Kapitel 86 - Collision Course
Kapitel 86 – Collision Course
--- Weniger als 1 Tag vor Beginn des Krieges. ---
Ich wäre nach hinten zurückgewichen, hätte ich mit dieser Wendung der Ereignisse gerechnet. Doch der ehrliche Schock auf Adams Gesicht ließ meine Muskeln gefrieren. Für einen Wimpernschlag stand ich einfach nur da und sah zu, wie er nachtvergeblich die Arme ausstreckte, um das Gleichgewicht zu halten. Taumelnd neigte sich sein langer Körper mir entgegen, ragte auf einmal über mir auf wie ein Turm neben einem Haus.
Wie aus weiter Ferne hörte ich, wie Jace meinen Namen rief. Keine Ahnung ob aus Warnung, Ärger oder Furcht. Das Adrenalin, welches plötzlich durch mich hindurchschoss, war vollkommen auf Adam fokussiert. Er traf mich mit voller Wucht und wir griffen beide gleichzeitig nach dem jeweils anderen – er um sich vor einem tieferen Sturz zu retten und ich, um sein Gewicht abzufangen. Meine Finger öffneten sich und ich hörte eher, als dass ich sah, wie mein Schwert in die Tiefe stürzte. Das hohe metallische Klirren, als es auf der Terrasse auftrat, klingelte mir in den Ohren.
Sobald das Rumpeln unserer Kollision durch meinen Körper vibrierte, wusste ich, dass er mich runterziehen würde. Adam war viel größer und schwerer als ich. Hier meine Kräfte aufzuwenden war somit ein bereits verlorener Kampf.
Reiner Instinkt ließ meinen Fuß einen Schritt zurückmachen. Da glitt ein anderer metallischer Ton durch die Nacht. Tiefer und durchdringender – wie eine Wand aus Adamant, die im Festzustand auseinandergerissen wurde. Und als der Boden von jetzt auf gleich unter mir nachgab, war ich es, die einen schrillen Schrei losließ. Nicht kalkuliert, das hier war definitiv nicht Teil meines Plans.
Mit dem Rücken voran prallte ich auf dem Dach auf und der Rückstoß schleuderte meinen Kopf gegen die letzte Reihe an Dachziegeln. Einen Moment sah ich Sterne – so hell, als stünde die Erde in Flammen. Dann rutschten unsere Körper ohne Vorwarnung zur Kante, von der Schräge und Schwerkraft abermals in Bewegung gesetzt. Ich wartete auf die Regenrinne, die uns hätte abfangen müssen; die uns wenigstens einige Zentimeter Spielraum gegeben hätte. Doch da war keine Regenrinne. Am Rande der Ziegel war ... nichts. Und noch während wir über das Dach hinweg schlitterten, konnte ich auf einmal das metallische Donnern zuordnen: Die Regenrinne hatte unter dem Gewicht und der Wucht unseres Aufpralls nachgegeben.
„Verdammte Scheiße", platzte es aus mir heraus und ich ließ Adam so hektisch los, als hätte ich mich verbrannt. „Halt dich fest!"
Adam, der praktisch auf mir lag, tat genau das. Die anderen schrien wie wild durcheinander, sodass ich kein Wort verstand. Unsere Körper verließen das Dach und ich streckte meine Arme verzweifelt nach den Ziegeln aus. Meine Fingernägel kratzten über den Ton und ich schüttelte mich, als eine Welle der Gänsehaut durch mich hindurchschoss. Es gelang mir, meine Hände um das Ende der Ziegel zu schließen, ehe die Schwerkraft uns vollkommen im Griff hatte.
Wir stürzten in die Tiefe und Adam brüllte, als er um mich herum zu zappeln begann. Wir waren noch nicht weit gefallen, als meine Schultern erneut auf Widerstand stießen, welcher sich hart und unnachgiebig in meinen oberen Rücken drückte. Definitiv nicht mehr das Dach.
„Die Regenrinne", keuchte Adam vor Erleichterung und sein Atem roch nach Scotch. Ich rümpfte die Nase.
„Kletter hoch", befahl ich einige Oktaven zu panisch. „Kletter hoch, sofort!"
Adam reckte den Kopf nach oben, weil wir jetzt halb am Dach herunter und halb auf der schwankenden, ausgerenkten Regenrinne hingen. Wer wusste schon, wie lange diese noch halten würde.
Ein angestrengter Laut entfuhr mir. Sein Gewicht zusätzlich zu meinem zu tragen war die reinste Qual. Und , obwohl die blöde Rinne ein Teil dessen abfing. Meine Finger bebten vor Anspannung und der aufkeimende Schweiß sorgte dafür, dass sie zunehmend feuchter wurden.
