Kapitel 93 - Phase After Phase

Kapitel 93 – Phase After Phase

--- 3 Stunden vor Sonnenuntergang. ---

Phase 2 meinte die Aufteilung der Einheit. Die drei Grüppchen standen bereits fest, da sie diese heute Morgen selbst festgelegt hatte. Jace versuchte seine Gedanken auf die nächsten Schritte dieser Phase des Plans zu konzentrieren, anstatt wieder an sie zu denken.

Innerhalb eines Wimpernschlags verwandelten Maia und Lyall sich in ihre tierische Form und sprinteten in östliche Richtung davon, sobald Aaron ihnen das Signal dazu gab. Der Rest der Einheit starrte ihnen nach, bis sie sich hinter ebenholzfarbenen Stämmen und grau-grünen Sträuchern verloren. Ihre Silhouetten waren aus der Ferne länger zu erkennen als ihre Schritte hörbar waren.

Aaron verlor keine Zeit, als er seine Hälfte der Gruppe um sich versammelte. Zu Jace' Überraschung ruhte sein Blick auf ihm, als er sich an die andere Hälfte wandte. „Mögen wir uns zum vereinbarten Zeitpunkt vollzählig wiedersehen", war alles, was er sagte, bevor er auf dem Absatz kehrtmachte und losrannte. Gen Süden.

Jace drehte sich zu den verbliebenen Mitgliedern der Einheit um und trat neben seinen Parabatai, der von nun an die Führung dieser Gruppe innehatte. Dabei schweiften seine Augen über die anderen hinweg. Jace' Herz sank sofort in sich zusammen. Sie fehlte. Sie hätte hier sein müssen. Stattdessen nahm nun ein unbekannter Nephilim ihren Platz ein. Jace musste sich so kräftig auf die Lippe beißen, um die Galle zurückzuhalten, dass er Blut schmeckte. Er spürte, wie Isabelle an seine linke Seite trat und ihn aus dem Augenwinkel musterte, aber er ignorierte das Stechen ihres Blickes. Ihr konnte es nicht besser gehen als ihm, auch wenn sie ihre Emotionen wohl besser im Griff hatte.

„Los geht's", kam es in diesem Moment von Alec und Jace' Füße setzten sich wie von selbst unter ihm in Bewegung.

Ihr Weg führte die Gruppe nach Westen. Sie liefen so schnell durch das Unterholz, dass es sich fast wie Schweben anfühlte. Alles nur dank Magnus, der sie zumindest augenscheinlich vor Feinden verborgen hielt. Die zweite Phase des Plans war noch recht simpel. Jede Gruppe sollte sich dem See aus einer anderen Himmelsrichtung nähern, wobei die einzige Aufgabe von Maia und Lyall darin bestand, durch ihren Geruch für Ablenkung zu sorgen. Sie hatten keine Ahnung, wie viele Elfen die Königin Valentin zur Verfügung gestellt hatte, doch ihr Geruchssinn war deutlich schärfer als der der Menschen. Später würden die Wölfe zu Aarons Team stoßen, sodass die Gruppen beinahe ausgeglichen waren. Was danach kam, hing davon ab, wie lange sie unentdeckt blieben.

Das Brechen von Holz, das Knistern von Laub, das Knacken loser Steine rückten – verdeckt vom Rauschen des Widerstandwindes – beim Rennen in den Hintergrund. Sobald der Fokus Jace in Beschlag genommen hatte, war es, als würde sich jedes einzelne Geräusch zwischen den Bäumen voneinander abheben, ohne dass andere Sinne Einbußen erlitten. Jace' Sinne befanden sich in höchster Alarmbereitschaft, ohne dass er zusätzliche Anstrengungen aufbringen musste. Vielleicht war es die Engelskraft, vielleicht aber auch der ihn antreibende Rachedurst. Ungeachtet der Ursache war er der Erste, der den Pfeil hörte. Ein hohes Zischen – zu gleichmäßig für einen Windstoß.

Trotz seines Vorsprungs war ein warnender Laut alles, was Jace ausstoßen konnte, eher der Pfeil bereits an ihm vorbeizischte. Zu plötzlich, um irgendwen angemessen zu warnen. „Deckung!", befahl er, nachdem er wieder Luft bekam und warf sich hinter den breiten Stamm einer Tanne.

„Magnus!", hörte Jace Alec rufen. Er wirbelte herum, eine Seraphklinge in den Fingern, obwohl er wusste, dass diese ihm bei Scharfschützen nicht viel nützen würde.

Magnus stand immer noch auf dem unmarkierten Weg, den sie gerade noch entlanggelaufen waren. Alle anderen hatten hinter Pflanzen Schutz gesucht. Mit einem berechnenden Schweifen seiner Augen bestätigte Jace, dass niemand getroffen auf dem hügeligen Waldboden verblutete. Er entdeckte den schwarzen Haarschopf seines Parabatai einige Tannen zu seiner rechten, aus der Richtung, aus der sie gekommen waren. Dieser zückte gerade seinen Bogen, genauso wie der Nephilim, der sie ersetzte. Doch ehe einer von ihnen auch nur einen eigenen Pfeil anlegen konnte, hatte Magnus ihren Feind bereits mit einem ausladenden Zurückziehen seiner Hand zu Grund befördert.

Sofort sprang Jace hinter seinem Stamm hervor. „Beobachtet die Bäume!", brüllte Alec zeitgleich. Jace brauchte zwei große Schritte, bevor er vor dem großgewachsenen Elbenritter stand, der sich mühsam auf die Beine hieven wollte. Er zögerte nicht, als er seine Klinge durch die Brust des Elben schob. Sekunden später trieften seine Stiefel vor Blut, aber Jace bemerkte nichts davon. Er hob bereits den Kopf, bereit dem nächsten Pfeil auszuweichen, aber Alec hielt ihm wie versprochen den Rücken frei.

Dessen Pfeil zischte kontrolliert an Magnus und Jace vorbei. Ein brauner Blitz in der weißen Vorhölle, zu der sich der Brocelind-Wald verwandelt hatte. Ein unterdrücktes Stöhnen später, stürzte der nächste Ritter aus einer Baumkrone.

