Kapitel 90 - Falling Morningstars

Song Inspiration: Suffocation (Heavenly Intro Version) – Crystal Castles

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Kapitel 90 – Falling Morningstars

--- 9 Stunden vor Sonnenuntergang. ---

Obwohl die Dämonentürme, welche Alicante vor dem Eindringen dämonischer Wesen schützten, alle die gleiche Höhe besaßen, wirkte es von Weitem gegenteilig. Da Teile der Stadt auf einem Hügel erbaut worden war, hatten sie optisch alle eine unterschiedliche Größe. Allein die Symmetrie, mit welcher die Türme in der Stadt verteilt waren, hauchte dem Anblick etwas Ordnung ein, solange man die Stadt aus der Ferne betrachtete.

Die wenigen Male, als Valentin es uns gestattet hatte, Alicante zu sehen, war genau dieser Gedanke in meinem Kopf herumgespuckt. Trotzdem war meine erste Reaktion auf die Türme stets verehrende Faszination gewesen. Solche massiven Bauten aus reinem Adamant zu schmieden war wahrlich die schwerste und wunderschönste Kunst der Eisernen Schwestern gewesen – und der Grundstein, dass die Nephilim heute noch existierten.

Den Kopf in den Nacken gelegt, um seine volle Größe einzufangen, stand ich nun direkt vor den Türen einer dieser Dämonentürme. Aus nächster Nähe schimmerte das Adamant noch brillanter in den spärlichen Strahlen der Sonne, die sich durch die sich verdichtende Wolkendecke kämpften. Im typischen Silberweiß, welches jeden Schattenjäger von der Wiege bis zum Grab begleitete, erinnerte mich der Turm an eine überdimensionale Stele. Es nahm mich sofort mehr für ihn ein.

Obwohl ich schon seit Monaten in der Stadt lebte, war ich den Türmen bisher immer aus dem Weg gegangen. Zu Beginn hatte ich keinen falschen Verdacht den anderen gegenüber hegen wollen, falls sie befürchteten, dass ich etwas im Schilde führte. Später war ich zu beschäftigt gewesen, um das Interesse aufzubringen. Doch als ich nun vor dem wohl bedeutendsten Bauwerk in der Geschichte der Nephilim stand – einem von vielen wohlbemerkt – konnte ich nicht anders, als unsere Vergangenheit zu bewundern. Zum ersten Mal war ich in der Lage, den Stolz so vieler eitler Schattenjäger nachzuvollziehen, den sie für unsere Gesellschaft empfanden.

Der Detailreichtum, den ich aus der Ferne nie bemerkt hatte, war verblüffend. Während die Gewölbe von Weitem wie glattpoliertes Adamant wirkten, waren tatsächlich tausende Runen und Bilder in ihre Oberfläche eingraviert. Dieser Turm erzählte die Geschichte von Jonathan Shadowhunters Schwester Abigail: Nachdem Jonathan durch Raziel zum ersten Nephilim geworden war, ließ er auch sie aus dem Engelskelch trinken und die Verwandlung durchlaufen. Viele Jahre später gründete sie mit sechs weiteren Frauen die Eisernen Schwester. Gemeinsam schufen sie die Adamantzitadelle; ein Rückzugsort und die Schmiede unserer Zivilisation.

Ich ging auf die Tür zu und suchte vergeblich nach einer Klinke. Auch sie bestand aus purem Adamant und war nur durch ihre feinen Umrisse im Gewölbe überhaupt als Tür erkennbar. Ich fragte mich bereits, ob die Inquisitorin mich hereingelegt hatte, als sie mir diese Aufgabe übertragen hatte, bis ich die Entriegelungsrune fand, welche auf Klinkenhöhe in die Tür eingezeichnet worden war. Als ich meine Stele darüber gleiten ließ, fuhr ein Beben durch das Metall hindurch, ehe sich der Eingang unter einem beinahe mechanisch klingenden Schleifen seitwärts öffnete.

Meine Augen weiteten sich überrascht, als ich die leere Hülle des Turmes betrat. Während die Bauwerke von außen einen so massiven Eindruck machten, war ihr Inneres bis auf eine Wendeltreppe vollkommen ausgehöhlt. Obwohl mir klar war, dass die aus Adamant bestehenden Stufen dem Gewicht ganzer Berge standhalten würden, zwang mein Instinkt mich dazu, dieses Wissen zu testen. Kurz darauf erklomm ich die Treppe und bereitete mich auf die Eskorte vor, welche ich oben vorfinden würde.

Imogen hatte mich damit beauftragt, den Platz eines Wächters im Hauptturm einzunehmen, solange dieser anderweitig verhindert war. Da ich den Dämonentürmen bisher nicht sonderlich nahegekommen war, hatte ich ohne zu zögern zugestimmt. Keine Sekunde zu früh, weil Isabelle sich nur einen Wimpernschlag später freiwillig für die Aufgabe gemeldet hatte. Natürlich war jede Aufgabe, die kommende Schlacht vorzubereiten, ehrenhaft und dennoch konnte ich mir nichts Besseres vorstellen, als in meinen vielleicht letzten Stunden hoch oben über den Dächern der Stadt zu stehen und auf alles hinabzublicken. Dass ich nur herumstehen musste, während die anderen umherlaufen und Dinge herumschleppen würden müssen, machte die Tatsache nur noch besser. Eine Tatsache, der sich Isabelle definitiv auch bewusst gewesen war, dem folgenden schmollenden Ausdruck ihrer Züge nach zu urteilen.

Das Erklimmen der Stufen war ein monotoner Prozess und als ich mich irgendwann verzählte, warf ich abschätzend den Kopf in die Höhe, nach dem Plateau Ausschau haltend. Erleichtert ließ ich die Luft durch meine Nase entweichen, als es in meinem Sichtfeld auftauchte. Noch knappe zehn Meter. Ich nahm die Beine in die Hand und zwang mich weiter. Nur um einen tiefen Atemzug später innezuhalten, wie wenn mir jemand die Luft abgeschnürt hatte.

