Kapitel 71 - A Promised World

Kapitel 71 – A Promised World

--- 3 Tage vor Beginn des Krieges. ---

Ein Klopfen weckte mich. Als ich nicht sofort reagierte, klopfte es erneut. Ein Dröhnen so stark, dass es meine Holztür einzureißen drohte. Ich drehte mich im Bett herum, ein Bett in dem allein ich lag, und blickte durch mein Zimmer.

„Herein."

Die Tür öffnete sich und ihr Mahagoni knackte in der Bewegung. Eine hohe, muskulöse Gestalt mit kurzem, blondem Haar betrat meinen Raum und das Licht meiner Kerze warf unheimliche Schatten auf ihr Gesicht. Sie machte sich nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Sie ließ sie unbeirrt offen stehen und kam mit zielstrebigen Schritten auf mich zu. Wenige Meter vor meiner Bettkannte blieb sie stehen und mein Herz schoss mir in die Höhe, als ich den Weißstich in den Haaren erkannte. Meine Augen fuhren herab zu ihrem Gesicht und nun, wo sie im Licht stand, war es vergleichsweise simpel, ihn zu erkennen.

Jonathan lächelte überschwänglich auf mich herab. Sein übliches, scharfes Lächeln, welches zwar die positiven Emotionen eines Menschen trug, sie jedoch durch seine fehlende Seele nicht glaubhaft übermitteln konnte, sodass jede Regung von ihm stets wie eine aufgesetzte, uneinstudierte Maske rüberkam.

„Hallo, Schwester", begrüßte Jonathan mich. „Ich hoffe, ich störe nicht."

Anstatt ihm zu antworten, ließ ich meinen Blick über seinen Körper schweifen. Er trug eine gepanzerte Rüstung, definitiv für den Kampf bestimmt, und die schwarze Schattenjägermontur darunter. Die einzige Waffe an seinem Waffengurt war Phosphoros, die Partnerklinge zu meinem Schwert. Vom Schwert der Engel keine Spur.

„Du hast den Kampf verpasst", bemerkte er enttäuscht und erst jetzt registrierte ich, dass er von oben bis unten mit Blut überzogen war. Das bereits ausgetrocknete Sekret wandelte das polierte Silber seiner Rüstung in ein mattiertes Braunrot. Selbst Phosphoros triefte vor Blut, welches von seiner Schneide auf meinen Teppich tropfte und tief in die Fasern des dicken Stoffes eindrang.

Da erst drangen seine Worte zu mir durch. Du hast den Kampf verpasst. „Der Krieg beginnt erst in vier Tagen."

Jonathan legte verwirrt seine Stirn in Falten. „Die fünftägige Frist, die Vater euch gegeben hat, ist heute Abend ausgelaufen. Vater hat sich Raziel gestellt und seinen Wunsch eingefordert. Wir haben die Stadt mit unseren Dämonen dem Erdboden gleichgemacht. Alicante liegt in unserer Hand, ebenso wie alle Nephilim, die überlebt haben. Sie sind unserer Gnade ausgeliefert. Wir haben schon längst gewonnen."

Heiße, siedende Panik erfasste mich und ich sprang unter der Daunendecke hervor, schwankte einige Meter in Jonathans Richtung, bevor meine Beine sich an mein plötzliches Gewicht gewöhnt hatten. „Was ist mit meinen Freunden? Wo sind Jace und Isabelle und die Lightwoods? Was habt ihr mit all den Schattenwesen gemacht?"

Ein finsteres, fanatisches Lächeln legte sich über Jonathans Gesichtszüge. „Ich habe dir gesagt, dass wir mit unseren Dämonen in der Überzahl sein würden. Die Schattenwesen hatten keinen Platz in unserer Welt. Wir haben das mit ihnen gemacht, was der Rat schon längst hätte tun müssen."

Ein Schwindel erfasste mich, so heftig und umwerfend, dass ich mich am hölzernen Pfeiler meines Bettes festhalten musste, um nicht vornüberzukippen. Ich dachte an Luke. An Magnus. An all die Vampire und Werwölfe, mit denen ich trainiert hatte, um sie genau auf diesen Ernstfall vorzubereiten. „Sie sind tot?"

„Sie alle", bestätigte Jonathan.