„Vorwärts!", befahl Alec nun und die Einheit gehorchte, als bestünde sie aus ein und demselben Körper.

Adam rauschte an Jace' Seite und der Elb hob seine kunstvoll geschwungene Klinge in Verteidigung. Mit schnörkeligen Buchstaben und Mustern verziert war Jace sich ziemlich sicher, dass auch der geringste Kratzer mit diesem Metall jeden verfluchen würden, den es schnitt. Adams Ausweichen nach jeder krächzenden Parade zeugte davon, dass er den gleichen Gedanken haben musste.

Während Adam den noch lebenden Elben beschäftigte, stieß Jace weiter auf ihrem Weg vor. Wie auf ein stummes Signal lösten sich aus mehreren parallel stehenden Tannen eine Welle an Pfeilen. Magnus' magischer Schutzschild war alles, was sie davon abhielt, Jace zu durchlöchern. Dem Tod so knapp entkommen und doch spürte er nicht einmal einen Funken der Furcht.

„Funktioniert schon mal besser als dein Unsichtbarkeitszauber", bemerkte er trocken und schmunzelte kaum merklich, sobald Magnus ihm einen vernichtenden Blick zuwarf. Aber selbst dieses minimale Zucken seiner Mundwinkel bereitete Jace physischen Schmerz. Ein Schmunzeln so aufgesetzt wie es einst seine emotionslosen Masken gewesen waren.

„Früher haben die Nephilim wenigstens noch Dankbarkeit gezeigt, wenn man ihnen das Leben gerettet hat", erwiderte Magnus schnaubend.

„Das bezweifele ich", antwortete Jace und rannte einem Elbenritter entgegen, der freiwillig sein hochliegendes Versteck verließ, um gegen ihn zu kämpfen.

„Selbst die Herondales hatten in den alten Tagen noch Respekt!", rief Magnus ihm belehrend hinterher, weitete jedoch den Schild vor Jace aus wie eine zweite Haut, die ihn vor weiteren Geschossen schützte.

Schade nur, dass der Elb diesen passieren konnte, ohne Schaden zu nehmen. Leichtfüßiger als Jace lieb war, kam er einige Meter vor ihm im schneebedeckten Laub auf und stürzte sich auf ihn, noch ehe er mit beiden Füßen den Grund berührte. Das hocherhobene Schwert klirrte kreischend auf Jace' Seraphklinge. Es folgte ein hektischer Schlagabtausch, unterbrochen nur von anmutigen Drehungen und Ausweichmanövern des Ritters. Er mochte im Dienst der Königin des Lichten Volkes stehen, konnte aber keiner ihre Elitekrieger sein.

Jace hatte sich nie für einen Mörder gehalten. Bisher waren es immer Dämonen gewesen, die seiner Klinge begegnet waren. Und Dämonen zu töten war kein Mord. Ein lebendes, atmendes Wesen mit seinem Schwert zu durchbohren war etwas völlig anderes. Es hätte ihn in Schrecken versetzen sollen; ihm eine Gänsehaut bereiten sollen. Doch Jace fühlte nichts dergleichen. Weder Anteilnahme noch Reue oder Erleichterung.

Die Seraphklinge sendete ein schummriges Licht in den dunkler werdenden Wald aus. Als es die Brust des Elben unter dem Knacken seiner Rippen durchstieß, in einer so ähnlichen Weise wie es ihr widerfahren war, flackerte Jace' Schwert eine Sekunde lang auf. Wahrscheinlich in Reaktion auf das Dämonenblut des Elben, der sofort zu gurgeln begann. Jace musste seine Lunge punktiert haben. Mit einem kräftigen Ruck zog er sein Schwert aus dem sich krümmenden Mann heraus, der unmittelbar in sich zusammensackte und dann vornüberkippte. Das dunkelrote Blut tröpfelte von der scharfen Seite der Klinge und befleckte den Schnee.

Jace' Augen konnten nicht anders als auf dem Rinnsal zu verharren. Plötzlich war der Schnee nicht länger nur ein lästiges Hindernis im Terrain, sondern reichte ihm herauf bis zu den Knöcheln. Der ihn einkreisende Wald verschwand und ein blutbesprenkelter Hügel tauchte vor ihm auf. Innerhalb eines Blinzelns war die Welt vor Jace auf einmal eine andere. Wie aus der Ferne drang ein hohes, herzzerreißendes Wimmern an seine Ohren. Sein Herz verkrampfte sich augenblicklich.

„Jace!", Isabelles warnender Schrei katapultierte ihn zurück in die Gegenwart und er konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken, um der Axt eines weiteren Feenwesens zu entgehen.

„Wo war dein Kopf?!", schrie seine Schwester nun und stieß ihm mit den Handflächen so heftig gegen die Brust, dass er zurücktaumelte und beinahe das Gewicht verlor. „Er hätte dich beinahe geköpft und du hättest es nicht einmal mitbekommen!"

„Ich–" Jace suchte fieberhaft nach einer Erwiderung, aber im Anbetracht ihrer blitzenden Augen, brach er seine Ausredensuche ab. Isabelles wie verrücktgewordenen Gesichtszüge fixierten ihn, als wäre er der Feind. Ein flüchtiger Seitenblick verriet ihm, dass der Rest der Gruppe sich um die übrige Scharfschützenzelle gekümmert hatte.

„Ich, ich, ich." Isabelle spuckte ihm die drei Worte förmlich vor die Füße. Sie war fuchsteufelswild. „Wem nützen deine schuldgetränkten Tagträume, hm? Nicht Clary und erst recht nicht uns! Also hör auf, dich abzulenken und tu das, wofür du hergekommen bist!"

Es war purer Instinkt, die Zähne zu fletschen, als sie ihren Namen in den Mund nahm. Jace' Finger ballten sich zu Eisenfäusten, aber er bekam nicht einmal die Lippen auseinander, als Isabelle schon mit ihrer Ehre-raubenden Tirade fortgefahren war.

