Kapitel 92 - A Martyr's Sacrifice
Kapitel 92 – A Martyr's Sacrifice
--- 5 Stunden vor Sonnenuntergang. ---
Die Welt um Jace war eine einzige Trance. Er wusste nicht, wo oben und unten war, ob Illusion oder Realität. Er wusste nur, dass er durch die Basilias schwankte und Alec zu seiner Rechten die Arme nach ihm ausstreckte, um ihn vor einem Fall zu bewahren. Alec hatte ihm vorhin auch helfen müssen, seine Stiefel anzuziehen, zu sehr hatten seine Finger gezittert. Sein Körper stand immer noch unter Strom, aber der Zorn hatte einen winzigen Teil des Schmerzes in den Hintergrund geschoben.
Einige Meter hinter ihm hörte er seine Großmutter seinen Namen rufen – in flehendem Ton wollte sie ihn zum Umdenken bewegen. Jace ignorierte sie, folgte weiter Magnus, der ihnen vorausging. Der Hexenmeister ging so langsam, dass Jace sich unter normalen Umständen wie eine Bürde gefühlt hätte. Wahrscheinlich war er genau das: Eine Bürde, die sie alle umbringen würde. Doch er konnte nicht hier sitzen, während sie diesen Plan durchführten. Ihren Plan. Und Clary hätte nicht gewollt, dass ihr Tod genau das verhinderte, worauf sie so lange hingearbeitet hatte. Er musste ihren Plan zu Ende bringen, eher würde er keine Schuld mehr verspüren.
Und so stapfte Jace durch die Basilias und wäre beinahe in Magnus hineingelaufen, als dieser plötzlich stehen blieb. Der Hexenmeister deutete auf eine schlichte, hölzerne Tür und warf Alec einen langen Blick zu.
„Bist du dir sicher?", war alles, was sein Parabatai ihn fragte. In der darauffolgenden Stille war ein Schluchzen zu vernehmen. Die massive Tür dämpfte die Geräusche, aber Jace' Runen verstärkten sein Gehör genug, um es deutlicher wahrzunehmen.
Jace nickte nicht und klopfte nicht. Gewaltsam drückte er sich gegen die Tür, die mit einem lärmenden Quietschen nachgab, und barst in das dahinterliegende Krankenzimmer. Nur um blinzelnd stehen zu bleiben. Die Vorhänge waren zugezogen und jemand hatte etwas vor die Fenster gestellt, sodass der Raum in völliger Dunkelheit lag. Jace' Augen brauchten einen Moment, um sich an das wenige Licht zu gewöhnen, welches der Flur spendete. Die Luft war dick und stickig, roch nach Schweiß und Salz.
„Verschwindet!", schrie eine verzerrte Stimme zwischen zwei Schluchzern hindurch.
Hinter ihm spürte Jace, wie Alec sich versteifte. „Isabelle–", hörte er ihn in mildem Ton sagen, aber er brachte kaum ein Wort heraus, ehe Isabelle ihn harsch unterbrach.
„Ich habe gesagt, verschwindet!" Ihre Stimme klang so zerbrochen wie Jace sich fühlte. Unter all den Decken und Kissen waren einzig ihre zerzausten Zöpfe zu erkennen. In einer blitzschnellen Bewegung drehte sie sich im Bett und warf eines der Kissen in Richtung Tür. Sie schaute nicht einmal zu ihnen herüber, hielt ihr Gesicht immer noch vergraben. Dennoch traf das Kissen Jace frontal in die Brust.
Sie wartete nicht, um zu schauen, ob sie verschwanden. Stattdessen schien ihr kaum auszumachender Körper nur weiter in der Matratze zu versinken, als das nächste Schluchzen ihre Brust zerriss. Am liebsten hätte Jace auf dem Absatz kehrtgemacht, um so viel Abstand zwischen ihn und Isabelle zu bringen, wie möglich. Er spürte den Schmerz in der trockenen Wärme des sauerstofflosen Raumes, die sich wie eine Schlinge um seinen Hals legte.
„Isabelle", hörte Jace sich aus weiter Ferne sprechen. „Hier ist Jace."
Das Weinen endete so abrupt, dass Jace vor Dankbarkeit fast in die Knie gegangen wäre. Der Raum drehte sich bereits um ihn. Die Auslebung ihrer Trauer gab ihm den Rest.