Eine Synapse in meinem Kopf machte kurzen Prozess. Ich stürzte auf ihn zu, die gebündelte Wut wie Benzin für meine Kräftereserven. Jonathan drehte sich zur Seite weg und ich folgte ihm. Meine Finger bohrten sich in ihn, dort wo die Rüstung seine Montur freilegte. Ich versuchte ihn zu schütteln, meine Nägel tief in seine Haut zu drücken.

Sein Körper war hart wie Stein, als wäre er kein Wesen aus Fleisch und Blut. Mit einem gewaltsamen Ruck hatte er mich von sich gestoßen – so heftig, dass ich rückwärts taumelte und gegen meinen Nachttisch stieß. Meine Vision geriet ins Straucheln, drehte sich, als ich mit dem Hinterkopf gegen die Kante des Spiegels knallte.

Jonathans Züge verwandelten sich und die menschliche Maske war mit einem Mal wie weggefegt. Eine Fratze blitzte mir entgegen, die den Mund bestialisch öffnete und ein gänsehautbereitendes Lachen ausspuckte. Dann rannte er auf mich zu, ergriff in einer impulsiven Bewegung meinen Arm und zerrte mich zurück auf die Füße. Sein Gesicht war meinem so nah, dass ich mich dem Schwarz seiner Augen direkt gegenübersah.

Das hier war nicht Jonathan. Das hier war nicht einmal mehr die Hülle meines Bruders. Das hier war ein Dämon, der in einer grotesken Gestalt steckte, die menschlich wirken sollte, mir stattdessen aber jegliche Haare aufstellte.

„Jetzt gegen mich zu kämpfen ist sinnlos." Die Worte aus seinem Mund waren ein einziges Fauchen, welches dem eines Tieres gleichkam. „Du wirst den Rest deines Lebens an meiner Seite verbringen, also sollte ich dir diese Welt zeigen, die wir erschaffen haben."

Mein Zimmer verschwand ohne Vorwarnung vor meinen Augen. Den Bruchteil einer Sekunde lang umhüllte uns eine so tiefe Finsternis, dass ich die Präsenz des Dämons neben mir nur ausmachen konnte, weil er seine Klauen immer noch um meinen Unterarm gekrallt hatte. Dann standen wir plötzlich auf den weiten Feldern vor den Stadttoren. Von dem Schnee war so weit mein Auge reichte kaum etwas übrig.

Die sonst grünen Weiten waren vollständig abgebrannt. Graue Asche und verbrannte Erde war alles, was mir kilometerweit ins Auge fiel. Selbst die vereinzelten Bäume waren kohlschwarz und bis auf den letzten Funken Holz versengt worden. Die bilderbuchschöne Natur von Idris ausgelöscht. Und meine Sicht ging nicht einmal weit genug, um zu sagen, wie viel Land tatsächlich vernichtet worden war.

Ich drehte mich fort von diesem herzzerreißenden Anblick, um dem Dämon gegenüberzutreten. Nur um mich wie durch einen Schlag in den Magen zusammenzukrümmen. Meine Hände schossen hoch und legten sich schützend um meine Mitte, wie wenn das ausreichen würde, um mich vor dem zu bewahren, was sich vor mir auftat.

Die Körper befanden sich überall. In jeder Form, in jedem Alter, in jeder Statur. In Gruppen übereinandergestapelt oder vereinzelnd lagen sie herum. Farblos, reglos, leblos. Schattenwesen.

Es war ein Massaker. Blutig und grauenhaft und eigentlich nicht in Sprache zu fassen. Auf so grausame Weise massakriert, dass mir keine Worte einfielen, wie man die Wunden hätte beschreiben können. Alles, was meine Sinne noch in der Lage waren, aufzunehmen, waren abgetrennte Gliedmaßen, entzweite Körper, verbrannte Schemen, herausgerissene Innereien. Egal wohin ich schaute, wohin ich mit meinen Blicken fliehen wollte, es gab kein Entkommen vor dem, was sich hier ereignet hatte. Man hatte sie so achtlos auf dem Schlachtfeld liegengelassen, dass sofort deutlich wurde, wie wenig Respekt man vor ihren Leben hatte. Nämlich gar keinen.

Sie alle, hatte er auf die Frage geantwortet, wie viele der Schattenwesen sie ermordet hatten. Was bedeutete, dass irgendwo in dieser Menge auch Luke und Magnus lagen. Nur der Gedanke, was sie ihnen angetan haben könnten, trieb mir die Tränen in die Augen.