„Schau mich gefälligst nicht so an, als hättest nur du das Recht, um sie zu trauern!", brüllte Isabelle nun noch lauter. Sie schien jeden Millimeter ihres Lungenvolumens in ihren Zorn zu stecken, so sehr schreckte er zusammen. Jeder im Umkreis von Meilen musste sie hören. Dass dies die Mission vollends sabotierte, interessierte seine Schwester jedoch kein bisschen. „Ich war ihre Parabatai, ihre beste Freundin! Ich habe Clary genauso verloren wie du. Nur weil deine Liebe für sie anders war als meine, bringt dich das nicht näher an sie heran! Du hast keinen höheren Besitzanspruch auf sie! Du–"

Von jetzt auf gleich zügelte Isabelle die Wut, welche wie Magma eines Vulkans aus ihr herausgeschossen war. Etwas blinzelte in ihren Pupillen auf und Jace dachte bereits, dass sie das Ausmaß ihrer Selbstsabotage realisierte. Zu seiner Überraschung fuhr ihr Kinn zu Magnus herum, der ihr mit gespanntem Mund zunickte. Erst jetzt bemerkte Jace die blauen Funken, welche aus den Händen des Hexenmeisters rieselten wie kleine Sterne. Verblüfft weitete er die Augen.

Isabelle entging Jace' Reaktion nicht. Verurteilend verzog sie das Gesicht, ein Ausdruck purer Missbilligung. „Dachtest du etwa, dass ich so blöd wäre, unsere Mission zu gefährden, nur um dich zurechtzuweisen?" Sie schüttelte ihre Haare aus, als würde sie den Gedanken loswerden wollen. „Magnus' Schutzwall beinhaltet eine akustische Barriere. Aber das weißt du natürlich nicht, weil du nicht zugehört hast. Weil du schon die ganze Zeit in deiner eigenen Blase hängst."

Jace wandte sich nicht an seinen Parabatai, weil er bereits wusste, dass er dort nichts als Bestätigung für Isabelles Aussagen finden würde. Schließlich hatte sie recht. Er hatte nicht zugehört. Er hatte nichts getan, als seinen Instinkten zu vertrauen und zu hoffen, dass diese ihn durch diesen Kampf tragen würden. Weil er keine wache Sekunde auf dieser Welt ertrug. Weil jeder Atemzug schmerzte, als würde ihn jemand mit einem Messer aufspießen. Immer und immer wieder.

„Du hast mich aus meinem Bett gezwungen, weil ich es ihr schulde. Also sorg gefällig dafür, dass du nicht abkratzt, ehe du deine Schuld beglichen hast", presste Isabelle zwischen zusammengepresstem Kiefer hervor und zeigte mit dem Zeigefinger direkt auf seine Brust. Diese hob und senkte sich in einem viel zu schnellen Takt. Ohnehin hatte Jace nicht das Gefühl, dass diese Bäume viel Sauerstoff produzierten.

„Das reicht, Izzy", ging Alec schließlich dazwischen und stellte sich als physische Barriere zwischen seine streitenden Geschwister. Er musste Jace' Konflikt spüren, andernfalls hätte er Isabelle ihre Tirade sicher beenden lassen. Für gewöhnlich befürwortete er angebrachte Kritik. Nun hob er in beschwichtigender Geste die Hände. Seine blutfreie Rüstung reflektierte das schwache Licht, welches die Sonne durch die Blätterdächer hindurchzwingen konnte. „Wir alle wollen Clarys Plan zu Ende bringen. Lasst uns also auch gemeinsam dafür sorgen, Clarys letzten Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen."

Jace spürte sich selbst nicken. Dabei schmeckte jede Erwähnung ihres Namens wie Gift auf seiner Zunge. Der Schweiß rannte ihm über die Stirn, verklebte wirre Haarsträhnen, obwohl er noch kaum Anstrengungen aufgebracht hatte.

Ohne weitere Verzögerungen verteilte Alec eine Folge an Befehlen. Isabelle zog sich widerwillig aus Jace' Privatbereich zurück und stapfte davon. Natürlich nicht ohne ihm einen letzten vielsagenden Schulterblick entgegenzuschleudern. Ihm entging nicht, wie sie dabei abwesend mit den Fingerspitzen über die Stelle fuhr, wo ihre Parabatairune heute Morgen noch gewesen war. Die Geste verschärfte den Riss in seinem Herzen.

Wieder zurück in Formation, setzten sie ihren Marsch fort – diesmal jedoch achtsamer für weitere Scharfschützen. Viel zu schnell stießen sie auf das nächste Hindernis. Adam, der mit Alec vorausging, entdeckte es als erster: Eine kleine Truppe aus Elbenrittern bestehend aus zwei Frauen und zwei Männern, die in einer engen Lichtung ihr Quartier aufgeschlagen hatten. Zwei von ihnen hielten Wache und hatten ihren Gefährten die Rücken zugewandt. Die anderen beiden hockten auf nebeneinanderstehenden Baumstümpfen und schliffen ihre Waffen.

Adam verharrte in seinem Gang, hockte sich ins Gras und presste sich lautlos einen Finger vor die Lippen. Feenwesen verfügten über deutlich entwickeltere Sinne als Menschen, sodass auch nur das kleinste Geräusch, sie alarmieren konnte. Da die Lichtung sich am Fuß einer Anhöhe befand, war sie strategisch unvorteilhaft. Eine dumme Entscheidung der Elben, sich hier niederzulassen, wo man sie mühelos überblicken konnte.

Vielleicht war das ganze aber auch nur ein Trick. Es trennte sie keine große Entfernung. Vielleicht wollten die Elben, dass sie die geringe Entfernung als simple Überlegenheit sahen. Gut möglich, dass sie das kurze Stück hinab zu ihnen mit einer Vielzahl an Feenfallen präpariert hatten. Alec musste den gleichen Gedanken gehabt haben, denn er erteilte keinen Angriffsbefehl. Neben Adam ins Dickicht gehockt, spannte er stattdessen seinen Bogen; einer der Ritter in seinem Visier.

Der Pfeil erreichte nie sein Ziel, da nur einen Augenblick zuvor ein fünfter Elb wie aus dem Nichts auf die Lichtung trat. Kleiner und flinker als die bereits versammelten Krieger hechelte er nach Luft, als hätte er gerade eine lange Distanz zurückgelegt. Hastig drehte er den Kopf über die Lichtung – der Handlung fehlte jede Eleganz, die man den Feenwesen für Gewöhnlich nachsagte. Stattdessen wirkte er abgehetzt, wie jeder andere Mensch es nach einem langen Sprint auch gewesen wäre.