Die Decken knitterten als Isabelle sich zur Tür drehte. Nun war sie es, die blinzelte. Jace schwankte beim Anblick ihres Gesichts rückwärts und Alec musste ihn festhalten, damit er nicht zu Boden ging. Sie sah schrecklich aus, anders konnte man es nicht beschreiben. Die Ringe unter ihren Augen waren dunkel und blutunterlaufen, als wäre sie ein Vampir und kein Mensch. Ihre Wangenknochen stachen kränklich davor, dabei waren nur Stunden vergangen. Ihre geröteten Augen huschten über sie hinweg wie ein ängstliches Beutetier, welches in der Falle saß.
„Was machst du hier?", hauchte Isabelle mit stockendem Atem.
In der Gegenwart ihrer Niedergeschlagenheit musste Jace mit seinem Willen kämpfen, um sich an den Rachedurst zu erinnern und ihn festzuhalten. „Steh auf", presste er unter zusammengebissenen Zähnen hervor. „Zieh dich an. Wir ziehen in den Krieg."
Er konnte die Hysterie sehen, ehe Isabelle den Mund öffnete. „Clary ist tot", schleuderte sie ihm in einem Schrei entgegen und die Worte trafen ihn nicht minder kräftig ins Herz als jeder Dolch es getan hätte. Von einem auf den nächsten Wimpernschlag gerieten Jace' Knie ins Wanken. „Meine Parabatai ist tot!"
Als Jace auf den kalten Fliesen auftraf, konnte auch Alec ihn nicht halten. Wie ein Blinder drückte er seine Handflächen in den Boden, orientierungslos und nach Textur tastend. Sein Atem presste nur stoßweise aus ihm heraus und er spürte, wie seine Lunge sich zusammenzog, als würde sie den Schmerz nicht aushalten.
Isabelle begann wieder zu weinen. „Ohne sie gewinnen wir den Krieg sowieso nicht", plapperte sie weiter. Mehr zu sich selbst als zu ihnen. Rastlos und neurotisch. „Clary wusste genau, was zu tun ist. Sie ..." Ihr Kiefer bebte zu heftig, um weiterzusprechen. Jace sah es nicht, aber seine Ohren vernahmen genug. Ein Zähneklappern, als würde sie unbekleidet durch einen sibirischen Winter laufen.
Irgendwie gelang es Alec gemeinsam mit Magnus' Hilfe, Jace wieder auf die Beine zu hieven. Gemeinsam trugen sie ihn herüber zum Bett, setzten ihn in einem Stuhl ab und schoben diesen näher an die Matratze heran.
„Sie würde nicht wollen, dass du in den Basilias versauerst", brachte Jace über die Lippen, nachdem er wieder zu Atem gekommen war. Die Härte in seiner Stimme überraschte selbst ihn. Er fühlte sich so weich, als würde seine Haut jeden Moment porös werden und seine Innereien herausquellen lassen. „Denkst du, sie würde sich hier verstecken, wenn du gestorben wärst? Denkst du ..." Ein röchelndes, aufgelöstes Gurgeln entfuhr ihm. „Sie würde sich nicht wie ein Feigling verstecken. Sie würde in den Kampf ziehen und dein Leben rächen."
„Jace!" Alec packte seine Schulter und Jace wusste, dass er eine Linie überschritt. Er wusste, dass er aufhören sollte. Dass er den Sturm in seiner Brust nicht an Isabelle auslassen durfte. Jace beachtete seinen Parabatai nicht – nicht für einen Lidschlag. Der Zorn packte ihn so plötzlich, dass sie der Welt einen roten Schleier verlieh.
„Sie würde sich aufs Schlachtfeld schleppen und jeden töten, der nur ansatzweise für deinen Tod verantwortlich war." Die Worte kämpften sich seine Stimmbänder hoch und vor seinem inneren Auge sah er sich bereits: Inmitten des Kampfes, wie er Schattenjäger um Schattenjäger niedermetzelte, bis er Valentin endlich erreichte. Im Rausch dieser Vision kletterte seine Stimme einige Oktaven in die Höhe; wurde lauter und lauter, bis sie Isabelles Schreien das Wasser reichen konnte. „Sie würde ihr Leben geben, um deines zu rächen. Sie hat ihr Leben gegeben, um unseres zu erhalten. Wir schulden es ihr, ihren Plan zu Ende zu bringen!"