„Wir waren gründlich, als wir die Welt von diesem Abschaum befreit haben." Der Dämon klang zufrieden mit sich selbst. War er sich denn nicht bewusst, dass er selbst nur zur Hälfte Schattenjäger war? Wenn überhaupt noch Engelsblut durch diese Adern floss.

Ich wollte mir die Augen herauskratzten und mein Gehirn gleich mit, um diese Bilder für alle Zeit vergessen zu können. Ich wollte schreien und mich übergeben und sie töten.

Stattdessen weitete sich das hämische Grinsen auf seinem Gesicht bei meinem Anblick. Er schnippte mit dem Finger und die Felder verschwanden.

Einen Herzschlag später befanden wir uns auf dem Platz des Erzengels und somit innerhalb von Alicante. Nur dass dieser Ort noch weniger mit dem Bild in meiner Erinnerung gemein hatte als das Flachland vor den Grenzen der Stadt.

Rauchschwaden finster wie eine sternlose Nacht verfärbten den Himmel und blockierten das Sonnenlicht. Eine Menge der Gebäude rund um den Platz waren zerstört oder in sich zusammengefallen – einige brannten immer noch. Die Abkommenshalle hatte man dem Erdboden vollkommen gleichgemacht, kein einziger Stein von ihr stand mehr an ihrem rechtmäßigen Fleck. Doch nichts davon erregte meine Aufmerksamkeit.

Auch hier hatte man sich keine Mühe gemacht, die gefallenen Krieger wegzuräumen. Nur dass hier hauptsächlich Nephilim herumlagen – ihre schwarzen, kurvigen Runen verrieten sie. Verglichen mit den Schattenwesen, mit denen sie Seite an Seite gestorben waren, hatte man diesen einen etwas gnädigeren Tod beschert. Keine Gräueltaten, keine Folter, nur der reine, schnelle Tod.

Die Menschenhaufen drückten meinen Magen zusammen, brachten mich in Schnappatmung. So viele Schattenjäger. Einfach so tot, wegen meiner Familie.

Vor den Ruinen der einstigen Abkommenshalle hatte man eine Reihe an Kreuzen aufgestellt. Aus Holz gefertigt und jeweils mindestens fünf Meter hoch. Mit einigem Abstand ragten sie nebeneinander in die Höhe.

An jedem der Kreuze hing ein Nephilim, ihre Gesichter blass, unförmig und fremd. Manche trugen Verletzungen aus der Schlacht, andere schienen vor ihrer Kreuzigung wohlauf gewesen zu sein. Blut sickerte aus den Wunden, durch die man sie an die Kreuze genagelt hatte. Ein Nagel für jede Hand und einer für die Füße.

Das hier war die neue Weltordnung, die mein Vater einberufen hatte.

„Wo sind Jace und Isabelle?", presste ich mühevoll hervor, ohne mich dabei zu übergeben. „Wo sind Alec und Imogen und die anderen Lightwoods?"

„Schau genauer hin, liebe Schwester", schnurrte der Dämon. Seine schlanken, knöchrigen Finger schlossen sich um mein Kinn und reckten es in die Höhe – positionierten mein Sichtfeld. Alles, was ich vor mir sah, waren die Ruinen der Halle und die Kreuze davor. Und von den Gekreuzigten kannte ich Raziel sei Dank niemanden–

Es war, wie wenn jemand einen Vorhang vor meinen Augen wegzog. Wie wenn jemand einen Zauberglanz Schicht um Schicht entfernte, sodass die Gesichter vor mir, die eben noch verschwommen und unbekannt gewirkt hatten, plötzlich an Schärfe gewannen und in den Fokus sprangen.

Ein Schrei kam mir über die Lippen. Ein Laut, der mir durch Mark und Bein ging und doch nicht genug war, um auszudrücken, was ich fühlte. Ein Schrei, dem ein weiterer folgte – dem eine ganze ungläubige, hysterische Reihe folgte. Der Schmerz fuhr durch mich hindurch wie ein Messer, mit dem man mich von der Kopfhaut bis zu den Fersen aufschlitzte.

Sie waren es, die dort gekreuzigt worden waren. Mein Geliebter, meine Freunde, meine Verbündeten. Jace, Isabelle, Adam, Alec, Maryse, Imogen. Sie alle waren tot und als Warnung für die noch lebenden Schattenjäger hier auf diese grausame Weise zur Schau gestellt worden.

