Kapitel 94 - Deceptions
Kapitel 94 – Deceptions
--- 2 Stunden vor Sonnenuntergang. ---
„Geht es euch gut?", flüsterte Isabelle über ihre Schulter hinweg und hockte sich in den Schatten eines breiten Baumstammes, der nach vertrocknetem Harz roch. Mit Adam und dem anderen Nephilim namens Paal Mendoza in ihrem Rücken, fühlte sie sich sicher genug, um sich das Blut an ihrer Hose abzuschmieren, welches zwischen ihren Fingern klebte.
„Nichts als ein paar Kratzer", antwortete Paal und als Isabelle ihren Dolch zurück an ihren Waffengurt hängte, beobachtete sie die beiden Jungs dabei, wie sie sich gegenseitig Iratzen auftrugen.
„Da ich unverletzt bin, habe ich wohl gewonnen." Isabelle zeigte ihnen kurz die Zähne, ehe ihre Aufmerksamkeit zu der bevor liegenden Mission zurückkehrte.
Sie hatten sich bis zur Südseite durchkämpfen können, auch wenn es kein leichtes Unterfangen gewesen war. Anders als erhofft hatte sich die Dichte der Patrouillen erhöht je weiter südlich sie gewandert waren. Nie in Gruppen größer als vier, was ihre Rettung gewesen war. Doch die letzte Gruppe hatte ausschließlich aus Nephilim bestanden. Ein deutliches Anzeichen dafür, dass sie sich Valentin nähern mussten. Egal wie sehr er der Feenkönigin vertraute, so wie Isabelle ihn einschätzte, legte er seine Sicherheit lieber in die Hände seiner eigenen Leute.
„Adam?", harkte sie nach einer Minute der Wartezeit schließlich nach. Seine ausbleibende Antwort war Antwort genug, aber Isabelle drehte sich dennoch um, um ihn zu mustern. Sein Gesicht hatte jegliche Farbe verloren – ein Teint so aschfahl, dass er dem Schnee um sie herum nicht unähnlich war.
„Ich kannte sie nur vom Sehen", würgte Adam hoch, als er ihre Augen auf sich spürte. „Dennoch waren sie Nephilim."
„Sie waren Verräter", entgegnete Paal mit aller Seelenruhe. Ihn schien nie etwas aus dem Konzept zu bringen, wie Isabelle bereits aufgefallen war. Selbst am Höhepunkt des Gefechts blieb er gefasst, als wäre sie nichts als eine weitere Trainingseinheit seiner Routine. Nun bedachte er Adam aus seinen ungewöhnlichen mandelfarbenen Iriden. „Wir haben nur unsere von der Inquisitorin auferlegte Pflicht erfüllt."
Adams Niedergeschlagenheit lichtete sich zwar nicht, aber er presste den Kiefer in einer Mimik zusammen, als würde er einen Gefühlsausbruch zurückhalten wollen. Langsam hob er das Kinn, tunkte seine Finger in den Schnee und strich sie sich anschließend über das zerstreute, braune Haar, um sie zurückzuhalten.
„Lass sie noch eine Woche wachsen und du kannst sie dir zu einem kleinen Zopf hochstecken", versuchte Isabelle ihn aufzuheitern.
Adams Wangenmuskeln entspannten sich kaum merklich, seine Pupillen huschten zu ihr herüber und die fehlende Mauer vor seinen Emotionen überraschte Isabelle. Seit er vor mehr als einem Jahr im New Yorker Institut eingezogen war, war er ihr stets mit einer distanzierten Freundlichkeit begegnet. Eine Zurückhaltung, von der sie heute wusste, dass sie seinem Spionageauftrag geschuldet gewesen war. Damals war er ihr immer ein wenig aufgeblasen und besserwisserisch erschienen. Erst Clarys Ankunft hatte dies verändert – sowohl ins Positive als auch ins Negative.
Paal klopfte Adam aufmunternd auf die Schulter und riss Isabelle aus ihren Gedanken. Sie kehrte den Jungs erneut den Rücken zu und spinkste an dem Stamm der Tanne vorbei in Richtung Ufer. Es trennte sie nicht viel Distanz vom goldenen Zelt. Einige hundert Meter vielleicht. Keine Armee weit und breit, nur vereinzelte, vermummte Figuren, die aus dem Zelt ein- und ausgingen und dabei immer im Wald der Ostseite verschwanden. Möglicherweise war die Armee, die Valentin bewachte, mit Absicht dort stationiert, sodass sie sie erst bemerken würden, wenn sie bereits kurz vor dem Zelt standen. In der Tat strategisch.