Das Herz in meiner Brust pulsierte in einem sportlichen Rhythmus und in der völligen Stille des Gewölbes war das Echo meiner Stiefel auf dem Adamant alles, was es abgesehen von dem Puls in meinen Ohren zu hören gab. Nichtsdestotrotz hielt ich nun den Atem an und lauschte in den, von spärlich platzierten Elbenlichtfackeln erhellten, Raum hinein.

Die Luft war mit dem Aufsteigen wärmer geworden, was nur natürlich war, da Wärme aufstieg. Darauf hatte ich den Wechsel des Geruchs auch zuerst geschoben, der mit jedem Schritt ein wenig prägnanter geworden war. Zuerst hatte ich mir nichts dabei gedacht, denn unter der Kuppel des Turmes konnte die Sonne deutlich stärker wirken als draußen, wo der frische Wind hinreichte.

Doch das war nicht der gewöhnliche Geruch nach fauliger Feuchtigkeit oder staubiger Trockenheit. Das hier war ... schwerer. Eine metallische Note, die nichts mit dem Adamant zu tun hatte, welches mich umgab.

Ich erklomm die übrigen Etagen, ohne mich daran erinnern zu können. Die letzte Stufe kam in Sicht und meine Füße kamen zu einem so abrupten Halt, dass ich beinahe über die Kante gestolpert wäre. Vom Treppenabsatz tropfte Blut. Ein dünnes Rinnsal, welches sich den Weg des geringsten Widerstands bahnte und eine kleine Pfütze auf der ersten Stufe hinterließ. Der beißende Geruch trieb Tränen in meine Augen und brachte meinen Magen zum Würgen.

Mein Kopf hob sich so ruckartig, dass ich etwas in meinem Nacken knacken hörte. Das Plateau glich einem See aus Blut. Wie eine einheitliche Oberfläche hatte sich der Boden dunkelrot verfärbt. Einzig eine kelch-ähnliche Struktur, welche in der Mitte der Fläche knapp eineinhalb Meter in die Höhe ragte, reflektierte noch silbern die Elbenlichter. Sobald ich erkannte, worum es sich dabei handelte, fiel mir die Kinnlade herunter. Sie sah aus wie die steinernen Weihwasserbecken am Eingang einer Kirche. Nur dass dieses Becken von weißen Flammen umgeben war, die sich an den Kanten des Adamants züngelten.

Das hier war das Becken, mit dem die Dämonentürme gesteuert wurden; mit dem sie aktiviert und deaktiviert werden konnten. Und genau dieses Becken schwamm nun in einem Meer aus Blut, dessen Ursprung unerklärlich war.

Was auch immer hier geschehen war, die Macht der Türme war noch aktiv. Hastig scannte ich den Rest des Plateaus, aber abgesehen vom Becken gab es hier rein gar nichts zu sehen. Die Kuppel thronte einige Meter über meinem Kopf, undurchlässig für auch das kräftigste Sonnenlicht. Erst als sich das Blut plötzlich zu bewegen schien, folgte ich seinem Fluss und entdeckte die Tür, welche genauso unscheinbar wie die Erste in das Adamant eingearbeitet worden war. Diese musste nach draußen, auf die Außenanlage des Turms führen. Der Ort, wo ich nun eigentlich mit mindestens der Hälfte der weiteren Wächter wache halten sollte. Die andere Hälfte sollte sich eigentlich hier drin befinden.

Diese Tür zu öffnen war ein Risiko, dabei war klar, dass mir keine andere Wahl blieb. Wie von selbst zog ich Eosphoros aus seiner Scheide auf meinem Rücken, bevor ich mich auf das Plateau wagte. Das Blut unter meinen Füßen blubberte, als es von meinen Stiefeln erstickt wurde. Ich dachte an Blake Ashdown und an all das Blut, welches ich in seiner Gegenwart vergossen hatte. Meine Finger begannen sofort zu beben. Das hier war so viel schlimmer als mein bisschen Blut im Landhaus.

An der Tür angekommen, brachte ich meinen Atem unter Kontrolle und zählte im Kopf leise bis zwanzig. Erst dann streckte ich meine Stele nach der Entriegelungsrune aus, ohne auf das Blut zu achten, welches unter den kaum vorhandenen Schlitzen der Tür in diesen Raum hineinsickerte. Ich wappnete mich auf das, was ich draußen vorfinden würde. Ich verhärtete den Griff um Eosphoros Heft und wappnete mich auf eine Begegnung, mit der ich erst so viel später gerechnet hatte. Ich zwang jeden Fokus in meine Glieder, sobald das Adamant seitlich aufglitt und ich nach draußen auf den Balkon trat.

Sobald ich die Sicherheit des Plateaus hinter mir gelassen hatte, peitschte ein kühler Wind über mein Gesicht. Er trocknete den aufkeimenden Schweiß auf Stirn und Nacken in Sekunden. Kein Grund Erleichterung zu verspüren.

Ich hatte gedacht, dass ich noch Zeit haben würde. Ich hatte mich in kindischer Sicherheit gewähnt; hatte zwar die Stunden heruntergezählt, mir dieses Treffen aber unter anderen Rahmenbedingungen ausgemalt. Nicht ganz allein auf einem blutenden Turm mit nichts als sechs Leichen zwischen uns.

„Clary." Jonathans Stimme trugen eine Nuance der Verblüffung. Seine dämonisch dunklen Augen huschten von mir zur Tür. Beinahe hätte ich vermutet, dass er verwirrt aussah. Die Tatsache, dass das Schwert in seiner rechten Hand – Phosphoros – gerade einen noch wimmernden Mann durchbohrte, als bestünde dieser aus nichts als Gummi, machte das Szenario zu bizarr, als dass es wahr sein konnte. Er musste mit mir gerechnet haben.

„Jonathan." Ich ging in Kampfposition noch ehe der leblose Körper mit einem feuchten Plumpsen auf dem polierten Boden auftraf.

Jonathan folgte meiner Bewegung, als würde er angestrengt herausfinden, was ich da tat. Wie in meinem Traum tropfe das Blut von seiner Klinge, als er achtlos über die auf der Aussichtsplattform verteilten Körper trat, um sich mir zu nähern. „Ich habe nicht erwartet, dich hier anzutreffen", sprach er und die temperamentvollen Emotionen des Dämons verliehen seiner Stimme eine ächzende Note. Er legte den Kopf schief, ohne sich selbst in Ausgangsstellung zu begeben. Wie wenn er kein Interesse an einem Kampf besaß. „Solltest du dich nicht auf die Schlacht vorbereiten? Irgendwelche unfähigen Unterweltler trainieren oder mit deinen Freunden Barrikaden errichten?"