Adam schnappte strauchelnd nach Luft und löste einen seiner Arme um meine Schultern. Wenigstens verleitete der Alkohol ihn dazu, nicht zu viel nachzudenken, denn er tastete sofort nach den Ziegeln. Sobald er sie zu fassen bekam, schwang er sein rechtes Bein hoch und auf die Rinne. In einem verrenkten Manöver, welches die Rinne zum Wackeln brachte, hievte er sich hoch.
Gemurmel vom Dach sagte mir, dass mindestens eine Person in der kurzen Zeit hochgeklettert war. Oh, bitte lass es nicht Jace sein, war alles, was ich gerade denken konnte. Schließlich schlossen sich Finger um meine Handgelenke und ich wurde hochgezogen.
Natürlich war es Jace. Sein Arm schloss sich um meine Hüfte, entfernte mich von der Kante, bis mein Rücken vollständig auf den Ziegeln lag. Aber er ließ mich nicht los. Sein Halt um mich verstärkte sich und seine goldenen Augen fuhren nur Zentimeter von mir entfernt über mich hinweg – scannten mich nach Verletzungen. Zumindest hätte ich das getan, wenn er hier liegen würde.
„Du", brach es aus mir heraus, keuchend und außer Atem. Jace hob die Brauen, als seine freie Hand meine Wange umschloss. Einen Moment lang vergaß ich, weshalb ich ihm den ganzen Tag aus dem Weg gegangen war. Warum da immer noch diese Angst am Rande meines Bewusstseins brodelte. „Ich– Ich sehe dich doppelt." Ich hatte mir den Kopf wohl ziemlich heftig gestoßen.
Jace' blonde Brauen schossen noch höher und sofort hatte er seine Stele gezückt. Die Iratze an meinem Hals kühlte meine Muskeln sofort, entspannte meine Atmung, ließ den wilden Kopfschmerz verschwinden. Ebenso wie den wenigen Alkohol in meinem Blut. Die Reste der Euphorie lösten sich so abrupt in Luft auf wie platzende Seifenblasen. Alles, was zurückblieb, war die Angst.
Ich sog den Sauerstoff zitternd in meine Lungen und rappelte mich auf, ehe Jace protestieren konnte. Seine Finger verharrten an meiner Hüfte, der Ausdruck auf seinem Gesicht eine unschlüssige Maske. Da waren feine Risse, durch die ich hindurch spinksen konnte. Weshalb ich wusste, dass er mit mir reden wollte. Über mein Verschwinden, über unser Gespräch von gestern. Mein Herz sagte mir mehr als deutlich, dass ich dafür nicht bereit war. Also löste ich mich von ihm, sprang förmlich auf die Beine und ließ einen knienden Jace zurück.
„Danke", presste ich zwischen geschlossenem Kiefer hervor.
Als Jace meine Passivität wahrnahm, verschloss sich sein Gesicht vor mir. Die Kirsche auf der Sahnehaube meines Schmerzes. Ich zwang meine Augen fort von ihm – zum schweratmenden Adam, der von Isabelle behandelt wurde. Aber er zuckte vor ihr zurück, hob abwehrend die Arme und sah nicht so aus, als würde er kooperieren wollen. Da ich den gesamten Sturz abgefangen hatte, sah er nicht wirklich angeschlagen aus. Allein der Alkohol war bemerkbar.
„Ich will keine Iratze!", erklärte er Isabelle vehement.
„Lass ihn." Ich legte Isabelle meine Hand auf die Schulter, bevor sie mit ihm diskutieren konnte. Sie drehte den Kopf zu mir und als sich unsere Augen trafen, beugte ich mich an ihr Ohr und flüsterte, „Er will betrunken bleiben."
Verständnis huschte über ihre Züge und sie steckte nickend die Stele ein. Als sie wieder zu mir schaute, war ihr Schmollen in neuer Stärke zurück. „Wieso verpasse ich immer den ganzen Spaß?"
Seufzend strich ich mir meine Haare aus dem Gesicht, die nach diesem langen Tag wie ein Vogelnest aussehen mussten. „Weil vom Dach fallen ja auch so spaßig ist", erklärte ich knapp und deutete mit meinen Augäpfeln zu Jace, der nun Adam auf die Beine half.