„Wie hoch stehen die Chancen, dass Valentin wirklich in diesem Zelt ist?", wunderte Isabelle sich laut genug, dass Adam und Paal sie hören konnten.
Einer der beiden zuckte die Schultern, aber Isabelle war zu fokussiert, um ihre Augen von dem schimmernden Zelt im Norden zu lösen. Im Licht der sich neigenden Sonne strahlte es wie flüssiges Gold und tanzende Flammen. „Könnte genauso gut eine Falle sein", hörte sie Paal sagen. „Falls sich im Ostwald eine Armee versteckt, müssen wir die Beine in die Hand nehmen und den Südrand erreichen, ehe sie die Bogenschützen auspacken. Wir können es nicht mit einer Streitmacht aufnehmen."
„Ich wünschte, wir hätten mehr Rückendeckung als–", begann Adam zu wispern, als könnte ihn sonst womöglich jemand überhören. In diesem Moment wurde unten am Ufer der Eingang des Zelts zur Seite geschoben.
Mit der plötzlichen Energie eines Blitzes in ihren Venen brachte Isabelle Adam durch ein simples Pssst zum Schweigen. Ihre Haltung richtete sich auf, wie wenn ihre Muskeln in dem Bedürfnis juckten, aufzuspringen. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Gestalt ausmachte, die in dieser Sekunde aus dem Zelt herausschritt. Das Herz in ihrer Brust machte einen so gewaltigen Aussetzer, dass sie das Gefühl hatte, zu explodieren.
Eingekleidet in eine schwarzpolierte Kampfrüstung und einen Mantel lässig über die Schultern geworfen, trat die Person aus der Dunkelheit des Zeltes. Ein überdimensionales Schwert auf den Rücken geschnallt, als wäre es nur ein Modeaccessoire und nicht die mächtigste Waffe dieser Welt. Die Sonne berührte ihre Haare, sobald sie aus den Schatten ins Freie trat. Hell wie der Schnee und intensiv wie ein sonnengetränkter Wintertag.
„Isabelle?" Paal klang nicht halb so angespannt, wie sie sich fühlte.
„Er ist hier", brachte sie zwischen mehreren Atemzügen hervor und fühlte sich, als würde sie ertrinken. „Valentin", präzisierte sie schnell und dann sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. „Er ist hier. Ich sehe ihn. Er hat Mellartach bei sich. Er geht zum Ufer. Spaziert als wäre er auf einem beschissenen Strandausflug. Keine Wachen. Niemand."
„Bist du dir sicher?"
„Er hat nur eine Hand", stellte Isabelle klar. Auch ohne dieses Indiz, war sein Haar unverkennbar. Die gleiche Nuance wie die seines Sohnes, Clarys Bruder Jonathan.
„Er muss das Ufer nach der richtigen Stelle für die Beschwörung auskundschaften", brachte Adam atemlos hervor, seine Stimme einige Oktaven in die Höhe geschnellt. „Cl ... Clary hat uns gewarnt, dass er seine Verbündeten lieber als Kanonenfutter benutzt, anstatt sie in seine Pläne einzuweihen."
„Es ist wahrscheinlich nichts als eine Machtausübung, um seinen Anhängern zu beweisen, dass er sich nicht vor dem Feind fürchtet." Wie immer schien Paal seine Emotionen bestens im Griff zu haben. Kaum ein Funken an Aufregung war in seinem Ton auszumachen. Isabelle wünschte, dass sie sich etwas von seiner Disziplin abschneiden könnte. „Leibwächter würden ihn unnahbar und schwach wirken lassen. Er wäre nicht anders als die Inquisitoren und Konsule, die Alicante regieren. Er muss volksnah und kompetent rüberkommen. Er kann nur hoffen, dass sein grausamer Ruf ihm vorauseilt, sodass seine Gegner – in diesem Fall wir – uns vor einer Konfrontation fürchten."