Meine Knie gaben unter mir nach. Einen Moment später grub ich meine Finger in den eingeäscherten Boden und schrie meinen Schmerz in die Welt. Ein Schmerz, den keine Rune dieser Welt lindern konnte. Tränen quillten mir übers Gesicht – trotzdem konnte ich ihre Gesichter klar vor mir sehen. Mein Körper wurde von Schluchzern durchgeschüttelt und ich bekam zu wenig Luft, um anständig atmen zu können. Die Ränder meiner Sicht verblassten bereits, wurden dunkler.

Vielleicht war es besser so. Vielleicht war es besser, die Augen vor diesem Unheil zu verschließen. Auch wenn ich wusste, dass ich es mir für den Rest meines Lebens nicht verzeihen würde, nun weggeschaut zu haben. Das schuldete ich ihnen. Diesen Respekt hatten sie alle verdient.

„Das ist die Welt, die ich dir versprochen habe, Schwester."

oOo

Ich wollte Schreien und Schluchzen und aus dem Bett springen, doch meinen Lungen fehlte der Sauerstoff. Ich bekam nicht genügend Luft, als dass ich hätte nach Erlösung schreien können. Mein Brustkorb krampfte sich zusammen und drohte, mich unter einem unsichtbaren Gewicht zu zerdrücken.

Irgendwie gelang es mir, die Decke wegzuschieben. Meine Muskeln zappelten als ich mich gerade so auf die Seite drehen konnte. Hektisch streckte ich meine Finger aus und bekam unter einem Röcheln in meiner Kehle die Matratzenkante zu fassen. Mit aller Kraft zog ich mich vorwärts und katapultierte dabei über das Ziel hinaus. Der Schwung war so heftig, dass ich über das Ende des Bettes rollte und zu Boden stürzte.

Als mein Rücken auf den kühlen Boden prallte, wurde auch der letzte Hauch an Sauerstoff meinen Lungen entrissen. Für einen grausig langen Moment konnte ich nur mit vor Angst geweiteten Augen an die Decke starren, den Mund luftschnappend geöffnet. Wie ein Fisch an Land, der nur wirr umherzappeln konnte, um irgendwie wieder ins Wasser zu gelangen.

Der Stoß fuhr schmerzhaft durch meinen Körper, bis hinab in meine Zehen, und durchbrach die Barriere der Panik, die sich eng wie ein Galgen um meinen Hals gelegt hatte. Ein Keuchen kam mir über die Lippen, dann drückte ich meine Arme in den Boden und hievte mich in eine Sitzposition.

Der leichte Geruch von Wachs war längst vergangen. Alles, was ich roch, war heißer Schweiß und blanke Panik, die die Luft von mir fortdrückte.

Mein Herz klopfte wie verrückt – das wilde Pochen meines Pulses, das stürmische Rauschen des Blutes in meinen Ohren war alles, was ich hören konnte. Ich versuchte, einen tiefen Atemzug zu nehmen, doch der Aufprall ließ meinen Oberkörper zusammenzucken. Meine Beine waren nicht belastbar, dafür bebten sie zu stark. Also kroch ich auf allen vieren nach vorn, fort von meinem Bett und hob den Kopf.

Das Schlafzimmer drehte sich um mich herum. Wie bei einem Ritt auf einem verrückt gewordenen Pferd. Ich kniff die Lider zusammen und ein Schub der Furcht fuhr durch meine Glieder hindurch als ich das leere Bett in Augenschein zu nehmen versuchte. Meine schwankende Sicht reichte, um in Erfahrung zu bringen, dass Jace nicht hier war. In meiner letzten Erinnerung hatte er noch neben mir im Bett gelegen. Das schwache Licht, welches durch die geschlossenen Gardienen größtenteils zurückgeworfen wurde, ließ nur vermuten, wie viel Zeit seither vergangen sein konnte.

Jace war fort und doch hatte er versprochen zu bleiben.

In meinem Hirn blitzten die Bilder des Traumes auf und eine Gänsehaut raste meinen Körper herunter. Ich riss die Augen auf, um Jonathans Fratze und Jace' gekreuzigtem Körper zu entkommen. Ich zwang mich dazu, trotz der mich überfallenden Hektik langsam ein- und auszuatmen und die Züge zu zählen. Falls die Szenen aus meinem Traum Tatsachen werden sollten, dann durfte ich kein emotionales Wrack sein, ich durfte nicht schwächeln, durfte mich nicht von meinem Herz beherrschen lassen.