Die übrigen Elben zückten vor Überraschung ihre Waffen, nur um sich beim Anblick ihres Kollegen zu entspannen. „Hast du Kunde vom Kommandanten?", fragte einer der sitzenden Männer ohne zu zögern.

„Deine Einheit verweilt hier zur Überwachung des Bodens, doch Eiran wird zurück zum Stützpunkt befohlen."

Alec und Adam wechselten bei der altertümlichen Sprache der Elben einen Blick. Einige Angewohnheiten, die man angesichts der Unsterblichkeit nicht ablegte. Magnus hingegen verdrehte die Augen, als ermüdete ihn allein diese Interaktion mit den Feenwesen zur Genüge.

„Warum? Ich habe hier bereits zu wenig Mannen. Auf keinen weiteren kann ich verzichten", erwiderte der Elb, der allem Anschein nach der Anführer dieser Truppe war.

„Der Sonnenuntergang ist nicht mehr fern", antwortete der Kurier knapp und schien nicht glücklich darüber, sich erklären zu müssen. Seine hervorgeschobenen Fangzähne machten keinen Hehl daraus. „Lord Valentin begibt sich zur Südseite des Sees, um das Ritual zu vollziehen. Da im Osten die Spur von Fremden aufkam, begehrt der Kommandant eine Verstärkung seiner Garde. Es darf keine Störung geschehen."

Aus ihrem Versteck wechselten die Nephilim erfreute Blicke. Maias und Lyalls Ablenkungsmanöver war geglückt.

„So sei es. Nimm Eiran und entschwinde."

Alecs Finger um den Bogen spannten sich an. Das Wissen über Valentins baldigen Aufenthaltsort konnte den Ausgang dieses Krieges entscheiden. Sie durften nicht zulassen, dass auch nur ein Elb dieser Einheit lebendig zum Stützpunkt zurückkehrte. Und so zögerte Jace' Parabatai nicht, als er den geduldigen Pfeil endlich sein erstes Ziel treffen ließ. Der Rest ihrer Gruppe stürmte aus den Gräsern hervor, noch bevor der Körper des Anführers auf dem Grund auftraf.

Keiner der Nephilim wagte es, den Abhang hinunterzurutschen – aus Angst vor möglichen Fallen, die im dichten Gras lauern konnten. Zu ihrem Glück zögerte keiner der Elben, ihrerseits den Abhang hochzulaufen – sie wussten genau, wo sie die Füße nicht hinsetzen sollten. Sobald ihr Anführer fiel, wirbelte der Rest der Truppe herum und griff mit einem Zornesgebrüll an, ohne strategisch an die Sache heranzugehen.

Die Gruppe rund um Jace war den Elben sieben zu vier überlegen, sodass dieser Kampf schnell und verlustlos gewonnen war. Im Nachhinein wirkte allein Magnus etwas bekümmert. „Trotz meiner persönlichen Differenzen mit der Feenkönigin bedauere ich diese Entwicklung", seufzte er, als er den anderen dabei zusah, wie sie die Leichname im Unterholz versteckten. „Krieg, egal wie nobel die Absicht, führt letztendlich immer nur zur Spaltung der Welt."

Die einzige Person, der seine Worte sichtlich nahe gingen, war Isabelle. Jace wusste nicht viel über ihre Beziehung zu Meliorn – nicht einmal, ob es sich um mehr als Freundschaft gehandelt hatte – aber der Gedanke, dass sie auf verschiedenen Frontlinien standen, missfiel ihr offensichtlich. Sobald sie seinen wissenden Blick bemerkte, schirmte sie ihre Züge mit einem Funkeln ab.

„Was nun?", platzte es schließlich aus Adam heraus. Gegen eine Tanne gelehnt wischte er sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn – nur um eine feine Blutspur dort zu hinterlassen. Jace und auch sonst niemand machte ihn darauf aufmerksam.

„Ist das nicht offensichtlich?" Jace trat neben seinen Parabatai, der eine Karte des Brocelind-Waldes auf dem unebenen Boden studierte. „Valentin bereitet sich im Süden des Lake Lyn auf die Beschwörung von Raziel vor. Allem Anschein nach wird er die Dämonen erst nach Alicante schicken, nachdem er Raziels Wunsch sicher hat."

„Denkt ihr, er weiß von ... Clary und Jonathan?", presste Isabelle mit schwankender Stimme hervor. Sie hockte sich gegenüber von Alec in das zertrampelte Gemisch aus Erde und Schnee.

Alec schüttelte nachdenklich den Kopf. „Valentin ist zwar ein außerordentlicher Stratege, aber Jonathan stellt einen entscheidenden Punkt seines Plans dar. Wenn er von seinem Tod wüsste, hätte er schon längst gehandelt. Er weiß nicht, dass die Dämonentürme noch aktiv sind."

„Zumindest noch nicht", fügte Magnus hinzu und kratzte sich am Kinn, als würde das sein Denken beschleunigen. „Ihr Tod ist bereits knapp fünf Stunden her und Imogen versucht alles, um die Verbreitung der Nachricht zu verhindern. Früher oder später wird es seinen Anhängern gelingen, Valentin zu informieren."

„Dann gehen wir über in Phase drei?", fragte einer der beiden Nephilim, deren Namen Jace vergessen hatte. „Wir müssen diesen Vorteil nutzen, solange wir ihn noch haben."

Alec antwortete nicht sofort. Geistesabwesend glitten seine Finger über die zerknitterte Landkarte, zeichneten ihre Distanz bis zur Südseite des Sees ab. Dann rollte er sie zusammen und kam mit einem langsamen Nicken auf die Beine. Als seine Augen denen von Jace begegneten, lag eine tiefe Ernsthaftigkeit in seinen himmelblauen Iriden. Als hätte er in den vergangenen Stunden kurzerhand an Reife gewonnen.