„Nichts da", durchriss Isabelle die abkühlende Abendluft. „Diese Gelegenheit lassen wir nicht ziehen." Dann war sie auf den Beinen und winkte sie herüber. „Wir gehen jetzt dort runter und töten diesen Bastard."
Adam und Paal erhoben sich und nickten zustimmend, ihre Mienen finster. „Aber behaltet einen klaren Kopf. Denkt an die Elbenfallen", sagte Paal und nahm seinen Bogen von der Schulter. Adam zückte seine Seraphklinge und dann schlichen sie durch den Wald hindurch, den letzten Hügel herunter, ehe sie zwischen den Tannen ins Freie traten.
Es lag noch genügend Abstand zwischen ihnen und Valentin, als dass er sie bemerkt haben konnte. Und doch hielt er plötzlich in seiner Bewegung inne, als hätte er sie gehört. Alle drei verharrten und Isabelle musste Adam hinter einen hohen Felsen schieben, um nicht entdeckt zu werden.
Valentin hatte ihnen den Rücken zugewandt, sein Gesicht auf die seichten Wellen gerichtet, nach Norden gerichtet. Innerlich fluchte Isabelle. Nun, wo sie nah genug waren, um seinen Schemen besser auszumachen, wurde deutlich, dass es sich gar nicht um das Engelsschwert handelte. Es war ein Schwert von ähnlicher Größe, aber dort endeten die Ähnlichkeiten. Der Griff war simpel, das Silber der Klinge von vielen Kämpfen ausgegraut. Das bedeutete, dass Valentins Konfrontation nicht ausreichen würde. Ihr Auftrag war die Rückführung des Schwerts. Alles, was in der Zwischenzeit passierte, war nur der Weg zum Ziel. Niemand hatte ihnen ausdrücklich befohlen, Valentin Morgenstern zu töten. Aus diesem Grund wäre es wahrscheinlich schlauer gewesen, zum Zelt zu eilen, anstatt ihm aufzulauern.
Doch Isabelle rührte sich nicht und öffnete auch nicht die Lippen, um den anderen von ihrer Entdeckung zu berichten. Ob Valentin nun starb oder sie Mellartach fanden, war schließlich egal. Und nun, wo sie den Mann vor sich stehen hatte, der so viel Leid über sie und ihre Liebsten gebracht hatte, wollte ihr Herz nicht länger auf die vernunft-getriebene Stimme ihres Gehirns hören. Es fühlte sich an wie ein Fluch, der sich auf einmal über Isabelle legte. Ein Fluch, der jede zurückziehende Bewegung noch im Keim erstickte.
„Jetzt oder nie", presste Adam flüsternd zwischen geschlossenen Zähnen hervor und bedachte sie dabei aus seinen grünumrahmten Pupillen mit einem auffordernden Blick.
Isabelle saugte stockend Luft in ihre Lungen und lauschte auf Geräusche von Valentin. Der feine Sand knirschte kaum hörbar unter seinen Stiefeln, als er mit gemächlichen Schritten am Wasser entlangwatete. Ohne es aktiv mitzubekommen, befreiten ihre Finger einen der Dolche von ihrem Gurt und klammerten sich um ihn, als wäre er ein Rettungsring. Das Herz in einem aufgeregten Takt klopfend, schaute sie zu Paal herüber. Er wartete bereits auf ihren Befehl. Ebenso wie Adam, der nun seine eigene Waffe zückte, während Paal einen Pfeil anlegte.
„Freies Schussfeld", flüsterte er, sobald er Valentin im Visier hatte.
Konnte es tatsächlich so einfach sein? Noch nie war Isabelle ein knappes Nicken so leichtgefallen. Paal spannte den Bogen, zielte auf Valentin Morgenstern und ließ den Pfeil fliegen. Isabelle und Adam sprangen hinter dem Felsen hervor, noch bevor er sein Ziel traf. Ihre Füße in den wankenden Kies grabend, sahen sie dabei zu, wie die Pfeilspitze sich tief in die Schulter von Valentin bohrte.
Ein schmerzerfülltes, tiefes Brüllen erfüllte den schmalen Strandstreifen, aber weder Isabelle noch Adam hielten im Sprint inne. Mit Paal als Rückendeckung trauten sie sich, geradewegs auf Valentin zuzulaufen, der vor ihnen auf die Knie stürzte wie ein gefallener Engel.