In diesem gottgegebenen Augenblick realisierte ich mit übereinstimmender Überraschung, dass Jonathan tatsächlich nicht mit meinem Auftauchen gerechnet hatte. Wie lange auch immer er innerhalb der Stadtmauern ausgeharrt und auf den richtigen Moment gewartet hatte, um die Dämonentürme zu deaktivieren – mich hatte er in seinem Plan nicht berücksichtigt. Es hatte ein klammheimliches Unterfangen werden sollen und ich war die Letzte, die er in seinem Weg hatte haben wollen.

Die plötzliche Realisation durchfuhr mich wie ein Schub Adrenalin und ich hätte beinahe nach Luft geschnappt. Erstens, Jonathan hatte unser Aufeinandertreffen genauso wie ich zu einem späteren Zeitpunkt des heutigen Tages erwartet. Zweitens, die Inquisitorin hatte mich hergeschickt, um über den Hauptturm zu wachen. Hauptturm, weil nur er zur Steuerung der anderen fähig war. Natürlich hatte Imogen mich nicht in dem Wissen, Jonathan zu begegnen, herbeordert. Dass es nun dennoch dazu gekommen war – dass ich ihm nun Auge um Auge gegenüberstand – erschien mir wie ein überdeutliches Signal des Himmels. Es konnte nicht anders sein. Wie der laute Schrei nach Hilfe, den Ithuriel so vehement abgelehnt hatte, als wir ihn persönlich darum ersucht hatten.

Das hier war mehr als ein Zufall. Das hier war Schicksal. Das hier war die himmlische Antwort auf unser Hilfeersuchen. Meine Chance, es zu beenden, ehe es begann. Meine Pflicht.

Ich erlaubte mir einen einzigen Blick über die Brüstung des kreisrunden Balkons hinweg. Auf die ockerfarbene Stadt, deren Dächer auf der nördlichen Seite viel näher waren, als ich angenommen hatte. Weil dieser Turm an der Grenze zwischen Hügel und Tal erbaut worden war und die Wohnhäuser somit in einer Schräge aufgezogen worden waren, die den Turm kleiner wirken ließ, als er tatsächlich war.

Dann richtete sich jeder Funke meines Fokus auf Jonathan, der mich anstarrte, als hätte er mich noch nie zuvor gesehen. „Ich bin genau da, wo ich sein soll", war alles, was ich antwortete, ehe ich mich mit erhobenem Schwert auf meinen Bruder stürzte.

Phosphoros sauste in die Luft, um meinen Schlag zu parieren. Das Eisen vibrierte in Lauten einer uralten Sprache, die keiner von uns verstand. Das Überraschungsmoment war auf meiner Seite. Ich musste es ausnutzen. Wieder holte ich aus – mit solcher Inbrunst, dass Jonathan die Zähne zusammenbeißen musste. Seine Statur war größer als meine, ich dafür aber deutlich flinker. Sein Rücken zur Brüstung trieb ich ihn in die Enge, fort von den leblosen Schattenjägern und an den Rand des Turms.

Jeder Schlag kam dem Wanken der Erde gleich. Als würden wir die Ankerung der Welt mit jedem Schwertwechsel weiter aus dem Gleichgewicht treiben.

„Gib auf, Clarissa!" Jonathan hatte die Orientierung zurückerlangt und mit ihr den dimensionslosen Zorn, welcher ihm nun übers Gesicht schoss wie eine zweite Haut. Von dem Schock meiner Anwesenheit in Verlegenheit gebracht, fletschte er nun die Zähne, als würde er mir die Kehle herausreißen, wenn ich ihn zu nah heranließ. „Du kannst diesen Kampf nicht gewinnen und das weißt du!"

Ich ließ den Sauerstoff durch meine Nase entweichen, duckte mich rücklings unter seiner scharfen Klinge hindurch und setzte sofort zum Gegenschlag an. „Oh, und wieso das, liebster Bruder?"

Sein Kiefer verhärtete sich bei dem Kosenamen und ich lächelte in mich hinein. Ich musste ihn aufbrausen, ihn rasend machen, sodass die Emotionen seine Sinne trübten. Wieso war es dieser vor Verachtung getränkte Moment, in dem ich mich an Maliks Worte erinnerte? Hatte er mich nicht gewarnt, dass ein Krieger seine Kraft nicht aus solch negativen Emotionen ziehen sollte? Hatte er mich nicht gewarnt, dass ich nur im Einklang meiner eignen Gefühle dazu fähig sein würde, Jonathan zu schlagen?

„Der Pfad, auf den deine Mutter dich geführt hat, hat dich schwach gemacht", schoss er wie aus einer Pistole zurück und das Schleifen unserer Klingen hätte mir ohne das Adrenalin eine Gänsehaut bereitet.

Deine Mutter, nicht unsere. Ich spürte, wie meine Pulsader zu pochen begann und zwang all die Wut in den Hintergrund, ehe sie in meinen Adern explodierte. Wir lieferten uns einen Schlagabtausch; so flink, dass selbst meine von Runen verstärkten Augen nicht mithalten konnten.

„Du hast vergessen, was Stärke bedeutet", höhnte Jonathan mit einer Stimme von aufbrausenden Gewitterwolken. Phosphoros fuhr so heftig auf mich herab, dass ich mich zur Seite drehen musste, um nicht aufgeschlitzt zu werden.

Wir führten einen Tanz am Rande der Außenplattform auf und mit einem flüchtigen Seitenblick zur Tür wurde mir klar, dass Jonathan nicht hierbleiben durfte. Selbst falls ich versagte, musste er weit genug weg sein, dass jemand anders noch die Chance haben würde, ihn zu schlagen. Meine Anwesenheit hatte verhindert, dass er die Dämonentürme deaktivieren konnte uns so musste es bleiben. Ich musste ihn von hier fortlocken.