„Oh." Isabelle tätschelte mir die Schulter. „Ihr solltet darüber–"
„Bitte nicht jetzt." Mein Blick verfolgte Adam und Jace, die die Schräge nebeneinander hochstiegen und dann Richtung Schornstein verschwanden. Sobald ich glaubte, sie seien außer Reichweite, fuhr ich fort. „Ich will nicht darüber reden. Ich muss irgendwie den Mut zusammenfinden, und den letzten Rest davon hat Jace' Iratze mir gerade genommen."
„Du bist idiotisch, wenn du dich vor seiner Reaktion fürchtest, Clary. Jace liebt dich! Alec sagt, dass er den ganzen Nachmittag schlecht gelaunt war und auch wenn er nichts verraten wollte, weiß ich genau, dass deine Präsenz ihm fehlt. Er hatte keine Ahnung, wo du den ganzen Tag gesteckt hast." Isabelle hakte sich bei mir ein und wir folgten den beiden mit bedächtigen Schritten.
„Ich weiß, dass er mich liebt." Es laut auszusprechen, verpasste mir prompt eine Gänsehaut. Meine Stiefel schlurften praktisch über die Ziegel. Der Scotch hatte ein Gefühlsvakuum hinterlassen, welches nun von der doppelten Ladung an Schwermut beansprucht wurde. „Was nichts daran ändert, dass er darüber nachdenkt, ob das mit uns Sinn macht."
„Ihr müsst euch aussprechen. Bevor ihr es vielleicht bereut", sagte Isabelle leise, bevor sie an der Fassade herunterkletterte.
Ich folgte ihr nicht sofort. Stattdessen starrte ich auf die leuchtende Stadt um mich herum, auf die funkelnden Dämonentürme und ließ den Wind durch mein Haar fahren. Langsam wurde es frisch ohne Mantel. Der Duft von warmem Essen drang in meine Nase und als ich mich suchend dem Garten zuwandte, entdeckte ich die ersten Gäste. Schattenjäger in unserem Alter, älter und jünger. Auch einige Schattenwesen. Magnus stach mit seinem grellen Paillettenoutfit selbst aus dieser Entfernung hervor. Alec und er waren in ein gelassenes, aber intensives Gespräch vertieft.
Bevor ihr es vielleicht bereut. Ein Gefühl der Beklommenheit schnürte sich um meine Kehle und erschwerte meinen Magen wie Steine. Fröstelnd rieb ich meine Hände gegeneinander. In der Einsamkeit des Daches und abseits der Lichterketten erlaubte ich es meinem Herzen, für einen Moment loszulassen.
Ein stockender Atemzug brach aus meiner Kehle empor, der einem Schluchzen ziemlich ähnlich klang. Ich weinte nicht, aber ich spürte, dass mein Körper sich nach einem Ablassventil sehnte. Nun wo der Alkohol aus meinem Blut verschwunden war, hatte ich zwar keine Lust, mich den Qualen des Scotches erneut auszusetzen, vermisste jedoch gleichzeitig das Hochgefühl.
Mehr und mehr Stimmen hallten vom Hintereingang des Grundstücks nahe den Stallungen herauf. Es wurde Zeit für mich, runterzusteigen. Ich konnte nicht ewig hier oben hocken und mich vor aller Augen verstecken. Der Abstieg war schnell geschafft. Keine Minute später kamen meine Füße in der trockenen Erde neben einem Blumenbeet auf und ich streckte erleichtert über einen geraden Untergrund die Beine durch.
Von Isabelle fehlte jede Spur. Wahrscheinlich war sie irgendwo in die Menge verschwunden. Adam stand einige Meter entfernt, den Rücken zu mir, am Rande der Terrasse und noch abseits der Schattenjäger. Mit seinem Gesicht dem Garten zugewandt konnte ich nur erraten, was in ihm vorging. Seine Beine waren in den Rasen gestemmt, aber er schien zögerlich ...
Ich trat aus den Schatten heraus und blieb auf Adams linken stehen, sagte jedoch nicht. Mein Blick glitt über den Garten und die Gäste hinweg, auf der Suche nach Jace. Er war einfach zu finden.
Jace stand am Rand des kleinen Waldes, am Ende des Gartens. Unterhalb einer flackernden Laterne, welche seine engelsgleichen Gesichtszüge verzerrte. Er lehnte gegen einen Baumstamm, die Arme wieder vor der Brust verschränkt. Sein teilnahmsloses Gesicht glich einer riesigen Werbetafel, die jeden davor warnte, sich ihm zu nähern. Seine Augen, dessen Gold man aus dieser Distanz gerade so ausmachen konnte, waren unmissverständlich auf mich geheftet und verfolgten jede meiner Regungen.
