Kapitel 76 - Rune to Heaven's Gate

Kapitel 76 – Rune to Heaven's Gate

--- 2 Tage vor Beginn des Krieges. ---

Einige weitere Stunden Recherche später warf Isabelle das letzte Buch ihres nun vollendeten Stapels quer durch den Gang. Ich, die einige Minuten zuvor meine Hälfte der Liste beendet hatte und sie nun an ihre Stellen im Regal zurückstellen wollte, hörte das Buch nur wenige Meter an meinem Kopf vorbeifliegen. Wirbelnd fuhr ich herum und sah gerade noch, wie es mit der Kante voran auf dem Boden aufkam und sich dann mehrmals überschlug, bevor es liegen blieb. Der gewaltsame Aufprall hatte sichtlichen Schaden an dem Buch hinterlassen.

„Wenn Alandra Gladstone das jemals rausfindet, wird meine Familie nicht mehr dein größtes Problem sein", platzte es aus mir heraus, nur halb im Scherz.

Doch Isabelle beachtete mich gar nicht. „Diese verdammten Idioten", wütete sie und warf direkt das nächste Buch hinterher. Mit einem Krachen prallte es gegen das mir gegenüberstehende Regal und knallte dann mit dem Buchblock voran auf das Holzparkett. Meine Augen weiteten sich verstört, als sie eine Reihe von Flüchen losließ, die sie definitiv in der Unterwelt aufgefangen haben musste. „Allesamt Trottel. Wie kann man die Sagen rund um ein so wichtiges Kulturgut wie den Spiegel einfach vergessen?! Ist ja nicht so, als wären wir alle ohne ihn gar nicht hier! Ist ja nicht so, dass er eine maßgebliche Rolle bei Raziels Erscheinen gespielt hat! Aber nein, alles gut, lasst uns alle Geheimnisse rund um den Spiegel einfach vergessen, weil wir halt dumme, nichtsnutzige Vollidioten sind!"

Stumm räumte ich die restlichen Bücher in meinen Händen zurück an ihre Plätze und ließ mich dann Isabelle gegenüber am Tisch nieder. Seufzend massierte ich mir die Schläfen. All das Lesen hatte mein Hirn zu Wackelpudding verwandelt und das, obwohl Lesen schon immer zu meinen täglichen Pflichten gezählt hatte. Kein Wunder also, dass Isabelles Kopf gerade einen Kurzschluss erlitt.

„Ich schwöre dir, Clary, wenn wir die Zeit hätten, dann würde ich dich persönlich dazu zwingen, eine Auferstehungsrune zu erschaffen. Nur um unsere vergangenen Anführer in ihrer Totenruhe zu stören. Einfach um sie zu schütteln, bis sie sich wünschen, wieder tot zu sein. Einfach weil sie Idioten sind und es nicht anders verdient haben."

Ich wunderte mich, ob sie sich eigentlich bewusst war, mit welcher Kraft sie auf das vor ihr liegende Buch einschlug. „Dann haben sie wohl Glück, dass die Nephilim ihre Toten verbrennen. Einen Haufen Asche kann wahrscheinlich nicht mal eine meiner Runen zum Leben erwecken."

Isabelles finstere Pupillen loderten anklagend. „Bist du nicht diejenige, die sich genauso aufregen sollte? Wo kommt diese Entspannung plötzlich her?"

Ich zuckte leicht mit den Schultern und zog ihr den Bücherstapel unter den Armen weg, bevor sie diese auch noch herumwerfen oder anderweitig beschädigen konnte. „Ich habe mich schon nach Jonathans Besuch bei Imogen an das Versagen gewöhnt. Da die Chance, hier etwas zu finden, sowieso nicht hoch war, habe ich meine Erwartungen gar nicht erst hochgeschraubt."

„Kein Wunder, dass wir versagen, wenn du sowieso an nichts anderes glaubst! Man kann nur Ziele erreichen, die man für möglich hält", sagte sie vorwurfsvoll.

Doch ich hörte ihr nur noch halb zu. Grübelnd senkte ich den Blick und starrte auf die Bücher zwischen meinen Fingern, ohne sie wirklich zu sehen. Nur um unsere vergangenen Anführer in ihrer Totenruhe zu stören. Isabelles Worte hatten etwas in mir angerregt, wie ein aus dem Nichts auftauchendes Verlangen, welches einfach nicht verschwinden wollte, egal wie sehr man es aus seinem Verstand schieben wollte. Eine Idee die die Haut unter meinen Fingernägeln zum Jucken brachte.

„Was wäre, wenn wir die Toten zwar nicht wiedererwecken, sie aber besuchen könnten?", hauchte ich in eine von Isabelles Atempausen und ihre anschwellende Tirade blieb ihr im Hals stecken. Über den Tisch hinweg trafen sich unsere Augen, ihre sprachlos geweitet, als wäre sie nur halb imstande meinen Worten zu folgen.

„Du meinst ... du willst eine Rune erschaffen, die uns ins Jenseits befördert?" Ihre Stimme war wieder in die Höhe geschnellt, diesmal jedoch in einer Mischung aus Panik und Bewunderung.