„In der Trainingshalle hast du im Zweikampf gegen mich versagt." Die Worte sprudelten nur so aus Jonathan heraus, als würde er dem Druck nicht mehr standhalten, sie zurückzuhalten. „Im Büro der Inquisitorin hast du gegen mich versagt. Und jetzt ist niemand da, um dir zu helfen. Keine dreckigen Tricks, die dich retten können. Du solltest mir aus dem Weg gehen, ehe ich dich niederstrecke!"

„Und du redest zu viel", war alles, was ich erwiderte, bevor ich aus unserer Choreografie ausbrach, welche sich zu sehr nach Training und zu wenig nach Schicksalskampf anfühlte. Hier konnte man nur gewinnen, wenn man eine Überraschung in der Hinterhand hatte.

Und so stürzte ich auf ihn zu; sprang auf ihn zu. Jonathans Augen weiteten sich, weil er den Zweck hinter dieser sinnlosen Attacke nicht begriff. Ich lief ihm direkt ins Messer. Zumindest nahm er das an. Ich streckte die Beine durch und meine Stiefel trafen ihn frontal in die Brust. Eosphoros hielt ich immer noch so, dass er mir die Beine nicht vom Körper abtrennen konnte. Der Tritt gegen seinen Brustkorb war vielmehr ein Stoß, als würde ich ihn zertrampeln.

Sein Mund öffnete sich in Grauen, als der Rückstoß ihm den Atem aus den Lungen presste und er nicht nur zu taumeln begann, sondern so heftig gegen die Brüstung stieß, dass es ihn rückwärts hinüber trieb. Das Knacken seiner Rippen war das Letzte, was ich hörte, bevor Jonathan mit dem Rücken voran über das Geländer fiel.

Meine Schritte rasten zu dem Punkt, an dem er gerade noch gestanden hatte. Eosphoros immer noch in der rechten Hand, spähte ich über den Rand des Balkons in die Tiefe. Jonathans gellender Schrei – eine Mischung aus unverzeihlichem Zorn und unüberhörbarer Furcht – zerriss die Stille des Morgens und ließ mich ein Stoßgebet an Ithuriel aussenden.

Doch mein Unterbewusstsein hätte sich keine Sorgen um meinen Bruder machen müssen. Schließlich war er ein Morgenstern. Noch im Flug hatte er sich gedreht wie eine Katze und landete unsanft auf dem Dach, welches dem Turm am nächsten war. Ich hätte es abstreiten können, ihn mit Absicht zur nördlichen Seite gedrängt zu haben, damit er den Sturz überlebte. Es wäre eine Lüge gewesen, auch wenn ich mir nicht eingestehen wollte, wie viele Leben ich durch diese Nachsicht vielleicht ausgelöscht hatte. Der Dominoeffekt machte vor Mitleid keinen Halt.

Hektisch drehte ich mich zu den leblosen Schattenjägern um. Ich musste Jonathan erreichen, bevor er sich einen Weg zurück hier hoch bahnte. Konzentriert zuckten meine Augen über ihre Ausrüstungen hinweg und fanden ruckartig Stillstand, als ich sah, was ich suchte. Einen Herzschlag später erleichterte ich einen von ihnen um ein Kletterseil. Ohne nachzudenken – ohne ihn in meiner Nähe war das alles nur Instinkt – schwang ich meine Beine auf die Brüstung und seilte mich ab, nachdem ich den Knoten einmal flüchtig überprüft hatte. In meinem Kopf war das Ticken der Sekundenzeiger zu einem unaufhörlichen Takt hochgeschwollen. Ich zerrte an den Ärmeln meiner Montur, um den Handschutz über meine Finger zu stülpen. Ich wollte schließlich noch mein Schwert halten können, wenn ich unten ankam. Dann sprang ich vom Dämonenturm.

Ein weiterer Schrei durchschnitt die Stille. Jonathans Dämon, der wie eine wildgewordene Bestie fluchte. Seine Kontrolle entglitt ihm. Ein Vorteil, den ich ausnutzen musste. Keine Nachsicht mehr. Kein Mitleid mehr. Kein Freifahrtschein mehr. Das hier war nicht mein Bruder. Das hier war ein Dämon, der mich und alles andere Leben ohne mit der Wimper zu zucken auslöschen würde. Dieses Wesen kannte keine Gnade, keine Liebe und keine Vergebung. Ich durfte ihm ebenfalls keine gewähren.

Das schwarze Seil scheuerte an den Innenseiten meiner Hände entlang, während ich in die Tiefe fiel. Der Geruch beißenden Kunststoffes verteilte sich wie eine Wolke um mich herum, aber mein Fokus lag allein auf der Hitze zwischen meinen Fingern. Sobald ich die geeignete Höhe erreicht hatte, zwang ich sie mit gewaltsamer Disziplin um das Seil. Meine Stiefel stemmten sich in das Adamantgewölbe des Turms und stießen sich von ihm fort, sodass mein Körper nicht vom Rückstoß dieses plötzlichen Halts erfasst werden konnte.

Meine versteiften Finger lösten sich nur protestierend von dem Seil. Es war kein Wimpernschlag vergangen und ich segelte wieder durch die Luft – diesmal horizontal und nicht vertikal. Der Aufprall auf dem Rand des Daches gingen mir durch Mark und Bein; zwang mich auf die Knie. Jonathan, der sich bereits von der Kante entfernt hatte, rutschte nun mit ausgeruhter Energie die ockerfarbenen Ziegel herunter.

Einen Herzschlag lang dachte ich zurück an das Trinkspiel von Adam und Isabelle. Wie wir auf dem Dach des Lightwood-Hauses gekämpft und gelacht hatten. Wie Adam vor Alec und Jace behauptet hatte, mich auf einen möglichen Kampf mit Jonathan vorzubereiten.

Ich konnte nicht glauben, dass das hier gerade wirklich Realität war.

Phosphoros zischte durch die Luft und ich rollte mich zur Seite. In meinem Rücken spürte ich den feinen Wind, welchen die Klinge aufwirbelte. Im Anschluss platzte der getrocknete Ton in einem knackenden Splittern, als das Schwert auf dem Dach auftraf.