Die Leere in seinen Pupillen trieb mich über die Brücke, welche ich oben auf dem Dach nicht hatte überqueren wollen. Ich wusste, dass es nichts als ein Abwehrmechanismus war, wusste, dass er innerlich brodelte; dass er mich liebte.
Ich weiß nicht, ob das mit uns eine gute Idee ist. Die Worte rangen wie ein Schlaghammer durch meinen Kopf und die Welt verschwamm vor meinen Augen. Ein seltsames Schwindelgefühl jagte durch mich hindurch. Nicht wie im Alkoholrausch, wo es einem Nebel glich. Das hier fühlte sich mehr wie Klauen an, die mich von einer zur anderen Seite schubsten und brutal zu Fall bringen wollten.
Ich konnte meinen Blick nicht von Jace abwenden, der ebenso unnachgiebig auf mich starrte. Doch jetzt, da er merkte, dass seiner erwidert wurde, spannten seine Muskeln sich an. Er verzog die Lippen in einer Mimik, die ich nicht deuten konnte. Fast als würde er die Zähne fletschen, nur weniger intensiv, beinahe qualvoll.
„Clary?" Adams bestürzte Stimme drang an mein Ohr. „Clary, was ist denn los?"
Ich zuckte zurück, als Adam meinen Arm berührte und riss mich dabei von Jace' glühenden Augen fort. Tränen flossen über meine Wangen, die nun zu brennen begannen. In einer schnellen Fingerbewegung wischte ich sie fort. Ich wollte zu Jace zurückkehren, musste ihn sehen, musste diesen Gesichtsausdruck verstehen. Doch als meine hektischen Augen zu dem Baum zurückkehrten, fehlte von ihm jede Spur. Er hatte sich in Luft aufgelöst.
Das enttäuschte Herz in meiner Brust sank noch tiefer. Vielleicht hatte Isabelle unrecht. Vielleicht hatte Jace sich bereits emotional von mir distanziert. Vielleicht war es bereits zu spät.
„Clary?" Adam wedelte mit seiner Hand vor meinem Gesicht und seinem Ausdruck nach zu urteilen begann er, sich zunehmend Sorgen zu machen.
Ich schüttelte stumm den Kopf, wollte abwinken, als mehrere Personen hinter Adams Rücken auftauchten. Blinzelnd fokussierte ich meine Sicht und Adam musste die Veränderung auf meinen Zügen wahrnehmen, denn er drehte sich zur lachenden Menge um, die mir auf einmal weit entfernt vorkam.
„Na sieh mal einer an", höhnte eine männliche Stimme, das Gesicht in den Schatten einer Lichterkette gehüllt. Einen Moment stand er einfach nur da, zu beiden Seiten flankiert. Wie ein König umgeben von seiner Leibgarde. Mittellanges, schwarzes Haar fiel ihm bis zu den muskulösen Schultern. Trüge er nicht die typische Schattenjägermontur hätte ich ihn wegen seines bulligen Oberkörpers für einen Werwolf gehalten.
Er trat als erstes nach vorn und seine Begleiter nur Millisekunden im Verzug. Kaum einen Meter vor uns blieben sie in völliger Synchronisation stehen – im Halbkreis um uns aufgestellt wie ein Rudel, das seine Beute einkesselte. Als sie sich uns näherten, traten sie in den Kegel der nächstgelegenen Laterne, sodass Elbenlicht ihre Züge enthüllte.
Es handelte sich um drei junge Männer, die nicht viel älter sein konnten als wir selbst. Nur einer von ihnen trug Runenmale. Der lässigen Menschenkleidung der anderen beiden nach zu urteilen, mussten sie Schattenweltler sein. Keine Vampire, dafür fehlte ihnen die Blässe. Auch keine Hexenwesen, da ich nirgends ein Mal erkennen konnte. Also tatsächlich Wölfe? Angesichts ihrer unübersehbaren Einheit überraschte es mich.
„Adam Demonhunter." Diesmal sprach der Mann zu unserer Linken. Er spuckte den Nachnamen förmlich aus, als würde er seine Zunge beschmutzen. Dann ließ er seinen Kopf im Nacken kreisen. Eine Geste die ans Aufwärmen vor dem Training erinnerte. Nur dass er parallel seine Hände zu Fäusten ballte.
Meine Sinne wurden wachsamer. Wie von selbst verschoben sich meine Füße auf dem weichen Erdboden in eine Position, aus der ich sofort reagieren konnte. Es lag Gewalt in der Luft, die diese Drei atmeten; sie war spürbar wie ein physischer Gegenstand.