Meine Lippen zitterten als ich leise die Atemzüge zählte. Zehn, elf, zwölf. Nur ein Traum. Nur ein Traum. Nur ein Traum.

Plötzlich vernahm ich Schritte auf dem Gang. Mein Kopf schwankte automatisch in die Richtung der Tür, keine Sekunde zu spät. Es folgte kein Klopfen. Die Klinke wurde einfach nach unten gedrückt und nach innen geschoben. Eine dunkle Befürchtung machte sich in meinem Bauch breit und ich rechnete bereits mit einem weißblonden Haarschopf, der jede Sekunde in mein Zimmer marschieren würde – blutüberströmt und mit Phosphoros bewaffnet.

Als stattdessen ein goldblonder Kopf hinter der Tür zum Vorschein kam, war mein Hirn nicht sofort in der Lage, diese Abweichung zu begreifen.

Jace' Augen weiteten sich in Schock als er mich auf dem Boden kriechen sah. Das Wasserglas, welches er in seiner rechten Hand hielt, entglitt ihm mit einem zersplitternden Bersten, als er auf mich zugerast kam.

„Clary." Sein Ausruf ähnelte meinem eigenen Keuchen. Er warf sich neben mich auf den Boden und schlang einen seiner Arme unter meinen, um mich zu stabilisieren. Seine Fingernägel bohrten sich wie Nägel in meine Haut, um mich an Ort und Stelle zu halten. „Was ist los? Bist du verletzt?" Sein Kopf wippte hektisch hin und her, wohl auf der Suche nach der Gefahr, die mich immobilisiert hatte.

Mühsam schüttelte ich den Kopf und ballte meine zitternden Finger zu Fäusten. „Ich ..." Nicht einmal eine Wahrheitsrune wäre dazu in der Lage, mich dazu zu bringen, meinen Traum noch einmal in Worte zu fassen. Zu tief erschütterten mich die Bilder, die sich mein Unterbewusstsein zusammengesponnen hatte.

Meine Lippen waren geöffnet, aber ich war sprachlos. Eine Flut an Tränen drückte sich gegen die Innenseiten meiner Augenlider – zu viele, um sie zurückzuhalten. Ein kehliger, panischer Laut entkam mir, als ich nach irgendwelchen Worten suchte, um Jace zu beruhigen. Denn ein Blick in sein Gesicht, welches nur wenige Zentimeter über mir schwebte, machte deutlich, dass er beruhigt werden musste. Entsetzen brodelte in seinen goldenen Augen und meine Unfähigkeit, zu sprechen, ließ seine Züge in eine Landschaft der Hilflosigkeit abrutschen.

„Ich kriege keine Luft", brachte ich würgend hervor und hob meine Hand zu meinem Hals, falls er mich vor lauter Atemlosigkeit nicht verstehen konnte.

Doch Jace brauchte keinen zweiten Anstoß, bis er mich in seine Arme nahm und in einer eiligen Bewegung auf die Beine sprang. Einen schweren Atemzug später stürmten wir durch mein Zimmer. Alles, was ich sah, war Jace' Gesicht, dessen Aufmerksamkeit sich beharrlich und unbeirrt in einen Punkt außerhalb meiner Sicht brannte. Als er abrupt zum Stehen kam, verlagerte er mein Körpergewicht auf einen seiner Arme, bevor er mit dem anderen die Vorhänge vor dem Fenster so energisch zurückzog, dass sie von der Stange rissen. Mit einem metallischen Quietschen zwang er die Scheibe auf und setzte mich dann behutsam auf der Fensterbank ab.

Kalte Frühlingsluft wehte mir entgegen und drängte sich gegen die verschwitzten Poren auf meinem Gesicht, strich meinen feuchten Nacken entlang, bohrte sich kratzend einen Weg durch meine Atemwege. Ein erleichtertes Wimmern entsprang meinen Stimmbändern und ich reckte den Kopf in die Höhe, um mehr mehr mehr von dem Sauerstoff zu inhalieren.