„Zwing sie nicht aus Schuld in einen Krieg!", blaffte sein eigener Parabatai und grub seine Finger so tief in Jace' Schulter, als würde er ihn zerfleischen wollen. Er spürte es kaum.
„Ich habe recht und ihr alle wisst es!"
Isabelle hatte zu weinen aufgehört. Mit ihrem Ärmel wischte sie sich die verbliebenen Tränen fort. Die Trauer auf ihren Zügen war weiterhin omnipräsent, doch nun kroch noch eine andere Emotion ihre Gesichtsmuskeln entlang. Als Isabelles Augen Jace' trafen, konnte er die Erkenntnis klar ausmachen. Im Tau mit der übermenschlichen Rage, auf die er beinahe vergeblich gewartet hatte. Isabelle war die impulsivste von ihnen. Die, deren Emotionen am nächsten unter der Oberfläche schlummerten. Doch zerfressen vor Kummer hatte sich der Zorn angestaut. Jetzt, wo Jace sie an den Handlungsbedarf erinnerte, sprudelte er über wie ein brodelnder Vulkan, der jeden Augenblick hochgehen würde.
„Das letzte, was Clary gewollt hätte, ist eine Welt, in der ihr Vater gewinnt", stellte Isabelle nüchtern fest und schlug die Decken zur Seite, um ihre Beine über die Bettkante zu schwingen. Doch sobald ihr Name Isabells Zunge verließ, bahnten sich neue Tränen an. „Sie würde diese Welt hassen, wenn der Tod ihrer Mutter umsonst gewesen wäre. Wir dürfen nicht zulassen, dass Clarys Tod umsonst war."
Jocelyn. Deren Grab sie noch hatte besuchen wollen. Und nun war ihr selbst ein letzter Abschied mit ihrer eigenen Mutter verwehrt worden. Die Tatsache, dass ihre Seelen sich niemals wieder begegnen würden, dass Clary in ihrer letzten Ruhe vergeblich auf die tröstende Präsenz ihrer Mutter warten würde, brach Jace das Herz. Allein der Gedanke an ihre letzte Ruhe brach ihn so unwiderruflich, dass er hätte gleich hier und jetzt selbst sterben können.
Blaue Funken erhellten den Raum und als Jace und Isabelle sich zu Magnus umdrehten, spielte ein dunkles, freudloses Lächeln um seine Mundwinkel. „Dann wird es wohl allerhöchste Zeit, Valentin verlieren zu lassen."
„Ich sende die Flammenbotschaften aus", erwiderte Isabelle mit einer Nachdrücklichkeit, die keine Spur auf ihren jüngsten Gefühlsausbruch zuließ und erhob sich aus dem Krankenbett.
oOo
--- 4 Stunden vor Sonnenuntergang ---
Als sich kurz darauf alle Mitglieder der Sondereinheit im Büro der Inquisitorin versammelten, lag ein Schatten über der Stadt. Die Nacht war nicht mehr weit entfernt. Der hohe Stand der Sonne vermittelte das gegenteilige Gefühl, doch die aufziehenden Wolken wisperten von der langen Nacht, die sie erwarten würde, sollten sie heute unter dem Davonticken der Zeit versagen. Jace hatte das Gefühl, dass ihm diese schon längst davongelaufen war. Ein Blick in die Runde genügte, um zu sehen, dass es den anderen nicht anders erging.
Aaron, Alec, Magnus, Maia, Lyall, Isabelle, Adam. Selbst die ihm unbekannten Schattenwesen und Schattenjäger. Der Einfluss der jüngsten Ereignisse war jedem von ihnen an den Gesichtern abzulesen.