„Ich dachte schon, meine Sinne würden mich trügen, aber du bist es wirklich. Du bist tatsächlich hier", fuhr der Schattenjäger fort und neigte in einer präzisen Bewegung das Kinn, wie wenn er Adam näher betrachten wollte. Die Schärfe seiner dunklen Augen brachte meinen Atem zum Halten. Die Verachtung, mit der er Adam fixierte, brodelte wie ein Vulkan Sekunden vor dem Ausbruch.
„Kennen wir uns?", fragte Adam verwirrt.
„Das müssen wir gar nicht, Abschaum", knurrte nun der Dritte. Helle Kratzspuren übersäten seine bronzefarbene Haut von Kopf bis Fuß. Was auch immer ihm passiert war, sein linkes Auge hatte dabei unwiderruflich seine Fähigkeit verloren. „Es reicht, dass wir wissen, wem deine Loyalität gilt."
Als gäbe es ein stummes Signal, oder ein Wort der Warnung, stürzten sie sich gleichzeitig nach vorn; direkt auf Adam. Auf einmal ging alles ganz schnell. Wie wenn jemand auf den Zeitrafferknopf drückte. Für die ersten fünf Sekunden war ich zu geschockt, um überhaupt zu realisieren, was gerade passierte.
Der Schattenjäger packte Adams rechten Arm, während einer der Wölfe ihm so heftig ins Gesicht schlug, dass ich an Adams Stelle sofort ohnmächtig umgefallen wäre. Ein heftiges Zucken fuhr durch meinen Körper, als hätte mir jemand einen Stromschlag versetzt. Blut spritzte aus Adams Nase, die nun völlig verbeult auf seinem Gesicht saß. Ehe er auch nur einen Mucks von sich geben konnte, um irgendwen zu alarmieren, presste ihm der Dritte seine flache Hand auf den Mund. Dann schlugen sie nochmal zu. Wieder und wieder.
„Hey!" Der Schrei drängte sich brüllend aus meiner Kehle heraus. Ich hechtete nach vorn, holte aus und warf den Schattenjäger mit einem gezielten Schlag gegen den Kehlkopf zu Boden. Ein Röcheln entkam ihm, während er sich aufzurichten versuchte, aber ich trat ihm mit jedem Funken an Kraft ins Gesicht, die ich aufbringen konnte. Seine Nase gab ein schauderndes Knacken von sich als die Kuppe meines Stiefels mit ihr kollidierte.
Jemand packte mich von hinten und zerrte mich in die entgegengesetzte Richtung des Schattenjägers. Ich stemmte meine Füße in den Boden und versuchte herumzuwirbeln. Riesige, kalte Hände umklammerten meine Oberarme, als wären sie nichts als dünne Stöcke. Sie drückten sich so eng um meine Haut, als würden sie mir die Knochen brechen wollen.
Rechts von mir konnte ich Adam stöhnen hören. Ein Seitenblick in seine Richtung verriet mir, dass er sich von dem Werwolf loszureißen versuchte. Sie rangen miteinander um die Oberhand und für den Bruchteil einer Sekunde musste ich zurück an eine unserer früheren Trainingssessions denken, als ich ihm im Ringen gegenübergestanden hatte. Um meinen eigenen Angreifer hinter mir ausmachen zu können, drehte ich den Kopf um neunzig Grad. Ich hob meinen Schuh, winkelte mein Bein an und trat ihm mit so viel Schwung zwischen die Beine, wie ich in meiner eingeengten Lage ausholen konnte.
Sein Griff lockerte sich genug, um mich auf den Boden fallenzulassen. Einen Atemzug später stand ich ihm bereits Angesicht zu Angesicht gegenüber. Ohne eine Waffe hatte ich gegen einen Mann seiner Statur keine Chance. Was mich nicht davon abhielt, ihn herauszufordern. Nicht, indem ich ihn angriff. Alles, was ich tat, war, defensiv die Arme zu heben.
„Lasst ihn in–" Die Haare in meinem Rücken stellten sich auf, ehe ich den Schattenjäger heranschleichen hörte. Instinktiv sank ich in ein Ducken und wollte zur Seite ausweichen, aber Adam stolperte mir in den Weg. Wir prallten gegeneinander und in der folgenden Verwirrung gelang es dem Schattenjäger, einen Dolch zu ziehen und ihn mir an die Kehle zu pressen.
So langsam, dass es mir wie Minuten vorkam, hob ich meine Arme in die Höhe. Ein Zeichen, dass ich unbewaffnet war und keinen Ärger wollte. Was natürlich nicht mit meiner bisherigen Agenda zusammenpasste, aber was sonst sollte ich tun?