Hier draußen gab es keine Spur von der Furcht, die der stickige Sauerstoff in meinem Zimmer um mein Herz geschlossen hatte. Das Aroma von feuchtem Rasen und frischem Brot liebkoste mich sanft aus der Ferne – vergegenwärtigte mir den Frieden, der noch in Alicante herrschte.

Für mehrere Minuten konnte ich nichts anderes tun als die Luft in tiefen, gierigen Zügen herunterzuschlingen. Die Laute aus meinem Mund sollten dem eines Ertrinkenden ähnlicher sein. Und tatsächlich hatte ich das Gefühl, zu ertrinken. Die Angst drückte sich wie ein Gewicht auf meine Brust, welches mich jeden Moment in die Tiefe zu ziehen drohte – außer Reichweite der Wasseroberfläche.

Langsam, als meine Lungen endlich wieder in einen normalen Rhythmus verfielen, in dem sich meine Brust hob und senkte, begann mein Gehirn aufzuarbeiten. Als meine Atemzüge endlich leiser wurden und das Pulsieren in meinen Ohren nicht mehr das einzige Geräusch war, welches ich wahrnahm, wandte ich mich Jace zu.

Jace hatte seine Arme um meinen Oberkörper geschlungen und hielt mich fest gegen seinen Oberkörper gedrückt, während ich mit der gesamten Länge meines Körpers auf der Fensterbank saß – er zu meiner Linken und die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages zu meiner Rechten.

„Du hast eine Panikattacke", flüsterte Jace in meinem Anflug, den Mund zu öffnen. Er hob den Arm, der sich um meinen Bauch geschlossen hatte, um mir das Haar aus der Stirn zu streichen. Erst als sein Daumen mir anschließend über meine Wangenknochen fuhren, um die Tränen fortzuwischen, realisierte ich, dass meine Sicht immer noch unscharf war.

„Ich ..." Meine Stimme wackelte. Wie wenn ich mich auf einem Seil in schwindelerregender Höhe befand, ohne ein Netz, das mich retten würde, falls ich einen falschen Schritt machte. Ich blinzelte und strich mir schließlich mit dem Handrücken über die Augen, um den Tränen ein Ende zu machen.

„Sag mir, was dir fehlt." Ein Flehen, kein Befehl. Als ich Jace dieses Mal anschaute, stand er klar vor mir und blickte voller Sorge auf mich herab. Sein eigenes Haar war zerzaust und die Ader an seinem Hals pochte in einem hektischen Takt. Seine engelsgleichen Augen spiegelten eine andere Form der Angst als meine wider.

Ein Wirrwarr an Gedanken verstopfte meinen Kopf. Es gelang mir nicht, sie zu ordnen. Ich konnte sie nicht kommunizieren. Selbst der Kälte gelang es nicht, Schmerz, Panik und Furcht zu betäuben.

Als ich nicht reagierte, griff Jace nach meinen bebenden Fingern, die sich im Saum meines Nachthemds festgekrallt hatten und rieb sie zwischen seinen. Die weißen Wölkchen unseres warmen Atems vermischten sich, während er sich zu mir herunterbeugte und seine Stirn seitlich gegen meine legte. Die Hitze, die von seinem breiten Körper ausging, umschloss mich wie ein sicherer Kokon. Seine Nähe fraß sich durch meine Kleidung, durch meine Haut, hinein in mein Blut.

Irgendwann, Minuten oder womöglich auch Stunden später, hatte sich der Nebel um meinen Geist so weit gelöst, dass es mir allmählich gelang, endlich wieder einen logischen Gedanken zu fassen. Jonathans Vision war nichts als ein Albtraum. Von meinen Ängsten und Jonathans Vorstellungen genährt, die er mir zwischen unseren wenigen Zusammenstößen mitgeteilt hatte. Nichts davon war real. Solange wir Valentin und ihn in diesem Krieg besiegten.

Die unsichtbaren Klauen, die sich um mein Herz krallten, ließen dennoch nicht locker. Dieser Traum war nur durch das Futter meines Unterbewusstseins entstanden. Und doch beruhte er auf einer Befürchtung, die auf Wahrheit beruhte.

Der Schwindel hatte sich verzogen als ich meinen Kopf ein zweites Mal hob. Diesmal nicht, um Jace zu begegnen, sondern um auf die wunderschöne Stadt hinauszuschauen, die auf meiner Rechten in ein glühendes Orange getaucht wurde. Eine Stadt, die bisher jeden übermenschlichen Konflikt überdauert hatte. Doch diesmal war es zum ersten Mal ein Nephilim, der diesen Frieden bedrohte.