Isabelle hob ihren Dolch und schleuderte ihn auf Valentin, bevor er sich auch nur halb zu ihnen umdrehen konnte. Direkt auf seinen noch funktionstüchtigen Arm, der gerade Anstalten machte, hoch zum Heft des massiven Schwerts zu gleiten. Ein weiterer Laut entsprang seiner Kehle, aber anstatt peinvoll zu klingen, erinnerte es sie eher an–
Valentin Morgenstern lachte. Aus tiefster Lunge und mit voller Inbrunst. Sein Brustkorb bebte dabei so heftig, dass die Kapuze ihm vollständig vom Hinterkopf fiel. Adam auf ihrer Rechten richtete seine Seraphklinge aus und setzte die scharfe Klinge an seiner Halswirbelsäule an. Doch anders als er zögerte Isabelles Körper unter ihr auf einmal, auch wenn sie nicht sagen konnte, weshalb.
„Mehr als drei Kinder hat eure Inquisitorin nicht zu bieten", säuselte Valentin, scheinbar unbeeindruckt von der Bedrohung, die von Adam ausging. Sobald er sprach, wusste Isabelle, weshalb.
Valentin war in der Ratshalle gewesen – vor fünf Tagen. Um Malachi zu töten und den Nephilim sein Ultimatum zu liefern. Seine Stimme, so unverkennbar und einzigartig, hallte Isabelle selbst Tage später noch im Kopf nach. Eine Stimme gefüllt von Autorität und Selbstsicherheit – frei von jedem Zweifel und jeder Sympathie. Eine Stimme, die keinerlei Ähnlichkeiten mit der dieses Mannes besaß. Ein Mann, bei dem es sich nicht um Valentin Morgenstern handelte.
Isabelle griff nach Adams Handgelenk und zerrte ihn fort von dieser Gestalt, ehe sie ihre Überraschung ausnutzen konnte. Adam zog mit, ohne Widerstand zu leisten; es musste ihm ebenfalls aufgefallen sein.
Den Schock auf ihren Gesichtern deutlich am Genießen, lächelte der Fremde nun zu ihnen hoch. „Oh, habt ihr wirklich damit gerechnet, hier auf Lord Valentin zu stoßen?" Etwas an seinem Lächeln strahlte eine genugtuende Boshaftigkeit aus, als wäre er entzückt über ihren fatalen Fehler.
In diesem Moment erkannte Isabelle, dass das falsche Engelsschwert auf seinem Rücken nur einer von vielen Tricks gewesen war. Ein Trick, den sie zwar durchschaut, aber falsch gedeutet hatte. Sie hatte das Schwert einfach für Valentins bevorzugte Waffe gehalten, nicht für eine List. Jetzt, wo sie darüber nachdachte, machte alles auf einmal Sinn. Valentin wusste um die Bedeutung von Symbolen. Niemals würde er mit einem anderen Schwert als Mellartach in die Schlacht ziehen, egal wie gut ihm ein anderes Schwert in der Hand lag. Sein Gang allein hätte ihn verraten müssen: Niemals würde er kurz vor Sonnenuntergang gemütlich am Strand entlangspazieren, er würde den Ort für sein Ritual schon seit Tagen ausgewählt und vorbereitet haben.
Valentin Morgenstern würde das Engelsschwert niemals auch nur eine Sekunde unbeaufsichtigt lassen.
Unter dem Einfluss der Rachsucht hatte Isabelle sich von Indizien auf eine falsche Fährte locken lassen und nun saßen sie in der Falle. Denn nichts als eine Falle war das hier und sie war lieber hineingetappt, als Adam und Paal von ihrer Beobachtung über das falsche Schwert zu erzählen. Sie hätte sie auch persönlich niederstrecken können, es hätte keinen Unterschied gemacht.
Denn in diesem Augenblick fielen die Wände des goldenen Zeltes plötzlich in sich zusammen wie nasse Stofflaken unter dem Gewicht der Schwerkraft. Ohne die Wände konnte man nun aus allen Richtungen in das Zelt blicken und sehen, was genau sich in seinem Inneren befand.