„Vielleicht bist du dem Rat doch nicht so loyal gesinnt wie man seit neustem erzählt, wenn du ihn so vehement verteidigst", zischte der Schattenjäger an meinem Ohr.
Mich interessierten seine Worte ebenso wenig wie seine Loyalität. Im Kopf malte ich mir bereits einen Plan zurecht, wie ich ihm den Dolch abnehmen würde, ohne dass er seine Hand überhaupt bewegte. Ich war gerade im Inbegriff, genau dies zu tun, als aus den Schatten zwischen Anwesen und Garten plötzlich eine ziemlich angepisste Stimme zu uns herüberdrang.
„Vielleicht solltest du die Finger von meiner Freundin lassen, wenn du deinen Kopf behalten willst", knurrte Jace, der mit gespielter Gelassenheit auf uns zu spazierte. Doch der Ausdruck in seinen Augen triefte vor Mordlust und nicht in hundert Jahren wollte ich Empfänger dieses Blickes sein.
Der Schattenjäger, wer auch immer er war, versteifte sich hinter mir. Eine Tatsache, die ich fast als Beleidigung empfand, weil die Leute diese Art von Reaktion für gewöhnlich für mich aufbewahrten. Jace war mir in vielen Bereichen ebenbürtig, in anderen sogar überlegen, aber besser als ich war er nicht. Zumindest was das Gefecht anging.
War das der Stolz, der an mir nagte? Die Arroganz meiner Erziehung? Was war es, was mich störte? Ein Teil von mir wollte mein Manöver fortsetzen, wollte sich von selbst von diesem Idioten befreien, der dachte, dass ein Messer an meiner Kehle mich stoppen könnte. Ein anderer Teil wollte sehen, was Jace als nächstes tun würde. Die Tatsache, dass er mich vor ihnen allen seine Freundin genannt hatte, war daran nicht ganz unschuldig.
Jace wusste ganz genau, dass ich mich selbst befreien konnte. Er wirkte nicht verängstigt oder besorgt, sondern einzig und allein wütend.
Meine Augen fuhren an Jace' Körper herunter, blieben an seiner rechten Hand hängen. Sie war in den Schatten seines Mantels verborgen, sodass man sie kaum ausmachen konnte. Mit genügend Aufmerksamkeit wäre es dem Schattenjäger aufgefallen; dann hätte er das Zucken genau dieser Hand bemerkt. Seine Wurfhand. Dies waren die Details, die einem im Eifer des Kampfes das Leben retten konnten.
Ich duckte mich eine Sekunde, ehe Jace seine Hand hervorschnellen ließ. Die empfindliche Haut meiner Kehle schrammte an der scharfen Klinge entlang, aber der Schattenjäger zuckte bereits in Reaktion auf Jace' Handlung. Ich hörte den Dolch durch die Luft zischen, konnte etwas Silbernes aus dem Augenwinkel aufblitzen sehen. Aber ich hatte mich bereits unter dem Arm des Schattenjägers hindurchgezwängt, dessen Zwiespalt mich wahrhaftig mit seinem eigenen Messer zu schneiden oder dem anderen Messer auszuweichen ihn kostbare Atemzüge kostete.
Im Endeffekt wich er zur Seite aus, mir hinterher. Meine Stiefel wirbelten Erde auf als ich wieder zu ihm herumsprang und ihn mit einem Schlag in die Magengrube direkt in Jace' wartende Arme stieß. Einen Wimpernschlag später hatte Jace ihn in den Schwitzkasten genommen und ihn bewegungsunfähig gemacht.
„An deiner Stelle würde ich loslassen", murmelte Jace an seinem Ohr. Der Dolch fiel dem Schattenjäger aus der Hand.
Da Jace ihn unter Kontrolle hatte, fischte ich das Messer aus dem Dreck und eilte zu Adam und dem anderen Wolf herüber. Anstelle ihm mit einer aufgeschlitzten Kehle zu drohen, setzte ich die Spitze der Klinge direkt an seine Halswirbelsäule. Seine prankenhafte, blutverschmierte Hand verharrte augenblicklich in der Luft. Viel mehr brauchte es nicht, um ihn von Adam runterzubekommen. Ich schob mich zwischen die beiden. Nun, mit einer Waffe in meinen Fingern, hatte der Wolf seinen Vorteil verloren. Es schien, als wäre ihm dieser Gedanke auch gekommen, denn er schritt langsam fort von uns. Herüber zu dem anderen Wolf, der seine Attacke als Erster aufgegeben hatte.