„Ithuriel hat meine Seele schon mal in den Himmel gerufen. Vielleicht gelingt es mir, die gleiche Kraft heraufzubeschwören. Ich bin mir nicht sicher, ob wir wirklich mit unseren Vorfahren sprechen können. Dafür habe ich beim letzten Mal nicht genug Informationen sammeln können. Aber irgendjemand wird dort sein müssen, um uns in Empfang zu nehmen."

„Das klingt so verdammt beängstigend und cool zugleich." Isabelle sprang auf die Füße und bedeutete mir mit einer abgehackten Handbewegung, ihr zu folgen. Schnell wie ein aufbrausender Sturm rauschte sie durch die Gänge zwischen den Bücherregalen, jede Faser ihres Körpers vor Adrenalin aufgeladen. Sie hielt erst als wir die halbe Bibliothek durchquert hatten.

Wir befanden uns im äußersten Abschnitt der Bibliothek. Vor uns lag eine verwaiste Ecke, die aussah, als wäre hier lange niemand mehr gewesen. Auf der linken Seite verlief ein langes, letztes Bücherregal, auf der Rechten die massive, hellgraue Marmorwand des Gebäudes. Die Decken waren so hoch, dass die Fenster mehrere Meter über dem Boden eingesetzt worden waren. So wie das Licht fiel, lag dieser Teil in den Schatten der Sonne. Einige Elbenlichter zierten die kunstvoll verzierte Wand in regelmäßigen Abschnitten. Dieser Winkel musste sich genau auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs befinden und somit weit genug weg von Alandra Gladstones üblichem Territorium.

Ich wollte gerade fragen, was Isabelle vorhatte, als sie mich in der Ecke stehenließ und einige Dutzend Meter den Gang runterlief. Vor einem dekorativen Wandteppich blieb sie stehen. Er zeigte nichts Besonderes, nicht mehr als einige Runen, die in dunklen Goldtönen in den bordeauxroten Hintergrund eingearbeitet waren. Isabelle zuckte nicht mit der Wimper, als sie den Teppich grob von der Wand riss. Ein überraschter Laut platzte aus mir heraus, aber sie hatte sich bereits wieder umgedreht und steuerte mit einem selbstzufriedenen Grinsen auf mich zu.

Falls Alandra Gladstone uns hierbei erwischte, würden definitiv Köpfe rollen.

„Komm schon", rief sie über ihre Schulter hinweg als sie an mir vorbeilief und den Teppich ohne weiteres in der Ecke auf den Boden warf. Sie kickte ihre Stiefel fort und setzte sich in den Schneidersitz, ihr erwartungsvoller Blick auf mich geheftet. „Der Himmel wartet zwar ewig auf uns, aber warum sie warten lassen?"

„Du meinst ..." Mir stockte der Atem. „Ich soll es hier machen?"

Isabelle nickte aufgeregt und winkte mich abermals zu sich. „Du kreierst die Rune, trägst sie mir auf und dann dir selbst. Und dann gehen wir auf Geistersuche."

Missbilligend schnalzte ich mit der Zunge. „Ich habe keine Ahnung, ob das funktionieren wird, das ist dir klar oder? Vielleicht funktioniert es auch gar nicht. Vielleicht tötet uns die Rune und wir landen zwar im Himmel, aber dann für immer. Bist du darauf vorbereitet?"

Isabelle zuckte die Achseln und warf dramatisch ihre Hände gen Himmel. „Ob wir nun heute oder in drei Tagen sterben, macht ja wohl keinen so großen Unterschied. Und jetzt haben wir noch die Chance, unser Schicksal zu verändern. In drei Tagen wird es zu spät sein, wenn wir bis dahin keine Ergebnisse haben."

Ich ließ mir Zeit damit, meine Schuhe auszuziehen und mich neben sie auf dem breiten Teppich niederzulassen. Insgeheim raste mein Puls. Die Innenseiten meiner Hände schwitzten bei dem Gedanken, dass ich uns irgendwie in den Himmel befördern sollte. Ich hatte doch gerade erst gelernt, meine Gabe zu benutzen. Klar, sie hatte die letzten beiden Male funktioniert, als ich mir eine neue Rune ausgedacht hatte. Aber unsere Seelen vom Körper zu trennen, sie ins verdammte Jenseits zu schicken und uns danach unversehrt zurück in unseren Körper zu bekommen, erschien mir wie sehr viel für eine einzelne Rune.

Sobald ich auf dem Teppich saß, kramte ich meine Stele hervor. Wie bei jeder Berührung jagte der Kontakt ein angenehmes Kribbeln durch meinen Körper. Wie bei einem Gerät, das man an den Strom anschloss, gingen in meinem Inneren von jetzt auf gleich die Lichter an. Als würde sich mein volles Bewusstsein erst jetzt hochfahren, erst jetzt entfalten, wo ich meiner Kraft so nah war.

Meine Sinne schienen klarer als noch wenige Momente zuvor und so konnte ich Isabelle nicht nur neben mir atmen hören oder ihre Wärme spüren – ich konnte wahrnehmen, wie die Spannung in ihr hochsprudelte und sie dazu ansetzte, etwas zu sagen. Ich hob meine Hand und die elektrisierte Atmosphäre verkühlte.