Krieger. Das Zelt war bis auf den letzten Quadratmeter gefüllt mit Kriegern. Überwiegend Elbenritter und nur vereinzelte Nephilim – ganz zum Gegenteil der Täuschung, die man ihnen verkauft hatte. Es mussten insgesamt um die Zwanzig sein.
Plötzlich wurde Isabelle klar, dass sie schon seit ihrer Begegnung mit den Elben im Wald in eine Falle gelockt worden waren. Das hier war nicht das Camp von Valentin. Doch der Elb, der offensichtlich unter falscher Atemlosigkeit auf die Lichtung gekommen sein musste, hatte genau das herausposaunt, was ihre Gruppe in einem Moment unentdeckter Ausspähung hatte hören wollen. Ohne ihr Wissen hatten die Elben von ihrer Anwesenheit auf der Anhöhe des Hügels gewusst und sie dazu manipuliert, hierher zu kommen. In ihren sicheren Tod.
Adam sah aus, als würde er aus allen Wolken fallen. Das Erstaunen kippte schnell in Schrecken. Das Schwert in seiner Hand bebte kaum merklich.
„Deine Eltern werden so enttäuscht sein, von deinem Tod erfahren zu müssen, Adam", säuselte der falsche Valentin nun und fuhr sich mit seiner einzigen Hand durch das weiß-blonde Haar. Der Pfeil in seinem Rücken schien ihn nicht zu behindern, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete.
„Hast du dir wahrhaftig eine Hand abhacken lassen, nur um uns einen Streich zu spielen?", flüsterte Adam mit verstörter Vertrautheit, die Silben so hastig aneinandergereiht, dass es noch verhaspelter klang.
Wenn Adam diesen Mann kannte, musste es sich um einen Schattenjäger handeln. Isabelles Augen glitten zu der fehlenden Hand, die seinen leeren Ärmel hätte ausfüllen sollen. Hatte er sie sich tatsächlich amputieren lassen, wie Adam andeutete?
„Alles für Lord Valentin", war alles, was der Mann erwiderte – keinen Funken Reue auf seinen Zügen. Dann hob er die Hand und bedeutete den wartenden Kriegern, den Kampf zu beginnen.
Isabelle stürzte sich auf den Mann zu und hatte ihn innerhalb eines Wimpernschlages enthauptet. Hinter sich hörte sie zwar Adams protestierende Rufe, ignorierte ihn jedoch vollends.
„Kein Platz für Zögern!", schrie sie ihn an, sobald sie zu ihm herumgewirbelt war. „Entweder zu kämpfst oder du stirbst!" Der Schreck, den dieser Tod mit sich brachte, klingelte ihr in den Ohren nach. Nun stärker denn je mussten sie zusammenhalten. Alles andere würde sie umbringen. Isabelle konnte nur zum Erzengel beten, dass Adam sich keine weitere Schwäche erlaubte.
Anstatt den breitschultrigen Männern und Frauen entgegenzukommen, riss Isabelle dem kopflosen Valentin ihr Messer aus dem Arm und schleuderte es dem nächstbesten Elben direkt zwischen die Augenbrauen. Die Zeit verstrich viel zu schnell und sie hatte gerade noch Gelegenheit, einmal tief Luft zu holen, als eine weibliche Schattenjägerin bereits ihr Schwert auf sie herabsausen ließ. Isabelle riss ihr eigenes hoch und das Adamant sprühte weiße Funken, als das Metall übereinander schliff. In einem tiefen Bogen kreuzten sie ihre Schwerter und wirbelten schließlich auseinander, nur um sich sofort wieder nacheinander umzudrehen, die zweite Attacke unmittelbar im Anflug.
Etwas hinter Isabelle zischte und bevor ihre Gegnerin wusste, was geschah, hatte sie sich bereits geduckt, um Paals Pfeil auszuweichen. Er spaltete den Adamsapfel der Frau, deren Waffe ihr binnen eines Wimpernschlags aus der Hand glitt und scheppernd auf dem Kies auftraf.