Adams geröteten Augen waren Zeuge einer Schuld, die er nun niemals begleichen konnte. Die ehrliche Verlorenheit seiner Züge ließ Jace realisieren, dass er wahrscheinlich seine letzte Verbündete auf dieser Seite des Krieges verloren hatte. Adam war für sie geblieben. Weil er ihr und ihren Ansichten vertraut hatte. Jace verspürte keinerlei Sympathie für Adam. Jedes Mal, wenn er ihn ansah, musste Jace daran denken, wie sie vor dem Anwesen der Ashdowns in Tränen ausgebrochen war. Er würde diesen Mann für alle Ewigkeit hassen. Trotzdem war es ihm allein zu verdanken, dass sie den Ort des Spiegels kannten. Dass sie ihren Plan in die Tat umsetzen konnten. Verlieh dies Adam das Recht, um sie zu weinen? Wenn Jace selbst keine einzige Träne heraufbeschwören konnte, wie wenn etwas mit ihm nicht stimmte?
Aaron Wrayburns hochkonzentrierte Miene konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er diesen Plan mit ihr an seiner Seite hatte durchführen wollen. Nicht, weil er ohne sie scheitern würde, sondern weil er gute Krieger schätzte wie niemand sonst. Es gab einen Grund, warum er einer der besten Generale der Nephilim war. Sein nüchterner Sinn, Talente zu erkennen, war einer davon. Und sie war das Talent gewesen. Aaron hatte sie von der Sekunde ihrer ersten Begegnung dementsprechend behandelt.
Magnus, eingepfercht zwischen Maia Roberts und einem für Jace namenlosen Nephilim, musterte Imogen beinahe skeptisch. Als wäre sich der Hexenmeister nicht länger sicher, ob er ihr und ihrer Führung vertrauen konnte. Jace war aufgefallen, dass die letzten Stunden etwas an der Art und Weise verändert hatten, wie Magnus sie studierte. Der reservierte Respekt war von einer kühlen Distanz abgelöst worden. Er hatte sie länger gekannt als, als alle anderen. Jocelyn Morgenstern hatte sich nach ihrer Flucht an ihn gewandt, um sich und ihre Tochter in Sicherheit zu bringen. Wie fühlte er sich nun, wo sie beide trotz seiner Hilfe gestorben waren?
Alec hielt die Arme vor der Brust verschränkt und sein verschlossenes Gesicht hätte Jace wohl auch über seinen inneren Konflikt hinweggetäuscht, wenn er nicht sein Parabatai gewesen wäre. Sie und er waren nie auf sonderlich gutem Fuß gewesen, aber Alec hatte sie respektiert. Für die Stärke, zu tun, was getan werden musste, allen Kosten zum Trotze. Jace war sich sicher, dass sie noch Freunde geworden wären, wenn sie mehr Zeit gehabt hätten.
Maia lauschte den Worten der Inquisitorin zwar mehr als deutlich, aber ihr Misstrauen war ihr ebenso offen anzusehen. Gestern hatte sie auf Jace deutlich entspannter gewirkt. Jetzt trippelte sie fast ungeduldig mit dem Fuß; schien dieses letzte Treffen hinter sich bringen zu wollen. Er wusste nicht viel über sie, kannte sie flüchtig aus New York. Weshalb es ihn umso mehr überrascht hatte, dass sie Maia anscheinend besser gekannt hatte als er selbst. Das Training der vergangenen Wochen hatte sie vielleicht nicht zu Freunden geschweißt, aber die gestrige Gelassenheit hatte sich heute verflüchtigt, als hätte sie gar nie existiert.
Die Geschehnisse der letzten Stunden verbreiteten sich wie ein Lauffeuer in der Stadt. Kaum jemand wusste, was geschehen war. Seine Großmutter hatte es so gut unter Verschluss gehalten, wie nur irgend möglich. Doch etwas musste durchgesickert sein. Etwas, was Imogen um jeden Preis zu verhindern versucht hatte. Möglicherweise, weil genau das eingetreten war, was sie gefürchtet hatte.
Etwas hatte sich in den Reihen der Schattenwesen getan. Nicht nur in Magnus' und Maias Mienen war es sichtbar; sogar in Lyalls, den Jace so gut wie gar nicht kannte. In all der Abscheu, die sie für alles und jeden außer ihr eigenes Volk übrighatte, hatte Imogen sie wieder und wieder mit Verantwortlichkeiten gegenüber den Schattenwesen überschüttet. Die Verhandlungen mit der Feenkönigin. Die Schaffung des Gemiums. Das Training und die Zuteilung ihrer Posten. All das hatte eine Brücke zwischen ihr und den Schattenwesen geschaffen. Und trotz all der Vorurteile Valentins, hatte sich ein Vertrauen entwickelt, welches gegenüber den Nephilim nie existiert hatte.