Jace löste seinen starken Oberarm vom Hals des Schattenjägers und schubste ihn in Richtung seiner Begleiter. „Zeit zu verschwinden", knurrte er und schlich leise wie eine Katze aber angriffsbereit wie ein Löwe zu mir herüber. Er drehte den Dolch in seiner Hand, als wäre er nichts als ein altes Spielzeug – vertraut genug, dass er nicht einmal hinschauen musste, denn sein Fokus lag völlig auf den Dreien.
„Wir haben kein Problem mit euch", brachte der Schattenjäger keuchend hervor, während er sich aus der Erde aufrichtete. Der Werwolf, der bis eben noch Adam verprügelt hatte, legte ihm behutsam einen Arm um die Schulter. Wieder dieser Bund, der so untypisch für die Beziehung zwischen Schattenjägern und -weltlern war, dass ich mich beinahe neugierig vorbeugte. Seine onyxbraunen Iriden glitten über Jace und mich hinweg, blieben an Adam hängen und verdunkelten sich in Abscheu. „Er ist eine Gefahr für unsere neue Weltordnung. Er hat Schattenwesen ermordet und Landesverrat an den Nephilim begangen. Für diese Verbrechen müsste er sterben!"
„Die Inquisitorin hat seine Strafe bereits verkündet", erinnerte Jace ihn. „Selbstjustiz geht auch gegen unsere Werte."
„Du drehst dir die Welt auch so wie sie dir gefällt, oder nicht, Herondale?", spuckte der Wolf mit den vielen Narben ihm entgegen. „Tatsache ist, dass deine sogenannte Freundin Blake Ashdown ermordet hat, obwohl er wehrlos war. Wenn das keine Selbstjustiz ist, dann weiß ich auch nicht. Nicht dass ich es ihr nachtrage. Ich bin dankbar, dass dieser Pisser nicht mehr existiert."
„Dann habe ich wohl Glück, dass der Rat das als Selbstverteidigung gewertet hat, nicht wahr?", lachte ich humorlos. Meine Beine trugen mich wie von selbst näher zu ihnen heran. Unbehagen schlich sich auf die Züge des Schattenjägers. Er zuckte in den Armen des Werwolfs wie die Beute, die die Gefahr spürte, bevor sie auszumachen war. „Tatsache ist, dass Blake Ashdown", meine Stimme zitterte als ich seinen Namen aussprach, und nun wichen sie alle drei auf einmal vor mir zurück. „mich für Stunden aufgeschlitzt hat, ehe ich ihm die Kehle aufgeschlitzt habe. Stunden in denen ich wehrlos war. Und wisst ihr was? Wie ihr zu dritt auf einen wehrlosen, alkoholisierten Schattenjäger losgeht, erinnert mich ein bisschen zu sehr an Blakes Methoden. Also, wer ist nun der Böse hier?"
„Wir gehen jetzt", presste der Schattenjäger unter geschlossenen Lippen hervor. Sie traten den Rückzug an, ohne mich aus den Augen zu lassen. Als fürchteten sie, dass ich ihnen sonst hinterherjagen würde.
Erst als ihre Gestalten in Richtung Hintereingang verschwunden waren, kehrte ich der feiernden Menge den Rücken zu. Jace hockte bereits über Adam und hielt seine Stele in der Hand. Ich kniete mich neben sie in den Dreck und nahm das Resultat der vergangenen Minuten in Kenntnis. Adams Gesicht war blutüberströmt. Das Blut floss aus seiner gebrochenen Nase und aus hässlichen, schnittähnlichen Wunden. Sein Kiefer war zwar nicht gebrochen, aber deutlich angeschwollen. Das Grün seiner Augen war unter alldem kaum mehr sichtbar. Dort, wo kein Blut seine Haut versteckte, hatte sie rötliche, violette Farbtöne angenommen. Die Hämatome verformten seine Züge, verzerrten ihn zu jemand Fremdem. Hätte ich nicht gewusst, dass er es war, hätte ich ihn nicht erkannt.
Meine Finger bebten vor Zorn, als ich ihm die Haare aus der Stirn strich. Alles hieran – das Blut auf seinem Gesicht, das Blut auf meinen Fingerspitzen, die nackte kalte Erde, der Geruch von fernem Alkohol – warf mich in der Zeit zurück. „Das wird jetzt wehtun", murmelte ich so besänftigend wie ich aufbringen konnte. Meine Finger fuhren zu seiner krummen Nase und ein Schmerzenslaut barst aus ihm hervor. „Du musst stillhalten, Adam. Ich muss deine Nase richten, bevor Jace die Iratze aufträgt, sonst verheilt sie falsch."