Ohne mir Trödelei zu erlauben, rollte ich mich ein weiteres Mal um die eigene Achse, spürte kurz das unförmige Dach in meinem Rücken und sprang auf die Füße, um Jonathans Folgehieb zu entgehen. Gerade rechtzeitig. Ein Griff an meine Schwertscheide später war auch ich wieder bewaffnet und das Duell begann von Neuem.

„Vater hatte recht", bellte Jonathan, jeder Hieb brutaler und unvorhersehbarer als der Vorherige. Etwas in der Finsternis seiner Pupillen brannte mit einer Inbrunst, die Sterne hätte auslöschen können. „Du bist eine Plage. Du hast weder unseren Namen noch einen Platz an unserer Seite verdient. Jocelyn hat einen Schwächling aus dir gemacht. Ihre Schwäche hat dich infiziert! Ihre Schwäche hat sie umgebracht und wird auch dich das Leben kosten!"

Mein Herz platzte auf wie eine Granate, ihre Splitter durchdrangen jeden letzten Winkel meiner Venen mit einem Zorn so tief, dass ich einen Wimpernschlag nichts als Sterne sah. Ich wollte mein Schwert heben und auf ihn einschlagen, bis er nicht mehr stehen konnte; bis er den Tag bereute an dem er neu geboren worden war.

Doch die Stimme in meinem Hinterkopf hielt mich davon ab. Solange du am Hass festhälst, wirst du scheitern. Maliks Worte.

Das Schwert verharrte in meinem eisernen Griff; bebte in der Luft, während meine Füße unter mir schwankten. Jonathan sah den Blick in meinen Augen; registrierte, dass sich etwas verändert hatte, ohne es benennen zu können. Ich musste ihn beschäftigt halten, musste ihn von hier fortlocken. Dieser Ort war nicht für unseren finalen Kampf vorherbestimmt. Zu nah war er an der Quelle, welche über den Fortbestand dieser Gemeinschaft richtete.

„Jocelyn hat mich befreit. Wahre Freiheit, zu tun, was auch immer ich möchte – den Idealen zu folgen, die ich für richtig halte. Ich bin frei, während du an Vater gefesselt bist wie ein Zirkuslöwe an seinen Dompteur. Denn mehr als ein Sklave Valentins bist du nicht und wirst du auch niemals sein – etwas anderes würde er nie zulassen. Und während du jemandem dienst, diene ich nur mir selbst. Du verwechselst Freiheit mit Schwäche, weil du sie nie kanntest und somit auch nicht als solche erkennen könntest."

Der Dämon raste brüllend auf mich zu, noch bevor ich Eosphoros in die Scheide auf meinem Rücken gleiten ließ. Ich warf mich auf die Knie, gab mich der Schwerkraft hin und rutschte die Dachschräge hinab. Das Zischen des Dämons folgte mir, aber ich schenkte ihm keinen flüchtigen Blick. Auch nicht, als ich mich an der Dachkante wieder auf die Füße katapultierte und zu rennen begann. Schneller als ich je in meinem Leben gerannt war. So schnell, dass meine Umgebung trotz der Sehrunen zu verschwimmen begann.

Ich nahm die Beine in die Hand und sprintete davon. Ich flog über die Dächer Alicantes hinweg. Fort, fort, fort vom Hauptturm und in Richtung Tal. In Richtung der südlichen Tore. Ich spürte kaum, wie der Halt unter meinen Füßen verschwand und wieder auftauchte; spürte seinen heißen Atem nicht in meinem Nacken; spürte die Schmerzen seiner Dolche nicht, die mich aufzuhalten versuchten. Ich hatte so viel Zeit auf den Dächern dieser Stadt verbracht, dass mir der Wechsel in den Tunnelblick leichtfiel wie das das Schießen eines Pfeiles.

Der Dämon hatte sein Ziel aus den Augen verloren. Die aufkochenden Emotionen blockierten jede Rationalität wie der Blick in den Schlund eines aktiven Vulkans. Jonathan war so besessen von mir, dass der Dämon die Kontrolle verloren hatte. Seine Schreie folgten mir wie Vorboten auf ein grausames Ende oder einen glorreichen Anfang. Auf welcher Seite von Messers Schneide ich landete entschied ich allein. Und so sprang ich über seinen Rand. In der Hoffnung, auf der richtigen Seite zu landen.

oOo

--- 8,5 Stunden vor Sonnenuntergang. ---

Der Anflug von Schmerz fuhr durch Isabelles Brust wie die federleichte Berührung eines Dolches auf der Haut. Ein Schmerz, der eigentlich gar keiner war – eher der Geist davon. Sie wusste, dass es Schmerz war, ohne zu wissen, weshalb sie es wusste. Sie wusste auch, dass es nicht ihr eigener war. Nein. Ein stockender Atemzug entglitt ihr, als sie die Augen schloss und in sich hineinhorchte.

Nein. Es war die Parabatai-Rune, welche sie auf diese Weise fühlen ließ. Das Band zwischen Clary und ihr war so frisch, so jung, dass es noch nicht aufgehört hatte zu pochen. Alec hatte ihr erzählt, dass sich die Verbindung mit der Zeit in den Hintergrund ihrer Wahrnehmung zurückziehen würde. Wie ein weiterer Nerv, eine weitere Hand, die Isabelle zwar spüren, aber genauso gut ausblenden können würde.

Irgendetwas stimmte nicht. Das Empfinden von Clarys Nähe hatte nachgelassen, als ihre Wege sich nach Ende der Kriegssitzung getrennt hatten. Isabelle konnte ihre Parabatai immer noch spüren, aber das rot-gold schimmernde Band in ihrer Brust war zu einem sanften Pulsieren abgeflacht. Bis jetzt. Jetzt schien die Verbindung gegen die Innenseite ihres Brustkorbs zu kratzen, als wäre es ein lebendiges Wesen, das herausgelassen werden wollte.

Isabelle hielt in ihrer Bewegung inne und saugte den staubigen Sauerstoff der Abkommenshalle tief in sich hinein. Um kein Aufsehen für etwas zu erregen, was sie sich vielleicht nur einbildete, schlich sie in die Schatten einer der zahlreichen Säulen. Mit dem Rücken gegen die kühle Steinwand gelehnt, schloss sie, so langsam wie ihr aufkeimendes Herzrasen es zuließ, ihre Lider.