Die Inquisitorin hatte zu spät erkannt, dass die Schattenwesen sich nicht hinter ihr, sondern hinter Clary versammelt hatten. Weil sie Clary mehr vertrauten als dem Rat. Weil Clary dafür gesorgt hatte, dass ihre Stimmen nun zu hören sein würden. Weil Clary ihnen gezeigt hatte, wie sie Clarys eigene Familie besiegen konnten. Während der Rat sich den Schattenwesen nie zugewandt und wieder und wieder Clary – ausgestoßen und in den eigenen Reihen unakzeptiert – geschickt hatte, hatte Clary sich ihre eigene Gefolgschaft aufgebaut. Beabsichtigt oder nicht, die Schattenwesen würden Clary in den Krieg folgen, aber dem Rat? Aus Ausgestoßenen waren Verbündete geworden und Imogen war viel zu spät zu dieser Realisierung gelangt.
Isabelle kniete auf Maias Rechten und befestigte Dolch um Dolch in ihrer Rüstung. Mit solch einem fokussierten Blick, als malte sie sich genaustens aus, welche Klinge für wen bestimmt war. Jace konnte nicht das leiseste Anzeichen von Schwäche in den blutunterlaufenden Augen seiner Schwester erkennen. Die zusammengepressten Lippen und angespannten Wangenmuskeln waren Zeugen einer brennenden Souveränität. Jeder der fünfzehn Anwesenden war von Kopf bis Fuß bewaffnet und ausgerüstet. Isabelle war die Einzige, die aussah, als würde sie nicht nur in den Krieg ziehen, sondern diesen auch sicher gewinnen. Sie sah aus, als konnte sie sich bereits glorreich wiederkehren sehen. Ihr kalkulierendes, gnadenloses Lächeln erinnerte Jace so sehr an sie, dass er sich abwenden musste.
„Die wenigen unserer Spione, die es lebend zurückgeschafft haben, berichten, dass Valentin eine Art Zauber über den Brocelind-Wald verhängt hat", erklärte Imogen gerade mechanisch. Auch sie hatte sich umgezogen und die schwarz-silberne Montur verlieh ihrer reglosen Gestalt den Eindruck einer Statue. „Er verhindert die Erschaffung von Portalen in seinem Umkreis. Das Portal der Garnison wird euch so nah wie möglich dranbringen, aber der Abstand zum See ist beträchtlich." Sie stellte die Figur des Erzengels an den Rand des Waldes und während sie auf die Karte von Idris herabstarrte, tief in unausgesprochenen Gedanken versunken, tauten ihre strengen Züge auf. Kaum merklich, aber dennoch sichtbar, wenn man genau hinsah. „Diese Möglichkeit hat Clary in Betracht gezogen. So wird es deutlich schwerer, unbemerkt an den See zu gelangen, aber genau das ist das Ziel. Jeder von euch hat seine Befehle und weiß, was zu tun ist ... Clary hat euch heute Morgen ausführlich instruiert. Solange die Sonne nicht untergangen ist, wird es deutlich einfacher sein, an den Posten vorbeizukommen. Behaltet also die Zeit immer im Hinterkopf."
Imogens Ansprache wurde mit Stillschweigen erwidert. Die Einheit stand in einer Reihe, Schulter an Schulter. Wissend, dass das hier möglicherweise ihre letzten Momente in Sicherheit sein würden. Wissend, dass die Zukunft der gesamten Schattenwelt von ihnen abhing. Egal ob Schattenjäger und Schattenwesen, sie alle kämpften nun für ein und dasselbe. Sie waren eine Einheit und würden gemeinsam kämpfen und, falls der Erzengel es so wollte, gemeinsam sterben.
Wollte der Erzengel, dass sie stirbt? Jace ignorierte das beständige Flüstern in seinem Kopf. Es war irrational, dass ihr Tod kein Schicksal gewesen sein sollte, aber das kümmerte ihn nicht. Nein, in seinen Augen war sie zu Unrecht gestorben. Für ihn. Sie war für ihn gestorben und er wusste nicht, ob er sich jemals damit abfinden würde oder wollte. Ein Opfer welches er hätte erbringen sollen. Sie war noch nicht fertig. Sie wurde noch gebraucht. Ihr Werk auf Erden war noch nicht vollbracht, das glaubte Jace selbst jetzt noch. Hierfür.