Ich schaute zu Jace, der mich bereits beobachtete. Die Wut war der Ruhe des Gefechst gewichen und ich war dankbar darum. Er nickte mir einmal zu, dann legte ich behutsam meine Finger um Adams Nasenflügel. Sein Schrei wurde von Jace' Hand gedämpft, die er über seinen Mund drückte. Er windete sich wie ein erstickender Fisch als ich den gebrochenen Knochen ausrichtete. Er blinzelte gegen die Tränen an, aber ich zuckte nicht mit der Wimper. Er würde mir später dankbar sein. Meine Augen trafen Jace' in Bestätigung und er begann zu zeichnen.
Es war so schnell vorbei, dass Adams nächster gequälter Laut abbrach, eher er ihn ganz aus der Kehle gepresst hatte. Die Schnitte schlossen sich, die Blutergüsse ebbten ab, der Blutfluss stoppte, seine Nase heilte, der Alkoholnebel vor seinen Pupillen verschwand. Nur das bereits vergossene Blut blieb zurück. Und einige kaum wahrnehmbare Schatten auf seinem Gesicht, die bis morgen Geschichte sein würden.
Adam keuchte, hustete und richtete sich schließlich in eine Sitzposition auf. Jace und ich bewegten uns mit ihm. Für einen Moment sagte keiner von uns etwas, sondern starrten uns nur gegenseitig an. Bis Adams Blick an meinem hängen blieb. Er schien nach etwas zu suchen und ich war mir nicht sicher, was er fand. Letztendlich griff er nach meiner Hand. „Es tut mir leid", raunte er leise. Die Last der vergangenen Stunden, die Schuld, war in seinen Ton zurückgekehrt. „Du bist die Letzte, die mich vor sowas verteidigen sollte."
„Das hier ist gar nichts", bemerkte ich und versuchte, belustigt zu klingen. Ich löste seine Finger von meinen, kam auf die Beine und streckte ihm die Hand aus. Nachdenklich nahm er sie und hievte sich hoch. „Ich bin heute wegen dir fast in den Tod gestürzt. Für die Aktion oben müsstest du nach deinen Regeln eigentlich die ganze Flasche exen."
Ein halbes Schmunzeln fuhr Adams Mundwinkel entlang. „Ich schulde dir was."
„Worauf du wetten kannst", erwiderte ich mit einem Schnauben. Und plötzlich musste ich tatsächlich grinsen. „Mir fällt sogar eine Sache ein, mit der du jegliche Schuld begleichen könntest."
Adam hob erwartungsvoll die braunen Brauen und nickte eifrig, während er sich gleichzeitig Erde von den Klamotten klopfte. „Alles, was du willst."
„Der Samtsessel aus deinem Wohnzimmer", sagte ich in aller Seelenruhe. „Gib mir den Sessel und wir sind quitt."
Zuerst weiteten sich seine Augen vor Verblüffung. Als fürchtete er, mich falsch verstanden zu haben. Doch als er meinen Ernst wahrnahm, wuchs sein Schmunzeln. „Er gehört dir."
Wir schüttelten die Hand auf unser Geschäft und Adam begann zu lachen. „Hätte ich gewusst, dass du materialistisch bist, dann hätte ich das vielleicht schon vorher ausgenutzt."
Ich zuckte die Achseln. Bisher hatte ich nicht viel zum Leben gebraucht. Erst allmählich fing ich an, meinen Horizont zu erweitern; mir zu überlegen, was ich eigentlich alles wollte, abgesehen von Frieden. Das war wohl Isabelles Einfluss. „Geh ins Haus und wasch dein Gesicht, Adam. Das hier ist eine Party und kein Friedhof."
Adam verschwand mit einem Grinsen, auch wenn die Leere in seinen Augen immer noch sichtbar war. Von der so vorsichtig hergerichteten Fassade um seine Emotionen keine Spur mehr. Erst als er fort war, wurde mir bewusst, dass ich nun mit Jace allein war. Ich drehte mich zu ihm und erwartete halb, dass er verschwunden sein würde. Aber er stand noch genau an Ort und Stelle, die Stele immer noch in der Hand und sein nichts-preisgebender Blick auf mich gerichtet.
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Warum steht immer etwas in Jace' Weg zu Clary? Dieses Kapitel war pures Chaos. Wie hat es euch gefallen?
Skyllen :)
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