„Ich werde jetzt anfangen", sagte ich mit rauer Stimme. „Eine Rune solchen Ausmaßes wird mich sehr viel Konzentration und Energie kosten. Bleib am besten so ruhig wie möglich neben mir sitzen." Sanft griff ich nach ihrem Arm und platzierte ihn so auf meinem Knie, dass ich auch mit geschlossenen Augen problemlos danach greifen konnte.

Unsere Gesichter begutachteten einander ein letztes Mal. „Viel Glück", hauchte Isabelle, drückte kurz meine Hand und verfiel dann in eine statuenähnliche Starre.

Meine Lider flatterten zu. Finsternis hüllte mich ein. Die pulsierende Energie in meiner Mitte erwachte aus ihrem Schlaf als ich mein Bewusstsein tiefer in meinen Körper abgleiten ließ. Sie winkte mir zu, griff nach mir, lud mich ein.

Sobald ich durch die Tür war, rückten meine fünf Sinne in den Hintergrund meiner Wahrnehmung. Oder mein Geist war einfach so tief in den See meiner Kraft abgetaucht, dass die Kontrolle meines Körpers in weiter Ferne, über der Oberfläche, schlummerte und in Automatik wechselte. Ein wenig wie ein Traum, nur dass ich hier unten alles glasklar wahrnehmen konnte.

Ich lehnte mich über das Loch, welches sich vor mir öffnete wie die Knospe einer Blume, die ihren Reifeprozess im Zeitraffer durchlief. Die Dunkelheit verschwand so abrupt, dass es sich anfühlte, als wäre sie nie da gewesen. Das gleißende Licht der Kraft strahlte mir entgegen, umarmte mich mit ihrer Wärme. Ich ließ mich fallen.

Die Bilder ließen sich wie von selbst heraufbeschwören.

Die endlose Wiese. Die endlose Treppe. Das Gefühl von Frieden. Ithuriels glorreiche Gestalt unter dem Baum.

Schick uns hoch, befahl ich. Schick uns dorthin zurück, wo alles angefangen hat.

Isabelles Körper. So ausgeblichen und durchsichtig wie mein eigener. Irgendwie dort, aber nicht wirklich.

Gib uns die Zeit, die wir brauchen. Keine Unendlichkeit. Keine Endgültigkeit.

Das Schlagen von Federschwingen. Der tiefe Bass von Stimmen. Der klingende Sopran von Gelächter.

Trenne Seele und Körper. Verbinde sie erneut, wenn die Zeit abläuft.

Das Licht umgab jeden Zentimeter meiner Wahrnehmung. Als befände ich mich im Mittelpunkt der Sonne. Als könnte ich ein Leben lang fallen, ohne ihr zu entkommen. Doch dann tauchte etwas am Horizont meiner Perspektive auf, zog sich wie ein kaum merklicher Schatten im Hochsommer über meine geschlossenen Augenlider. Ich streckte die Hand danach aus, bevor es von dem Licht ausgeblichen werden konnte.

Die Rune war schwach. So schwach, dass sie kaum sichtbar war. So schwach, dass ich nicht nach ihr hätte greifen sollen.

Meine Hand bewegte sich und ich durchbrach die Oberfläche mit solch einem rasendem Druck, dass sie gefroren hätte sein können. Meine Finger legten sich wie Klauen um Isabelles Arm. Ob sie wollte oder nicht, sie konnte sich dem hier nicht mehr entziehen. Die Stele hätte auch genauso gut ein Messer sein können, welches ihre Haut aufschlitzte.

Isabelle schrie. Doch einmal begonnen, konnte ich nicht stoppen. Es gab kein Zurück.

Erst als ich an mir selbst Hand anlegte, begriff ich, welche Gewalten ich in Gang setzte. Das Geräusch, welches quälend über meine Zunge kratzte, zehrte von meiner Kraft. So gierig. So hungrig.

Und dann war es vorüber. Die Rune war vollendet und jede Wahrnehmung, jeder Sinneseindruck, jedes Empfinden verließ mich.

Nein. Ich verließ sie.

Der Ruck, der durch mich hindurchschnitt, riss mich entzwei, spaltete mich in meinem Kern, öffnete eine klaffende Wunde. Zu tief, als dass irgendeine irdische Heilung etwas hätte retten können. Der Schmerz, der bei einem so fatalen Ereignis hätte omnipräsent sein müssen, fehlte vollkommen.

Als ich die Augen aufschlug, war ich tot. 


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Hi Leute,

das mit dem normal updaten hat irgendwie nicht so geklappt wie ich es mir vorgestellt habe. Mittlerweile bin ich schon in Kroatien und hatte Probleme mit meinem Laptop; es war alles etwas chaotisch. 

Wie hat euch das Kapitel gefallen? Clary hat auf jeden Fall einen Plan. Wird der gut ausgehen oder habt ihr Sorge? 

Bis nächste Woche

Skyllen :)

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