Die sich einem neuen Zyklus nähernde Sonne, strahlte weiches Licht in das Büro. Imogen stand mit dem Rücken zu den Fenstern, ihre allmählich länger werdenden Schatten ein Vorbote für die anstehende Mission. Langsam hob sie den Kopf und ihre von hellblau umrandeten Pupillen fuhren matt über die Reihe an fünfzehn Kriegern hinweg, die sich vor ihr aufgestellt hatten. Das Licht verabreichte ihrem ergrauten Haar im richtigen Winkel einen grotesken Blondton, der Jace wundern ließ, wie sie wohl in jungen Jahren ausgesehen haben mochte. Falls es Bilder gab, hatte er diese nie gesehen. Obwohl Imogen Herondale nicht als solche geboren worden war, konnte er sich seine Großmutter als nichts anderes als eine Herondale vorstellen.
Die sonst so sture und eigensinnige Inquisitorin der Nephilim hielt das Kinn hochgereckt, als würde die Geste sie davon abhalten, Schwäche zu zeigen. Ihre Gliedmaßen so starr und steif wie in Stein gemeißelt, als fürchtete sie, sonst aus der Reihe zu tanzen. Einzig ihre Augen, blau wie der eisige Frühlingshimmel und kalt wie die blauen Eismeere im Norden, verrieten einen sich aufbrausenden Sturm. Ein Kampf so alt wie ihre Rachegelüste selbst. Ein Schmerz so tief wie ihre Trauer. Eine Persistenz so unnachgiebig wie ihr Streben nach genau diesem Augenblick.
Es war dieser Augenblick, in dem Jace seiner Großmutter ansah, dass sie es sich nicht so vorgestellt hatte. Diesen Augenblick des möglichen Triumphes. So kurz davor, das Ziel zu erreichen, auf welches sie seit beinahe zwanzig Jahren hinarbeitete. Ihr zwanghafter Durst nach Rache – welcher sie für so viele Jahre ungestillt und ausgedörrt gelassen hatte; welcher ihr keinen wachen Augenblick der Ruhe gelassen hatte – löschte sich nicht. All diese aufgestauten Emotionen verpufften nicht wie ein erstickendes Feuer. Sie würde diese Trauer weiter mit sich herumtragen. Sieg oder nicht würde daran nichts ändern.
Als sie schließlich vor dem Portal der Garnison standen, teilte Imogen ein letztes Mal ihre Lippen. Zögernd, als würde sie auf etwas warten, nachdem ihre Augen von Aaron bis Jace geglitten waren. „Nulla tenaci invia est via", sagte sie und dieser Ausdruck in ihren Pupillen erinnerte Jace so sehr an Caravaggios David mit dem Kopf von Goliath, dass er sich zwang, ihrem Blick nicht auszuweichen. Diese niederschmetternde Qual inmitten einer Notwendigkeit.
Jace brauchte keine Übersetzung, um ihre Worte zu erstehen. Keiner der Nephilim brauchte sie. „Für den Entschlossenen ist kein Weg unpassierbar", fügte er dennoch hinzu. Es waren die ersten Worte, die ihn etwas anderes als einen Todeswunsch verspüren ließen.
Die Inquisitorin hätte viele letzte Worte wählen können. Ein Teil von Jace hatte erwartet, dass es die klassische Phrase Ave atque vale sein würde, die die Nephilim sich für den Tod aufhoben. Aber noch war niemand von ihnen– Er brach den Gedanken ab, weil er nicht der Wahrheit entsprach.
Nein, Jace würde diese Worte in Zusammenhang mit ihr nicht einmal denken. Falls er das hier überleben sollte, würde er nach Alicante zurückkehren und ... Er wusste nicht einmal, wo ihr Körper sich befand. Falls noch etwas von ihr übrig war. Seine Großmutter hatte Jace angeboten, sie zu sehen, aber er hatte sich vehement geweigert. Er wusste, dass er zerbrechen und danach zu nichts mehr in der Lage sein würde.
Der Erzengel persönlich möge mein Zeuge sein, wenn ich schwöre, dass ich mich für niemanden außer dich in diesem Krieg opfern werde.