Mit vollem Fokus auf die Geschehnisse in ihrem Geiste wurde das Ziehen an dem Band stärker. Obwohl Isabelle diese Art von Emotion noch nie zuvor gespürt hatte, wusste sie instinktiv, dass mit Clary etwas nicht stimmte. Es war kein aktiver Hilferuf – dazu war der Parabatai-Bund nicht in der Lage – aber es war ihr Unterbewusstsein, welches nach Isabelles eigenem rief.

Sie war darauf vorbereitete gewesen, diese Art der Kommunikation mit Clary zu spüren. Jace und Alec hatten ihr oft genug berichtet, wozu sie als Parabatai imstande waren. Es änderte nichts daran, dass dieses Gefühl ihr eine Heidenangst einjagte. Ihre Parabatai war in Gefahr und Isabelle hatte weder eine Ahnung, was Clary in Auffuhr versetzte, noch wo sie sich überhaupt aufhielt.

Ohne sich bei ihren Vorgesetzten zu melden, stürmte Isabelle aus der Abkommenshalle. Der Platz des Engels war brechend voll. Die Sonne schien mit einer neugewonnenen Intensität zwischen den Wolken auf sie herab, als würde sie schon allzu bald bereit sein, das Land und ihre Bewohner zu verbrennen; aber das kümmerte Isabelle nicht. Sie schrie die Leute in harschem Ton an, ihr aus dem Weg zu gehen, als sie sich in einem joggenden Laufschritt zwischen ihnen hindurchzwängte. Die meisten gehorchten und sprangen zur Seite, ehe sie die Stimme erheben konnte. Die Blicke, die ihr begegneten, ließ die Furcht hochwallen wie die Wellen nach dem Bruch mit der Küste. Sobald die fremden Augenpaare ihrem begegneten, veränderte sich etwas in ihren Gesichtern – eine Ernsthaftigkeit tauchte in ihnen auf, als wüssten sie etwas, was Isabelle nicht wusste. Stand es so schlimm um Clary, dass sie nicht in der Lage war, das wahre Ausmaß ihrer Verbindung zu ihrer Parabatai zu spüren? Was versuchte ihr Körper da vor ihr zu verbergen?

Das flache Klackern ihrer Absätze war der einzige Ton, der durch die Konzentrationsblase an ihre Sinne getragen wurde. Isabelle schubste die Leute fort, die nicht schnell genug auswichen, warf ihnen Flüche an den Kopf und rannte durch die Gassen Alicantes, als würde die Welt davon abhängen. Sie war sich sicher, dass sie noch nie in ihrem Leben so schnell gerannt war. Sie war sich sicher, dass die Barrikaden, bei deren Errichtung Jace half, viel weiter entfernt waren. Trotzdem kamen ihre Schuhe überraschenderweise schon viel zu früh zu einem Halt, weil sie die Strecke schon hinter sich gebracht hatte.

„Jace!" Isabelle kümmerte sich nicht, leise zu sein. Sollten die Leute doch gaffen, das hatte sie noch nie interessiert. Ihre Augen suchten hektisch die Menschen nach ihrem Bruder ab; suchten nach dem vertrauten, goldblonden Lockenschopf. Doch alles, was sie sah, waren Werwölfe und unbekannte Schattenjäger.

Die Aufmerksamkeit der Stellung verlagerte sich auf Isabelle, die sie erst verwirrt und schließlich besorgt musterten. Ein Murmeln ging durch die Reihen. Sie hielten in ihren Arbeiten inne, setzten Felsbrocken und Baumstämme nieder, um die Köpfe suchend nach Jace umzudrehen. Letztendlich fand er Isabelle, ehe sie ihn fand.

Eine dünne Schweißschicht bedeckte seine Stirn und die Feuchtigkeit verdunkelte den Saum seiner Montur, als er sich damit gleichgültig darüberfuhr. Sein Fokus lag auf einem mittellangen Baumstamm, den er auf seiner linken Schulter balancierte. Ein halbes Grinsen hob seine Mundwinkel. Es verlieh seinen Zügen eine Lässigkeit, als würde er gerade keine Barrikade sondern eine Schule bauen. Eine Lässigkeit, welche sie bis vor wenigen Minuten selbst noch verspürt hatte. Denn die Angst vor dem Krieg hatte Isabelle noch nicht eingeholt. Jetzt war sie plötzlich mit voller Wucht über sie eingefallen, obwohl bis zum Start ihrer Operation noch mehrere Stunden hatten.

„Beim Erzengel, Izzy, haben sie dich aus deiner Gruppe rausgeworfen, dass du mich jetzt schon belästigen kannst?" Es war ein Witz. Einer von Jace' Schlechteren, der Isabelle höchstens ein Augenrollen entlockt hätte, wenn sie zugehört hätte. Stattdessen rasten ihre Gedanken, weil sie auf einmal keinen Schimmer hatte, was sie überhaupt sagen sollte. Wie sollte–

Es spielte keine Rolle, was Isabelle hatte sagen wollen. Jace drehte das Kinn und das Gold seiner gelassenen Iriden nahm ihre Mimik zur Kenntnis. Und entgleisten sofort zu einer finsteren Eislandschaft. „Isabelle", murmelte er und warf den Stamm achtlos zu Boden. Sein Gesicht drängte sich in ihr nahes Sichtfeld, ehe sie blinzeln konnte. „Was ist los?"

„Es ist Clary", antwortete Isabelle sofort, weil sie die Direkte ihrer Gruppe war und die Dinge nicht hinauszögerte oder schönredete. „Es ist der Parabatai-Bund. Etwas stimmt nicht mit ihr."

oOo

--- 8 Stunden vor Sonnenuntergang. ---

War es das? Würde der alles entscheidende Kampf doch nicht erst heute Abend stattfinden, sondern hier und jetzt? Würde das Schicksal der Nephilim sich in den nächsten Minuten bereits entscheiden?

Ja!, rief eine Stimme in meinem Kopf und mein Trommelfell vibrierte in Reaktion. Das ist es! Das hier ist es!

Ich hatte aufgehört, davonzulaufen. Wir waren weit genug vom Hauptturm entfernt und ich benötigte meine Kräfte für den nächsten und letzten Schritt meines Plans.