Die Parabatai wechselten einen langanhaltenden, stummen Blick; ließen niemanden an ihrer Kommunikation teilhaben. Das hier wog schwerer als viele Entscheidungen und obwohl Jace mit seinem Bruder fühlte, beneidete er ihn keineswegs um seinen Posten. Dabei wusste bereits jeder, was als nächstes kommen musste. Was Clary als nächstes vorgesehen hatte.

„Phase drei", bestätigte Alec simpel.

oOo

Obwohl es ein Umweg war, bestand Alec darauf, einen großen Bogen um den nun verlassenen Außenposten der Feenwesen zu machen. Niemand äußerte Worte des Protests, da keinem in der Einheit danach war, herauszufinden, ob die Lichtung tatsächlich mit Elbenfallen gepflastert war. Nicht einmal Jace, was Isabelle in all seiner Irrationalität der letzten Stunden ein wenig überraschte – und erleichterte. Wenn er starb, bevor dieser Tag zu Ende war, nützte das niemandem. Seinen Schuldgefühlen erst recht nicht.

Je weiter sie in den Wald vordrangen, desto dichter standen die Tannen um sie herum; desto weniger Sonnenlicht wurde durch die dichten Kronen hindurchgelassen. Da fast alle Oberflächen mit Schnee bedeckt waren und jenes spärliche Scheinen reflektierten, war es minimal heller als unter normalen Umständen gewesen wäre. Der Brocelind-Wald war bekannt dafür, dass man leicht verloren gehen und tagelang orientierungslos umherwandern konnte – falls man denn überhaupt herausfand. Hier – abseits von Zivilisation und der Menschheit – umhüllten die Nuancen von Feuchtigkeit und Vegetation alles um Isabelle. Der Duft nach Wasser lastete auf allem. Von Frost umhüllter Fels, tauendes Moos, feuchte Nadeln. Mit jedem Schritt schien das Aroma der Wildness stärker an ihr zu haften. Selbst der Biss des an ihren Waffen klebenden Bluts konnte kam dagegen nicht an.

Alec hatte die Landkarte genau studiert und beschritt nun an vorderster Position den neuen Weg in Richtung Lake Lyn. Jedes Mal, wenn Isabelle ihn ohne sein Bemerken beobachtete, spürte sie einen Wall an Stolz in sich aufsteigen. Die letzten Monate hatten sie alle verändert, aber Alec war zu einem verantwortungsbewussten, weisen, jungen Mann herangewachsen. Sein Bedürfnis, seine Stimme für das moralisch Richtige einzusetzen, berührte sie vor dem Hintergrund der Geschichte ihrer Eltern umso mehr.

Wie zu Beginn ihrer Ankunft im Brocelind-Wald war die Einheit zurück in ihre Linienformation zurückgekehrt, mit Alec an erster und Jace an letzter Stelle. Kopf an Kopf wanderten sie durch das immer dichter und hügeliger werdende Unterholz und Isabelle seufzte innerlich bei dem Gedanken, dass sie nicht schneller laufen konnten. Nach der Begegnung mit den Scharfschützen war es zu gefährlich – nicht dass diese Tatsache etwas an Isabelles Gemütszustand veränderte.

Und so fokussierte sie sich für die nächsten Minuten einzig darauf, die Vorteile dieses zügigen Schritttempos aufzuzählen. Eine Ablenkung, die Isabelle nicht das erste Mal einsetzte, um die Fassung zu bewahren. Es war einfacher, sich auf die Dinge zu konzentrieren, die sie kontrollieren konnte. Besser, als an das zu denken, was außerhalb ihrer Macht lag.

So wie Clarys Tod. Doch einmal abgelenkt, fand sie nur schwer einen Weg aus dem Wirrwarr ihrer Gedanken zurück. Isabelles Herz rutschte ihr in den Magen, nur um dort in einem schwarzen Loch zu implodieren. Diesen Strudel zu kontrollieren, grenzte an Unmöglichkeit. In den Basilias war es das machtvolle Bild ihrer Rache gewesen. Wie sie alle vor Valentin Morgenstern standen und ihn für jede seiner Taten hinrichteten. Denn dieser Mann hatte so viel mehr getan, als ihr Clary zu stehlen. Dieser Mann hatte ihre Familie bereits einmal an den Rand der Existenz gebracht.

Nie wieder, flüsterte Isabelle in ihrem Kopf und klammerte sich an ihren eisernen Willen, dieses Flüstern schon bald in einen Ruf zu verwandeln.

Dort, wo keine Patrouillen auf sie lauerten, war der Wald in Richtung See mit Fallen gepflastert. Die meisten von ihnen magischer Natur, sodass Alec Magnus schließlich nach reichlich Diskussion mit und unzufriedener Mimik die Führung übergab. Es war eine gute Idee von Clary gewesen, jedem Team einen Hexenmeister zu überlassen.

Trotz allem wurde Isabelle das quälende Bauchgefühl nicht los, dass ihr bisheriger Einsatz viel zu glatt verlief. Trotz ihrer bisher guten Quote, glaubte ihr Unterbewusstsein nicht daran, dass die Einheit vollständig ans Ufer gelangen würde. Dafür war Clary zu fest davon überzeugt gewesen, dass diese Mission ein Himmelfahrtskommando war.

Möglicherweise hatte sich ihre Aussage jedoch nicht auf diesen Teil des Plans bezogen, sondern auf das, was noch vor ihnen lag. Die Entschärfung der Elbenfallen kostete sie Zeit, die sie nicht hatten. Aber nicht alle von ihnen waren ausnahmslos tödlich. Pflanzenranken, die sich um die Glieder schlangen und einen dabei nach und nach vergifteten. Dornenversetzte Netze, die einen bei Betreten in die Höhe katapultieren und dort gefangen hielten. Von Laub verdeckte Trittfallen, deren Auslöser eine unwiderstehliche Melodie spielte, sodass man sein eigentliches Ziel vergaß. Es hatte eher den Anschein, dass man ihr Voranrücken verzögern als verhindern wollte, was Isabelles Misstrauen nur weiter anhob.

