jace stürzte nach vorn.
Ehe er Vanessa mit seiner Axt entzweischlagen konnte, hörte er jemanden von hinten an sich heranpirschen. Jace drehte sich zur Seite und enthauptete einen im Weg stehenden Elbenritter als bestünden Haut und Knochen aus Butter. Drei weitere Elben stürzten sich auf ihn und Jace konnte sich im Nachhinein nicht mehr daran erinnern, wie er sie niedergestreckt hatte. Heißes Blut spritze ihm ins Gesicht, bedeckte seine Haare und Augen. Das Blinzeln, um seine klare Sicht wiederherzustellen, kostete ihn einiges. Plötzlich ragte Milo direkt über ihm auf, sein goldenes Schwert im Anschlag.
„Du bist ein Vollidiot, Herondale", murmelte Milo, ehe ein schwerer Gegenstand Jace seitlich an der Schläfe traf. Unausweichlich mit Milo direkt in seinem Radius.
„Ein dramatischer, überheblicher Vollidiot", war das Letzte, was Jace ihn sagen hörte, bevor die Dunkelheit der Ohnmacht ihn übermannte.
oOo
--- Sonnenuntergang. ---
Sie brauchen dich lebend, war das Erste, was Jace durch den Kopf schoss, als er eine unbezifferbare Zeit später wieder zu Bewusstsein kam.
Zu überwältigt von den Schlingen des Dämmerschlafs, die sich um seine Glieder ranken, gelang es ihm nicht, die Lider aufzuschlagen. Ein unregelmäßiges Schaukeln war alles, was seine benebelten Sinne registrierten. Als befände er sich auf einem Schiff, welches unter dem Willen der Wellen hin und her wippte.
Sein Gehör setzte unerwartet ein. Bis dahin hatte er nicht einmal bemerkt, dass er taub in eine Stille gelauscht hatte. In seinem Kopf hatten auch ohne den Trubel der Außenwelt Stimmen und Gedanken gerauscht. Nun hörte er einen murmelnden Schwall an Stimmen aus der Ferne. Ein knackendes Stampfen von Stiefeln auf Kies. Ein Atmen mehrerer Personen um ihn herum. Einen Herzschlag unweit seines eigenen.
Es war der aufsteigende Geruch von Wasser, der Jace schließlich über die Schwelle treten ließ. Nach Luft schnappend stieß er die Augen auf. Als er sich auf dem Rücken einer großgewachsenen, kräftigen Person sah, begann er zu zappeln wie ein Fisch auf dem Trockenen. Wer auch immer ihn festhielt, es musste ein Elbe sein, drückte seine Finger in Reaktion stärker in seine Haut; kam nicht einmal zum Stehen.
Jace rüttelte gegen die Arme des Elben; versuchte, sich auf dessen Schulter zur Seite zu lehnen und–
Jace versteinerte in seiner Bewegung, als seine Augen den Abendhimmel fanden. Erst beiläufig und schließlich weitäugig. Fern der blockierenden Baumkronen, wo es nichts gab als Wasser und Luft. Der Himmel in ein Inferno aus orange-rotem Licht getaucht, welches den Horizont aufflammen ließ wie eine vom Feuer verzehrte Göttin – die die Erde zu Asche versengen könnte, sich ihr mit ihren Lichtstrahlen stattdessen liebkosend entgegenlehnte. Ein letztes Mal, bevor die Finsternis die Erde für sich beanspruchte. Der See darunter, seelenruhig wie wenn das Wasser nicht unter einem nachgeben würde, reflektierte das Farbenspiel aus Orange- und Rottönen, wie nur ein Spiegel es konnte – streckte sich den Flammen des Himmels entgegen, als würde er die Liebkosung der Sonne erwidern wollen – als würde er die Sonne berühren wollen, so wie sie mit ihrer Wärme das Wasser berührte. Doch anders als das wandernde, wunderschöne Licht, würde das Wasser nie über seine eigene Oberfläche hinauslaufen können. Für Aufgang und Untergang so nah, aber dennoch auf ewig unerreichbar.
Und während die Sonne von der tiefenlosen Dunkelheit verbraucht wurde, konnte das zurückbleibende Wasser nur stumm zusehen und versuchen, ebenso in der Schwärze unterzugehen wie seine geliebte Sonne es getan hatte.
Jeder Lebenskampf verließ Jace, als er in die Abendröte starrte. Jeder Wille. Jede Mauer. Tränen liefen über seine von der Engelsgabe erhitzten Wangen, tropften gen Erde – gen Sand, weil sie den Strand erreicht hatten. Die Qual der Engel war grenzenlos, für Menschen nicht standhaltbar – aber er war anders. Er war kein gewöhnlicher Mensch, kein gewöhnlicher Schattenjäger. Und so spürte er ein eigenes Ausmaß der Folter – spürte, was andere umgebracht hätte.
Jace wünschte, er wäre tot.
Doch als der Elb ihn von seiner Schulter hob und grob zu Boden schubste, drängte sich diese eine letzte Aufgabe wieder in sein Gedächtnis. Als die Tränen für einen Moment versiegten, weil er drohte an seinem eigenen Atem zu ersticken, klarte sich seine Sicht und er erinnerte sich.
Jace wünschte, er wäre tot, aber er konnte noch nicht gehen. Konnte nicht, weil er geschworen hatte, Valentin Morgenstern umzubringen, ehe er fiel.
Ein zum Greifen naher Moment, denn der Elb hatte Jace keine zwanzig Meter von der Küste herabgelassen. Zwanzig Meter. Nach Monaten des Hin und Hers hätte nicht er, sondern sie hier stehen sollen.
Zwanzig Meter von ihm entfernt, mit den feingearbeiteten Stiefeln im zentimeterhohen Wasser stehend, befand sich Valentin Morgenstern und Jace würde zu Ende bringen, was ihr verwehrt gebelieben war.
-
Noch ein zweites Kapitel! :)
Die nächsten Kapitel werden echt cool, ich freue mich sehr! Auch wenn ich natürlich hoffe, dass ihr die letzten paar Kapitel auch gut fandet! :) Sonst gibt es nicht viel zu sagen. Falls ihr wissen wollt, wie ich mir die Charaktere vorstelle, schaut gern auf meinem Pinterest vorbei. Mein Name dort ist ccskyllen. Vanessa und Milo sind dort jetzt auch verfügbar! :)
Skyllen
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