Nein. Niemals wieder.
Die Inquisitorin sagte etwas, aber Jace bekam es nicht mit, zu sehr schlotterten seine Knie unter seinem Körpergewicht. Er wollte diese Schwäche für später aufschieben, sie von sich stoßen, wie einen Schwerthieb, den man parierte.
Du bist die einzige Schwäche, welche ich mir gestatte.
Es war zu spät, um ihr Opfer rückgängig zu machen. Somit musste er dafür sorgen, dass er diesem gerecht wurde. Jace musste leben, egal wie sehr er sterben wollte, weil sie sonst ihr Leben umsonst gelassen hätte. Eine Respektlosigkeit für die er auf alle Zeit in die Hölle gehören würde.
Und so presste Jace die Zähne fest zusammen wie ein Hai, der sich in seine Beute festgebissen hatte und ließ die Verabschiedung seiner Großmutter über sich ergehen, an die er sich schon Sekunden später nicht mehr erinnern konnte. Weder an ihre Worte, noch an seine – falls es diese gegeben hatte. Seine Sicht war eine einzige verschwommene Farbpalette, seine Muskeln eine von fern gesteuerte Maschine.
Als die weißen Funken endlich Licht in seine Dunkelheit brachten, wollte Jace vor Erleichterung aufatmen. Das sich vor ihm aufbauende Portal bedeutete, dass er einen Schritt näher war, zu beenden, was sie begonnen hatte. Was sie hätte beenden sollen.
Als Jace durch das Portal trat, spürte er das erste Mal seit Clarys Tod etwas wie Hoffnung.
Die neue Welt war kalt und feucht. Schmelzender Schnee begrüßte sie, dessen Weißton die Sonne weniger intensiv reflektierte als noch vor einigen Wochen. Dennoch glichen die flachen Weiten von Idris einer Eiswüste, auch wenn es warm genug war, um keinen Wintermantel tragen zu müssen. Feste Stiefel und gefütterte Rüstung genügten, um den Witterungen hier draußen standzuhalten.
Jace blinzelte gegen das viele Weiß, legte sich eine Hand über die Augen und drehte sich einmal um die eigene Achse – um den Ort zu analysieren, an dem das Portal sie ausgespuckt hatte. Die kieferngrünen Wipfel des Brocelind-Waldes waren im Kontrast zu all dem Schnee einfach vor ihnen auszumachen. Wenige Kilometer weiter südlich, wie Jace schätzte, dehnte sich der endlose Wald am Horizont aus.
„Nun, das ist erfreulich", gestattete Magnus sich den Kommentar, als er die Distanz zum Wald ausmachte. Weit genug entfernt, um selbst von Elfenaugen nicht wahrgenommen zu werden und nah genug, um den Wald schnell zu erreichen. Ehe Aaron ihm Anweisungen erteilen konnte, warf Magnus bereits die Arme in die Höhe. Bläuliche Funken sprühten aus seinen Handflächen. Das goldene Funkeln seiner Iriden intensivierte sich, als er auf seine Magie zugriff. „Wir sollten nun auch für die geübtesten Augen unsichtbar sein."
„Formation", kommandierte Aaron, ohne die Stimme zu sehr zu erheben. Die fünfzehn Krieger, selbst die Schattenwesen, nahmen sofort ihre Positionen ein. Jeder wusste genau, was zu tun war. Auch wenn das noch so früh in der Mission kein sonderlich positives Zeichen sein musste. Es blieb noch genügend Zeit, damit die Dinge schiefliefen. „Machen wir, dass wir aus dem Flachland rauskommen. Der Wald steht zwar unter Valentins Beobachtung, aber wir können die Bäume genauso zu unserem Schutz nutzen wie er."
Und so setzte sich der Trupp mit flinken Schritten in Bewegung. Die Strecke zum Wald war dank Ausdauer- und Schnelligkeitsrunen schnell passiert und die Schlusslichter der Formation sorgten dafür, dass von den Fußspuren im Schnee nichts zu sehen blieb. Sobald sie die ersten Sträucher passierten, begann Jace' Herz zu klopfen. Anders als im tiefen Winter hinterließ der Schnee kein von Kälte stammendes Beißen in seiner Nase. Die tauende Umgebung roch nach einer Mischung aus Harz, feuchter Erde und ersten Anzeichen erwachenden Lebens – unterschwellig, aber nicht unbemerkt.