Gerade als durch die fernen Reihen an Bäumen plötzlich ein türkisblaues Glitzern zu ihnen herüberschimmerte wie ein im Sonnenlicht funkelnder Saphir, geschah es. Das überraschte nach Luft schnappen, weil sie ihr Ziel plötzlich vor Augen hatten, machte sie für einen kurzen Moment unaufmerksam. Magnus, dessen Konzentration ausschließlich auf Grund und Umgebung gerichtet war, missinterpretierte den rasanten Gemütswechsel der Gruppe als ein Signal von Gefahr. Sein Kopf schnellte in die Höhe, zu eilig, als dass sein Fuß in der Bewegung innehalten konnte.

Äste knackten, als Magnus' Stiefel den Grund traf. Aus einem unaussprechlichen Grund wusste jeder was geschehen würden, noch ehe die Falle ausgelöst wurde. Alec hechtete nach vorn, einen Warnruf auf der Zunge – sein Ton so angsterfüllt, dass in Isabelle eine eigene Furcht hochkochte.

Holz ächzte, aber das Geräusch kam aus der falschen Richtung. Es ging nicht von Magnus aus. Stattdessen echote es von rechts. Ein zu tiefer Ton, um von ein paar knackenden Ästen herrühren zu können. Es ging viel zu schnell. Die Bäume standen zu dicht, um etwas in der Ferne auszumachen. Alec stürzte sich förmlich auf Magnus, warf ihn mit seinem Gewicht um, als ein dunkles Zischen die Luft erfüllte. Isabelle hatte gerade noch Zeit, um sich auf den Boden fallen zu lassen, als bereits ein erstauntes Keuchen durch die Wälder rang.

Weiter flach auf dem Boden liegend, hob Isabelle das Kinn unter ihren Armen hervor. Der Wald hatte sich nicht verändert. Dieselbe Stille wie zuvor, dieselbe Leere wie zuvor. Zumindest einen Moment lang. Bis ihre Augen in die Kurzsicht wechselten und Cai Rosewain, der Schattenjäger vor ihr in der Reihe, in ihren Fokus geriet. Anders als Isabelle hatte Cai sich nicht rechtzeitig in Deckung begeben. Ihr Atem geriet ins Stocken als ihre Blicke sich trafen; die Überraschung in seinen Augen viel prominenter als der Schmerz, der eigentlich hätte da sein müssen.

Ein Pfahl, mindesten einen Arm breit und lang wie jeder gewöhnliche Pfeil, durchbohrte ihn auf Höhe seines Magens. Mehrere Sekunden taumelte er, wie an Ort und Stelle festgewachsen, als wüsste sein auf Hochtouren arbeitendes Gehirn nicht, was es tun sollte. Noch bevor seine Beine unter ihm nachgaben und er vorwärts in den Schnee stürzte, würgte er einen Blutschwall hervor.

Sie rappelte sich auf, um ihn aufzufangen, aber ihre Glieder waren im dünnen Eis unter ihr wie festgefroren. Diesmal gewann der metallische Geruch nach Blut die Oberhand, obwohl Isabelles Nase praktisch in gefrorener Erde steckte. Suchend drehte sie sich um, hektisch auf der Suche nach Gegnern und forschend ob noch andere Cais Schicksal teilten. Sie hatten Glück im Unglück. Alle anderen befanden sich entweder außerhalb der Schussbahn oder hatten sich ihr rechtzeitig entziehen können.

Als es ihr endlich gelang, sich aufzurappeln und zu ihm herüberzukriechen, flatterten seine Augenlider bereits wie die Flügel eines Schmetterlings. Die Kälte des klebenden Lehms an den Innenseiten ihrer Hände ignorierend, zückte Isabelle ihre Stele, riss den Kragen seines Shirts grob zur Seite und zeichnete eine Iratze. Die Rune verblasste innerhalb weniger Sekunden. Sie konnte den frustrierten Schrei, der sich in ihrer Kehle anbahnte, kaum unterdrücken.

Der Schnee knirschte zu ihrer Rechten, als auch die anderen sich der Szenerie näherten. Jace hockte sich neben sie und unterzog den Pfahl einer genaueren Betrachtung. Isabelle schaute nur aus dem Augenwinkel zu ihm herüber. Dennoch entging ihr seine nüchterne Miene nicht – als würde nichts von alldem ihm nahe gehen. Ganz im Gegenteil zu ihr, sodass sie sich automatisch wunderte, wie es so weit gekommen war. Hatte Clarys Tod ihm jede Emotionalität entzogen? Jedes Mitgefühl? Was von dem großen Bruder, der Jace ihr seit ihrer Geburt gewesen war, steckte überhaupt noch in ihm? Was hatte Clary mit sich genommen, als sie diese Welt verlassen hatte?

Isabelle konnte nicht verneinen, dass die Antworten auf diese Fragen ihr eine Angst einjagten, wie wenige Dinge es heutzutage noch konnten.

„Iratzen sind wirkungslos", stellte Jace fest und deutete mit dem Zeigefinger auf die Austrittsstelle des Pfahls aus Cais Körper; bedacht darauf, die Stelle nicht zu berühren.

Mit den Augen folgte Isabelle seinem Finger und konnte ein niedergeschlagenes Seufzen nicht zurückhalten. Jace hatte recht. Nur bei genauem Hinsehen erkennbar, bildete ein grünlicher Film eine Beschichtung um das Holz. Sie reichte nur einige Zentimeter über die Austrittsstelle in Cais Körper. Wahrscheinlich hatten die Elben nur die Spitze des Pfahls in Gift getunkt.

Isabelle griff nach Cais Fingern, drückte sie so fest sie konnte, ohne der Geste dabei die tröstende Wirkung zu rauben. Sein Atem ging bereits stoßweise. Sie konnten nichts mehr für ihn tun. Hier draußen und mit dem Zeitdruck des Sonnenuntergangs im Rücken, würde auch Magnus ihn nicht heilen können. „Clary hat eine Sache in ihrem Plan vergessen zu berücksichtigen", murmelte sie und hörte förmlich, wie Jace' Halswirbel knackten, als sein Kopf zu ihr herumwirbelte. „Sie hätte uns die Rune zur Erschaffung eines Portals beibringen sollen. Dann hätten wir ihn nach Alicante zurückschicken können."