Ohne ihren Bewegungsfluss zu unterbrechen, rollte Isabelle sich zur Seite ab und warf ihren nächsten Dolch. Auf die Weise, wie Clary es ihr beigebracht hatte – damals, als es nur Training und nichts weiter gewesen war. Als sie diesem Tag entgegengefiebert hatten, weil er das Ende eines Generationen zerstörenden Konflikts verheißen hatte. Als der Gedanke an diesen Tag nichts als ein harmloses Bild in ihren Köpfen gewesen war, getränkt von ihrem jugendlichen Übermut.
Adam war leicht in der Menge zu finden. Er kämpfte gegen zwei Elbenritter gleichzeitig – hatte absichtlich viel Platz zwischen sich und den Nephilim gelassen. Er war in einen Kampf verwickelt, den er nicht gewinnen konnte. Allein schon wegen der zwei weiteren Elben, die grinsend daneben standen und ihren Kollegen das Feld überließen, als hätten sie alle Zeit der Welt.
Am hilfreichsten von ihnen drei war wohl Paal, der die Gegner aus der Ferne erledigte, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben. Isabelle wusste, dass er sein Bestes gab, aber auch seine Pfeile bewirkten bei den schweren Rüstungen keine Wunder. Stets in Bewegung bleibend, waren gezielte Treffer gefragt. Während Isabelle Adam zur Hilfe eilte, war sie sich sicher, dass auch Clarys Schießtalent hier ihr Ende gefunden hätte.
Fünf der Krieger waren erledigt, aber der Strom an Gegnern schien nicht schwächer zu werden. Fünfzehn gegen drei verbesserte ihre Chancen nicht nennenswert. Und so verlor auch Isabelles Unterstützung für Adam sich in der schieren Überzahl ihrer Feinde. Kaum hatte sie ihn erreicht, schienen sie von allen Seiten gleichermaßen umringt zu werden. In einem Akt der letzten Defensive reckte sie zwar ihre Klinge in die Höhe, aber tief im Inneren war ihr klar, dass sie längst verloren hatten. Die fatale Tatsache war, dass es niemandes Verschulden war. Sie hätten fünfmal so gut kämpfen können und hätten trotzdem verloren.
Doch es war Isabelles Schuld, dass sie überhaupt in einen Kampf hineingeraten waren.
Keine Minute verging, bis man ihnen die Schwerter aus den Händen schlug und nach ihren Armen packte, um sie gewaltsam auf die Knie zu zwingen. In der kurzen Rangelei, die ausgebrochen war, schlug jemand Isabelle mit der geballten Härte ihres Dolchgriffs gegen die Schläfe, sodass sie durch das wilde Pochen ihres Kopfes nur die Hälfte des Strandes scharf sehen konnte. Der Rest verlor sich in einem grellen Weiß, das Sterne um sie aufwirbeln ließ.
Ihr Körper geriet in eine Eisesstarre, sobald sie das kühle Metall einer Klinge an ihrer Halsschlagader spürte. Blinzelnd versuchte sie sich gegen die überwältigende Kraftlosigkeit ihres Geistes zu sträuben, der noch mit dem Schlag zu kämpfen hatte. In einer Spanne, während der die Zeit schneller als gewöhnlich abzulaufen schien, kostete sie die Untätigkeit Leben und Tod.
„Habt ihr den Dritten?", hörte Isabelle jemanden durch ein ohrenbetäubendes Rauschen hindurch fragen.
Es war der Ritter, der ihr sein Schwert an die Kehle hielt, wie sie durch halb geschlossene Lider hindurch feststellte. Seine Aufmerksamkeit galt nicht ihr, sondern etwas hinter ihr. Etwas in Isabelle schrie danach, seine Ablenkung zu nutzen, um sich zu befreien. Um es zumindest zu versuchen. Schließlich hatte sie die Peitsche noch nicht zum Einsatz gebracht, welche ihr Handgelenk wie ein unscheinbares Armband zierte.
Sobald der Gedanke ihr durch den Kopf schoss, flogen die Augen des Elben zurück zu Isabelle – durchstießen sie förmlich mit einer Frostigkeit, welche eine stumme Warnung beinhaltete, lieber stillzuhalten, als seine Reflexe auf die Probe zu stellen. Augen, die sie plötzlich an Meliorn erinnerten, obwohl sie seinen in keinster Weise ähnelten. Doch nur der Gedanke an ihn schmerzte Isabelle so sehr, dass sie nur stumm zusah, wie Paal zu ihnen geschleift wurde. Von seinem Bogen keine Spur; seine Finger krampfhaft zu Fäusten geballt, aber seine Gesichtszüge geübt regungslos – trotz des Bluts, welches aus seiner Nase floss.