An der Spitze hatte Aaron das Tempo deutlich gedrosselt. Nach dem schnellen Joggen in der weißen Einöde machte Jace dieser langsame Gang nervös. Da Maia und Lyall als Werwölfe die besten Sinne besaßen, gingen sie an Aarons Seite, die Augen fokussiert zwischen den Bäumen und Farnen hindurch gleitend.
Schließlich schüttelten sie schweigend die Köpfe und Aaron gab in Reaktion ein stummes Handzeichen nach vorn, um ihnen zu bedeuten, ihre Schritte etwas zu erhöhen. Sie umgingen Gefälle, nahmen Umwege durch hochgewachsene Gräser und versuchten dabei, so wenig Geräusche wie möglich auszulösen. Gefrorenes Laub wurde vermieden, ebenso wie herabgefallene Äste. Bei der dünnen Schneedecke, die den Großteil des Waldes noch bedeckte, jedoch kein einfaches Unterfangen.
Es war ein nervenaufreibendes Gefühl, das Jace und wahrscheinlich auch die anderen begleitete, während sie sich lautlos durch die tiefer werdenden Schatten des Unterholzes bewegten. Der Reihe nach, sodass der Rücken des Vordermanns alles an Gefühlsregung war, die man von den anderen mitbekam. Die Stille des Waldes, als würden die hohen Bäume jeden Ton sofort verschlucken, breitete eine mulmige Unruhe in Jace' Brust aus. Er konnte spüren, dass es Alec hinter ihm ähnlich erging. Noch fehlte von Insekten und Vögeln jede Spur. Der pfeifende Wind in seinen Haaren in Begleitung der kaum auszumachenden Schritte der Nephilim und Werwölfe wurde nur durch die Schritte der Hexenwesen übertönt und selbst sie waren versiert darin, möglichst leise voranzukommen. Noch nie war Jace dankbarer für die Geräuschlosigkeitsrune auf seiner Schulter gewesen als in diesem Moment.
Bis Maias dunkle Hand nach etwa zehn Minuten plötzlich in die Höhe schnellte und Jace sich daran erinnerte, dass auch ihre Feinde über genau diese Rune verfügten. Einen Sekundenbruchteil später war die Einheit zum Stehen gekommen. Ohne ein Wort zu verlieren, kniete sie sich neben einen Baumstumpf und streckte den Finger aus. Aarons Blick folgte ihr und bestätigte nickend ihren Fund.
„Frische Fußspuren", murmelte er kaum hörbar. „Zu groß, um einem Menschen zu gehören."
Sie alle wussten, was das bedeutete. Feenwesen hatten dieses Gebiet vor nicht allzu langer Zeit patrouilliert. Der Feind war nah genug, dass er sie vielleicht bereits gesehen oder gerochen hatte.
Aaron drehte sich zur Einheit herum – ihre Mitglieder weiterhin mit einigen Metern Abstand hintereinander aufgereiht. Maia und Lyall ausschauhaltend in seinem Rücken, glitten seine entschlossenen Augen über jeden Einzelnen hinweg, ehe er den nächsten Befehl erteilte.
„Wir starten Phase Zwei."
-
In diesem Kapitel beginnt die Mission endlich, auf die Clary so lange hingearbeitet hat - nur eben ohne sie. Wird ihr Tod die anderen anfeuern oder eher ablenken? Jace scheint zwar sein Ziel zu kennen, aber er driftet oft genug in seinen Strudel aus Gedanken ab. Jetzt ist die Gruppe in Feindesgebiet, er darf sich keine Ausrutscher erlauben. Wie hat euch das Kapitel gefallen? Wir haben einen intensiven Austausch zwischen Jace und Isabelle, der mir persönlich gefällt, weil wir sehen, wie unterschiedlich und ähnlich zugleich sie mit ihrer Trauer umgehen.
Lasst mir sehr gerne ein Review da, um eure Gedanken mit mir zu teilen. Wie gefällt euch Jace' Perspektive? In den nächsten Kapitel wird auch Isabelles Perspektive hinzukommen!
Skyllen
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top