Darauf fehlte selbst Jace eine Erwiderung. Niemand aus der Einheit brach das Schweigen, welches auf Isabelles Worte folgte. All ihre Augen waren auf Cai gerichtet, dessen Lebensenergie wie ein langsam versiegender Strom aus ihm schwand. Nicht schnell genug. Welches Gift die Elben ausgesucht haben mochten, es vergönnte einem keinen schnellen, gnädigen Tod.

Neben ihr rührte Jace sich, wie wenn er aus einer Muskelstarre erwachte. Seine goldenen Iriden trafen Isabelles, immer noch so frei von Emotion, aber im Inbegriff eines Tatendrangs, der ihr jegliche Haare zu Berge stehen ließ. „Leiste ihm letzten Beistand", war alles, was er über sein Vorhaben verriet.

Als Jace einen Dolch zückte, tat Isabelle genau das, wozu er sie aufgefordert hatte. Ihre freie Hand, die nicht mit Cais schwitzigen Fingern verschränkt war, glitt seelenruhig hoch zu seinem Gesicht. Vorsichtig strich sie ihm einige verklebte, rehbraune Strähnen aus der Stirn und drehte sein Kinn schließlich zu ihr – seine Augen fort von Jace.

„Du bist nicht allein", murmelte Isabelle und achtete auf die Reaktion seiner geröteten Augen, die bezeugten, dass er sie hörte.

„Laudine", brachte Cai röchelnd hervor. Mehr Blut floss aus seinen Mundwinkeln heraus. „Sag meiner Laudine–" Ein Husten schüttelte seinen Oberkörper und mit ihm den Pfahl. Abgehackt schnappte er nach Luft, ohne jedoch seine Augen von Isabelle zu lösen. „Sag ihr, dass ich sie liebe. Sie und meine Kinder."

Es bedurfte eiserne Stärke, um nicht vor Cai in Tränen auszubrechen. Das hätte er nicht verdient. Er musste wissen, dass Isabelle seinen letzten Wunsch ausführen würde. „Ich verspreche es", antwortete sie mit der Sanftheit von Engelsfedern.

Ihre Blicke waren immer noch ineinander verschmolzen, als Jace ihm den Dolch in die Halsschlagader stach. Cai zuckte ein letztes Mal und erschlaffte dann. Seine Pupillen, eben noch voller Bedauern und Liebe, nahmen einen glasigen Ausdruck an und Isabelle konnte nur machtlos dabei zusehen, wie das Leben unwiederbringlich aus ihnen verschwand. Bis nichts mehr übrigblieb als ein seelenloser Körper. Hastig und mit pochendem Herzen schloss sie seine Augenlider.

„Ave atque vale, Cai Rosewain."

Jace zuckte vor den Worten zurück und auch Isabelle spürte beim Aussprechen einen blitzenden Schmerz durch ihre Glieder fahren. Ave atque vale waren die letzten Worte, die ein Nephilim in dieser Welt empfing – sie waren Tradition. Eine, die sie bei Clary völlig vergessen hatten. Der zerrissenen Panik auf Jace' Gesicht nach zu urteilen, schien ihm dies plötzlich auch bewusst zu werden. Sie hatten ja nicht einmal ihren Leichnam besucht, der von den Stillen Brüdern für die letzte Reise hergerichtet wurde. Falls es überhaupt einen gab, Isabelle hatte absichtlich nicht nachgefragt.

Wer würde diese drei Worte in ihrem Namen sprechen, falls sie alle heute ebenfalls starben?

„Wir müssen weiter", presste Jace zähneknirschend hervor und drehte Cai Rosewain abrupt den Rücken zu. Obwohl er sich von ihr entfernte, konnte Isabelle das Beben seiner Finger deutlich ausmachen.

Mit dem Funkeln des Sees als Ansporn bahnte sich die Einheit mit Magnus in erster Reihe dank seiner akribischen Genauigkeit einen sicheren Weg durch den Rest des Geländes. Keine weitere Falle überrumpelte sie, obwohl Isabelle damit gerechnet hatte, dass die Aussicht auf Lake Lyn sie ablenken und leichtsinnig machen würde. Während die über ihnen aufragenden Bäume das Tageslicht wie Schutzschilde fernhielten, verriet das Glitzern des Sees den wahren Stand der Sonne. Er funkelte im Licht der tiefliegenden Sonne, reflektierte ihr Licht in einigen Nuancen heller als der Rubin um ihren Hals. Jeder Schritt, der sie dem Ufer näherbrachte, verlängerte die Distanz zwischen ihren Wortwechseln. Bald schon gingen sie zurück zur Zeichensprache über, die Aaron zu Beginn ihres Einsatzes verwendet hatte.

Und dann – Schweiß, Blut und Tod später – sahen sie sich endlich dem Ufer von Lake Lyn gegenüber. Einige wenige Baumreihen als Sichtschutz trennten sie vom grobkörnigen Kies, der einige Meter vor dem Wasser zu Sand verschmolz. In einer Senke zwischen zwei Felsformationen schlugen sie ein vorübergehendes Lager auf, um ihr weiteres Vorgehen durchzugehen. Alec und Jace befanden sich in einer der Tannen, um von dort das Ufer und Valentins Position auszukundschaften. Der Rest der Einheit – Magnus, Adam, Isabelle und Paal, der Clarys Platz eingenommen hatte – hatten währenddessen die Köpfe zusammengesteckt und bereiteten Phase 3 vor.

Es dauerte nicht lange, bis das Parabataipaar zurückkehrte, ihre Gesichter in einer synchronen Grimmigkeit vereint. „Wir befinden uns in der Mitte ihrer Streitkräfte", begann Alec ohne Umschweife zu erläutern. „Der Elb von der Lichtung hat gesagt, dass Valentin sich auf der Südseite auf das Ritual vorbereitet. Wir konnten ein goldenes Zelt nicht weit vom Strand entdecken, das groß genug ist, um als sein Hauptquartier zu dienen. Dort herrscht nicht viel Betrieb. Hin und wieder geht jemand hinein oder hinaus."

„Gold. Die Farbe von Macht, Ewigkeit und Triumph. Das muss er von den Menschen übernommen haben." Magnus' Mundwinkel zuckte in Amüsement. „Man sollte meinen, dass Valentin andere Prioritäten hat, als sich so in Szene zu setzen. Aber alles, was über ihn bekannt ist, bestätigt, dass er einen Hang zur Selbstinszenierung hat."