Töte den Dämon! Ich hatte das Gefühl, dass es nicht mehr meine innere Stimme war, die es forderte. Es war der Himmel persönlich. All die Leben, die dem Dämon und meinem Vater zum Opfer gefallen waren.

Ich tänzelte wirbelnd um seine Klinge herum. Schnell wie ein Blitz, wild wie ein Sturm, präzise wie der Morgenstern. Unsere Schwerter barsten aufeinander wie Donnerschläge. Bis ins Mark erschütternd schien es, als würde die Erde unter unseren Füßen erbeben. Dabei befanden wir uns immer noch oben auf einem Dach, abseits der Enge der vergabelten Wege und Gassen Alicantes.

Jedes Versteckspiel wäre dank der inbrünstigen Schreie des Dämons ohnehin zwecklos gewesen. Sie hatten uns längst gefunden. Und während der Himmel mit jedem Schwerthieb unter glühendem Funkensprühen etwas mehr einzubrechen schien, ignorierte ich die Rufe der Nephilim und Schattenwesen.

Der Dämon saugte jeden Tropfen meiner Konzentration in sich hinein, lieferte mir kein Entrinnen. Ich wollte es nicht anders. Die Choreografie Valentins längst hinter uns gelassen, balancierten wir über unbekanntes Terrain der Kampfkunst. Die Fairness auf dem Turm zurückgelassen, hielt uns nichts mehr davon ab, in die Tiefen unserer fehlenden Moralität abzugleiten und die schwersten und abartigsten Geschütze herauszukramen, die wir zu bieten hatten.

Das hier war kein ehrvoller Kampf, denn wir kämpften nicht um Ehre. Ich kämpfte um Leben und Tod und der Dämon kämpfte um Herrschaft und Verlust. Ein Kampf ohne Menschlichkeit zwischen einem seelenlosen Monster und einer Kriegerin, deren Menschlichkeit alles war, war ihr geblieben war.

Mit der Hand eines blutrünstigen Mörders, der die Kontrolle verloren hatte, hackte sein höllenschwarzer Dolch durch mein Fleisch. Jeder Einstich schmeckte wie Säure auf meiner Zunge, roch nach Versagen in meiner Nase, fühlte sich nach Rache an. Seine Rache, nicht meine.

Mein Blut verfärbte die Schattenjägermontur nicht. Schwarz wie die Nacht, der Hölle zum Trotze, würden sich Nephilim ihre Schwächen niemals auf diese Weise preisgeben.

Doch das Blut des Dämons verfärbte seine Montur, denn nichts war so endlos schwarz wie das Blut, welches in seinen Adern floss. Und sobald Eosphoros ihm die oberste Hautschicht aufschlitzte, als würde ich ihn häuten, verwandelte sich unsere Welt in ein finsteres Abbild ihrer Selbst. Eine Welt, die eine Gesichte von Familie und Liebe und Zerstörung erzählte. Von einer einst heilen Vergangenheit, durch das Böse im Menschen verbrannt zu Asche wie es nicht einmal dieser Dämon zu tun vermochte.

Niemand kam mir zur Hilfe, um den Dämon aufzuhalten. Niemand half, den Kampf zwischen Licht und Dunkel auszugleichen. Niemand wagte es, einzugreifen in ein Vorgehen, welches dem Schicksal des jüngsten Gerichts zum Verwechseln ähnlichsah. Tag und Nacht, Gold und Schwarz, Engel und Dämon.

Erst als ich mich unter einer Attacke hinwegduckte, die mir nicht nur den Kopf abgeschlagen sondern ihn sicher hunderte Meter weit weg befördert hätte, dämmerte mir, dass man mich gar nicht im Stich gelassen hatte. Nein, ganz im Gegenteil. In jede Himmelsrichtung um unser Dach – ein Plateau, welches mich an die Dächer in New York erinnerte – herrschte der heiße Rausch des Kampfes. Ohne mein Bemerken war der Krieg ausgebrochen, der doch erst nach Sonnenuntergang hatte beginnen sollen.

Da die Sonne noch hoch am Himmel stand und uns ihr Licht fast anklagend entgegenschleuderte, waren es keine Dämonen. Es war nicht der Krieg, den ich vorhergesehen und erwartet hatte. Nephilim kämpften gegen Nephilim und Schattenwesen. Das hier war Verrat und ich musste den Anhängern der Kohorte nicht in die Gesichter schauen, um sie als solche zu erkennen. Ein Verrat aus Verzweiflung heraus, weil sie wussten, dass sie diesen Kampf nicht überleben würden.

Und doch umkreisten Valentins Verbündete unser Dach, schirmten uns ab vom Rest der Stadt und hielten Nephilim und Schattenwesen gleichermaßen davon ab, mir zur Hilfe zu eilen. Denn sobald der Dämon fiel, würde auch Valentin fallen. Die Dämonentürme mussten fallen, wenn Valentin irgendeine Chance haben wollte, diesen Kampf für sich zu entscheiden. Ohne mit den Wimpern zu zucken opferten sie ihre Leben für Valentin; opferten ihre Zukunft für einen Mann, der ihr Opfer weder anerkennen noch wertzuschätzen wissen würde.

Das Adrenalin der Schlacht lag niederschmetternd wie ein schwüler Sommertag über der Szenerie. Seraphklingen trafen auf Eisen, Werwolfkrallen auf Silberdolche, Magiefunken auf Monturleder. Das Geschrei der Verwundeten hallte durch die Straßen, nur um Sekunden später gurgelnd zu verstummen. Denn heute gab es weder Gefangene noch Verwundete. Der Schwächere starb und genau das galt auch für mich und den Dämon.

Eher würde ich sterben als zuzulassen, dass irgendwer meiner Freunde ans Kreuz genagelt oder zu Asche verkohlt wurde. Dieser Horror würde keine Wirklichkeit werden. Nicht heute. Nicht jemals. Nicht unter meiner Aufsicht.