Als einer der Elben schließlich auch Paal ein Messer an die Kehle hielt, beschlich Isabelle eine unangenehme Vorahnung. Drei feindliche Nephilim hatten für Valentin keinen Nutzen. Sie zu eliminieren, ehe sie erneut Schaden anrichten konnten, war die einzig sinnvolle Vorgehensweise. Und dem determinierten Blick des scheinbaren Anführers dieser Gruppe zur Folge, dessen Krummschwert Isabelle mit einer winzigen Berührung den Garaus machen konnte, würde ihr Tod schnell und bedeutungslos vonstattengehen.
Keine Vorrede. Keine letzten Worte. Alles, was Isabelle, Adam und Paal blieb, war das adrenalingeladene Klopfen ihrer Herzen, welches ihnen versicherte, dass das hier gerade tatsächlich geschah. Dass sie noch am Leben waren. Dass–
„Halt!", rief in diesem Moment eine junge aber nicht weniger gebieterische Stimme über den Strand hinweg. Beherrscht, kompromisslos und überheblich, in der mit jeder Silbe der Befehl schwang, der wie ein Echo über ihnen allen hing, obwohl das plötzliche Innehalten der Elben von nichts als Schweigen begleitet wurde.
Der Kies knirschte unter dem Gewicht von Stiefeln, als sich jemand ihrer Gruppe von hinten näherte – aus Süden, von wo Isabelle, Adam und Paal angegriffen hatten. Mit dem Rücken zum Geschehen, konnte keiner von ihnen sagen, was sich gerade abspielte, aber die Mienen der Elben bildeten ein überraschend unschlüssiges Bild – boten eine überraschend große Bandbreitete an Vermutungen. Über die meisten Gesichter flackerte eine Mischung aus Verwirrung und Unglaube, die mit jeder verstreichenden Sekunde von einem stärkeren, türeneintretenden Unbehagen verdrängt wurde. Die zwei noch lebenden Nephilim hingegen rissen erst in Überraschung die Augen auf und strafften schließlich die Schultern amtlich zurück.
Schließlich hob der Anführer sein Schwert von Isabelles Kehle und streckte es dem Neuankömmling entgegen, was einem der Schattenjäger ein empörtes Schnauben entlockte. „Identifiziere dich!"
Im melodischen Ton des Elben ging der aufkeimende Trotz beinahe unter, aber Isabelle hatte genügend Zeit in der Gegenwart seinesgleichen verbracht, um es aufzufangen. Flachatmend und ohne die raue Todeskälte an ihrem Hals wagte sie es, einen Blick über ihre Schultern zu werfen. Adam zu ihrer Rechten zog scharf die Luft ein, als seine Augen trafen, was ihre bereits ins Visier genommen hatten.
Großgewachsen und breitschultrig, gekleidet in einer mitternachtsschwarzen, blutbespritzten Kampfmontur stand er da. Die Hände gekonnt locker um Mellartachs riesiges Heft geschlungen, als wäre es nichts als ein gewöhnliches Schwert. Verglichen mit seiner stürmischen Erscheinung saß sein schneeweißes Haar wie angegossen und unterstrich die unangenehme Ruhe, die von ihm auszugehen schien. Das einzige Anzeichen, dass er nicht hierhergehörte.
„Ihr wisst genau, wer ich bin." Seine Lippen weiteten sich zu einem Grinsen, dem jede Freundlichkeit fehlte. Der brodelnde Ausdruck in seinen pechschwarzen Augen erinnerte Isabelle an einen Höllenschlund, der alles und jeden in eine quälende Unendlichkeit zog, was es wagte, sich ihm in den Weg zu stellen.
Die Aufmerksamkeit der Nephilim war allein auf das Engelsschwert geheftet. Die der Elben allein auf sein Gesicht.
„Lord Jonathan", murmelte der Schattenjäger am nächsten von Isabelle und ließ sich auf die Knie sinken. „Welch eine Ehre, dass Ihr hier seid."
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Frohes neues Jahr!
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