„Was ist mit der Nordseite?", fragte Adam. „Wenn wir in der Mitte seiner Armee sind, befindet sich der Rest im Norden?"

Jace, der neben dem sitzenden Adam in die Höhe ragte wie ein Baum neben einem Grashalm, bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick. Er schien es nicht einmal in Erwägung zu ziehen, ihm eine Antwort zu geben. Als Alec die Sprechpause beendete, wandte Jace sich von ihnen ab und ließ sich mit etwas Abstand auf einem aus der Senke herausragenden Steinbrocken nieder.

„Der Großteil der Streitkräfte ist am Nordufer stationiert. Es macht Sinn, weil dort der Strand deutlich größer ist. Allein von der Kämpferzahl ist der Norden uns deutlicher überlegen als der Süden. Aber wer weiß, wie viele von seinen Truppen sich in den Wäldern versteckt halten. Valentin auszuschalten hat Vorrang. Mit seiner Armee beschäftigen wir uns noch früh genug."

„Das goldene Zelt steht strategisch sehr gut", fügte Jace hinzu, ohne aufzusehen. Isabelle beobachtete ihn dabei, wie er den noch blutigen Dolch hervorholte, mit dem er eben Cais Leben beendet hatte. Ein Akt der Gnade oder Rücksichtslosigkeit? Die Tatsache, dass sie sich unsicher war, ließ sie frösteln. Jace schmierte das Blut an seiner Montur ab – dort wo die Rüstung das darunterliegende Leder freigab. „Selbst wenn wir uns ihm unbemerkt durch den Wald nähern können, besteht die Chance, dass in dem Waldstück hinter dem Zelt eine weitere Armee auf uns wartet. Es ist riskant."

„Es spielt keine Rolle", bemerkte Isabelle. „Phase Drei erfordert, dass wir uns aufteilen. Valentin wird sicher noch ein Ass in der Hinterhand haben. Vor allem, wenn seine Position auf den ersten Blick einen einsamen Eindruck macht. Mein Team wird sich den Weg so oder so durchschlagen müssen. Wir können nur hoffen, dass wir das Überraschungsmoment auf unserer Seite haben, weil er uns nicht kommen sieht."

Hoffentlich war die von Maia und Lyall inszenierte Ablenkung gelungen. Es würde Valentins Fokus auf die falsche Ostseite lenken. Er würde einen Überfall eher von dort erwarten. Falls alles nach Plan verlief.

Jace erhob sich von dem Felsen, als hätte er sich nicht erst vor weniger als einer Minute dort niedergelassen. „Es ist sowieso an der Zeit, Phase Drei abzuschließen." Die Unruhe in seinen Gliedern war überdeutlich, der Blick in seinen Augen hingegen vollkommen leer. Als läge nichts hinter diesen goldenen Iriden. Isabelle dachte an die liebevollen Blicke zurück, mit denen er Clary bedacht hatte, als wäre sie der Mittelpunkt seiner gesamten Existenz. Die Lächeln, welche jeden Zweifel ausgemerzt hatten, dass er nicht Hals über Kopf von ihr hingerissen war. Wie oft Isabelle ihn in einer getarnt beiläufigen Bewegung erwischt hatte, immer auf der Suche nach Körperkontakt, mochte dieser auch nur so flüchtig sein. Jace' Liebe für Clary war innbrünstig wie himmlisches Feuer, heiß wie ein Vulkan, allumfassend wie die Sonne. Und nun, wo sie fort war, war kein Sauerstoff mehr übrig, der seine Flamme hätte am Leben erhalten können.

Fragend, wie viel des Schmerzes er wohl mitbekam, schielte Isabelle zu Alec herüber. Wie viel davon wohl über ihren Parabataibund übertragen wurde? Bisher war ihr nichts Ungewöhnliches aufgefallen, aber mit ihrem Bruder wusste man nie so recht. Er war gut darin, sich nichts anmerken zu lassen. Seine Chance, etwas auszurichten ging ohnehin gegen Null. Nicht einmal Alec konnte Jace in diesen Stunden Trost spenden. Niemand konnte das. Jace würde ihn nicht an sich heranlassen, vielleicht zusammenbrechen oder schlimmeres.

Alec, der immer noch das Kommando besaß, nickte, bevor er sich an Isabelle wandte. „Magnus, Jace und ich beeilen uns." Seine Füße trugen ihn zu ihr herüber. Seine rechte Hand fand ihren Weg auf ihre Schulter. „Pass auf dich auf."

Obwohl Isabelle am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre, hob sie ihre rotbemalten Lippen zu einem strahlenden Lächeln. Alec ließ sich in ihre Umarmung fallen, sobald sie die Arme hob. „Und ihr auf euch", flüsterte Isabelle zuversichtlicher als sie sich fühlte. „Ich hoffe, ihr seid erfolgreich."

„Das müssen wir sein. Schließlich zählt die ganze Schattenwelt auf uns."


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Eure Meinung zu diesem Kapitel ist mir besonders wichtig. Da dieser Krieg eine große Sache ist und ich es mit einem Strategen wie Valentin zu tun habe, versuche ich die Handlung natürlich so spannend, vor allem aber so strategisch wie möglich zu schreiben. Deshalb meine Frage an euch: Habt ihr Vorahnungen, wie es ab hier weitergeht? Habt ihr Erwartungen, wo Alecs Gruppe zum Ende hingeht und was Isabelles Gruppe beim goldenen Zelt erwartet? Das würde mir helfen, einen Einblick zu gewinnen, ob ich gut darin bin, "Geheimnisse" während des Lesens aufzubauen oder ob ich eher offensichtlich schreibe. Und ob ich die nächsten Kapitel vielleicht nochmal überarbeiten muss. Ich bin ein Fan großer Plottwists und natürlich würde ich es da sehr begrüßen, wenn mir das selbst gelingt.

Frohe Weihnachten! Wenn ihr mir ein Geschenk machen wollt, dann hinterlasst gern ein Linke und Kommentar! ;)

Skyllen

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