Dieser Kampf war aussichtslos und mit jeder Parade und jedem Versuch, seine Blockade zu durchbrechen, würde es mir bewusster. Der Dämon, egal wie überragend wir beide ihn eingeschätzt hatten, würde mich nicht in die Knie zwingen. All die Wochen, die ich in Furcht vor diesem Moment verbracht hatte, nur um herauszufinden, dass wir uns wahrhaftig auf Augenhöhe befanden. Denn ich würde ihm ebenso nicht den Garaus machen. Wir waren uns ebenbürtig; waren es immer schon gewesen. Dämonen- und Engelsblut hin oder her. Das gleiche Training, die gleichen Tränen, die gleichen Torturen flossen durch unsere Adern und kein Blut dieser oder jeder anderen Welt würde daran etwas ändern.

Blutüberströmt fixierten wir einander, schlichen wie Katzen auf Zehenspitze umeinander herum, suchten nach nichtexistenten Schwachstellen. Der Himmel donnerte vor Zorn, schien unter unserer Unfähigkeit förmlich zu zerreißen, rief mir zu, dass dies endlich ein Ende haben musste.

Die Stimmen kamen von überall her. Sie prasselten auf mich ein wie Eisgeschosse, riefen meinen Namen, schleuderten mir Befehle entgegen, erinnerten mich an meine Pflicht.

Bring zu Ende, was die Morgensterns begonnen haben.

Erst als die Fratze des Dämons sich hämisch verzog und seine blitzenden Zähne in einer Drohgebärde zum Vorschein kamen, erkannte ich, dass ich die Worte laut ausgesprochen haben musste. „Oder stirb bei dem Versuch. Du kannst deinem Schicksal nicht entrinnen."

Die Stimmen wurden lauter, dröhnend wie das Gewittern von Ithuriels Zorn. Mein Name. Wieder und wieder. Flehend. Verzweifelt. Auffordernd.

Bring es zu Ende!

Ein niemals verstummender Chor. Und doch war es auf einmal so leise, dass ich meinen rasselnden Atem vernehmen konnte. Das Blut des Dämons tropfte auf das Plateau und meine Augen folgten ihm, während meine Gedanken an einen völlig anderen Ort abdrifteten. Erkennend. Einsehend. Akzeptierend.

Meine Finger klammerten sich stärker um Eosphoros' Heft. Im Anbetracht meiner Gedanken flammte das Himmlische Feuer in Reaktion, seine Wärme wie ein letzter Energieschub – die Überwindung der letzten Hürde. Meine Augen schnellten zu denen des Dämons.

Zähnefletschend ließ er Phosphoros in einer Bewegung, geradeheraus dass es eine Falle sein musste, auf mich zusausen.

„Hast du schon einmal darüber nachgedacht, dass es nicht mein Schicksal ist, all das hier zu überleben, Bruder?", flüsterte ich, dass nur er die Worte hören konnte. Er. Jonathan. Etwas in der Reflektion seiner Pupillen leerte sich, als ich keinerlei Anstalten machte, seinem Hieb etwas entgegenzusetzen.

Die Morgensterns waren fallende Sterne; rasten der Erde entgegen wie Kometen, die alles in ihrem Weg zerstörten. Ich war ein Engel, fallend, aber nichtsdestotrotz ein Engel. Und mit der Standfestigkeit der Engel besiegelte ich mein Schicksal. Weil es immer schon so hatte enden sollen.

Phosphoros' Spitze durchschnitt meine Montur mit der Leichtigkeit eines Pfeils, der sich durch einen faulen Apfel bohrte. Jonathan bremste seine Waffe, ruderte plötzlich rückwärts, als hätte ihn der Blitz Gottes persönlich getroffen. Doch für Rückzug war es längst zu spät. Das hier bahnte sich schon seit Monaten an.

Das Morgensternschwert durchbohrte meinen Oberkörper innerhalb eines Muskelzuckens. Mit solcher Gewalt, dass ich meine Rippen brechen hörte, als es durch meinen Rücken wieder austrat. Von einem Moment auf den nächsten hörte sich die Erde auf, zu drehen, wurde plötzlich totenstill. Der heißgefürchtete Schmerz blieb aus. Kein einziger meiner Nerven reagierte, so als wäre alles in bester Ordnung. Die Reaktion meines Körpers verriet mir alles, was ich wissen musste.

Meine Knie gaben als erstes nach. Die Ränder meiner Sicht begannen zu flackern und eine Kälte, viel viel viel tiefer als die, die ich vor Monaten nach dem Dämonenstich gespürt hatte, nistete sich in meinem Magen ein.

Clary." Seine Stimme war kaum lauter als der Hauch eines Frühlingswindes und trug dennoch so viele Emotionen in sich, dass ich mich nicht an das letzte Mal erinnern konnte, den Klang so in Erinnerung zu haben. Keine Spur vom dämonischen Hass, den er mich in der vergangenen Stunde hatte spüren lassen.

Jonathans Arme fingen mich auf, umklammerten mich vorsichtig wie eine zerbrechliche Puppe, als er mich davon abhielt, zu Boden zu stürzen. Behutsam wie nur ein großer Bruder es konnte, setzte er mich auf dem blutverschmierten Steindach ab. Seine Gesichtsmuskeln waren getränkt in Horror, wie sein grausamster Albtraum, der gerade wahrwurde.

„Was hast du nur getan?", fragte er anklagend und zerrüttet zugleich. Seine Finger gruben sich in meine Montur und ich begann zu zittern. Mir war so unendlich kalt. Einzig das schwache Pulsieren des Himmlischen Feuers in Eosphoros' Schneide spendete mir noch etwas Wärme.

„Ich erfülle meine Pflicht", flüsterte ich und suchte Jonathans Augen, während er sich mit bebendem Kiefer über mich beugte. Das hier war nicht der Dämon. Das hier war er, mein Bruder. „Ich befreie uns von dieser Qual."

Ich steckte jeden letzten Funken meiner Lebensenergie in Eosphoros' Hieb. Jonathan zuckte nicht, als das zweite Morgensternschwert sein Ziel durchbohrte. Seine Augen blieben starr auf mich geheftet – sanft und melancholisch und reumütig. Ein im Lärm der Schlacht untergehendes Keuchen war alles, was ihm über die Lippen ging.

Und als wir beide im lichterlohen Schwall des Himmlischen Feuers unser Ende fanden, war Dankbarkeit die letzte Emotion, die sich auf den Zügen meines Bruders spiegelte.

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