Jace, den die anhaltende Stille beunruhigte, räusperte sich. „Wie oft hast du diese Panikattacken?"

Mein Blick war fest auf die ockerfarbenen Dächer Alicantes gerichtet, als ich endlich zu sprechen begann. „Das war die Erste", murmelte ich erstickt und Jace entließ einen angehaltenen Atem. Nagte es an ihm, dass er, falls es nicht die Erste gewesen wäre, nicht an meiner Seite gewesen war? Um mich so zu halten, wie er es jetzt tat?

Ich wollte ihn nicht länger auf die Folter spannen. Nun, wo ich endlich gesprochen hatte, fiel es mir leichter, die nächsten Worte in einem hektischen Herabrattern hervorzubringen. „Ich weiß nicht, wie ich Jonathan besiegen soll. Sein Tod ist notwendig, aber ich bin ihm nicht ebenbürtig. Im Kampf mögen wir uns vielleicht ebenbürtig sein, aber auf einen fairen Kampf zu hoffen wäre töricht. Wie soll ich ihn töten, wenn es ihm jedes Mal gelingt, mich hinterrücks zu überlisten? Bisher bin ich immer irgendwie davongekommen, aber das nächste Mal wird es kein Entkommen geben. Beim nächsten Mal wird die Welt auf dem Spiel stehen."

Für eine lange Zeit schwieg Jace. Ich drehte mich ihm nicht zu, um den Ausdruck auf seinem Gesicht zu bewerten. Ich wartete nicht darauf, dass er mir eine Lösung für mein Problem präsentierte. Wenn ich ehrlich mit mir selbst war, wusste ich gar nicht, worauf ich überhaupt wartete. „Dann kämpfen wir ab jetzt auch nicht mehr ehrenhaft", sagte er an meinem Ohr. Parallel streichelte eine seiner Hände mein Haar, entknotete die wirren Strähnen darin und drückte meinen Kopf so eng an seine Brust, wie wenn er mit mir verschmelzen wollte. „Dann überlegen wir uns Pläne, um ihn zu überlisten. Wir sind ihm überlegen. Wir können uns aufteilen."

„Dafür müssen wir erst zu ihm vordringen. Und das müssen wir so schnell wie möglich schaffen, weil es auf einen Kampf zwischen ihm und mir hinauslaufen wird. Das hat es schon immer." Die Kälte des kaum angebrochenen Morgens, die eben noch angenehm gewesen war, zerrte an meinem spärlichen Nachthemd. Meine Haut begann zu prickeln, wie wenn jemand dutzend kleinster Nadeln in sie hineindrücken würde. „Aber wir sind noch nicht so weit. Es gibt noch so viel, was fehlt."

„Und das wäre?"

„Du musst deine Kräfte erforschen und sie zu beherrschen lernen. Zum Beispiel."

„Natürlich geht es in deinen Kriegsplänen um mich. Wer sonst könnte die Welt retten, wenn nicht ich?" Jace drückte sich die Hand aufs Herz und grinste verschmitzt, während er eine theatralische Verbeugung andeutete.

„Genau", brachte ich murmelnd hervor. „Ohne dich wären wir alle verloren."

„Definitiv!" Jace hatte einen aufgesetzten, selbstverliebten Ton angenommen, der meine Mundwinkel wie von selbst anhob. Es blieb ihm nicht verborgen und er fuhr mit seinen Lippen an meinem Wangenknochen entlang, ganz eindeutig zufrieden mit seiner Ablenkung. „Sprich weiter. Was steht noch auf deiner To-Do Liste der Kriegsführung?"

Für einige Sekunden schloss ich die Lider und versuchte, mich in meinen Vater hineinzuversetzen. Was würde Valentin an meiner Stelle tun, um den Ausgang der Dinge in seinem Sinne zu sichern? „Wir müssen den Spiegel finden. Ohne ihn werden wir Valentin nicht daran hindern können, seinen Wunsch von Raziel einzufordern. Mit dem Spiegel steigt und fällt alles andere."

„Es gibt kaum Informationen zum Spiegel", gab Jace zu bedenken. „Nicht einmal die Stillen Brüder wissen, wo er sich befindet. Und allem Anschein nach hat dein Vater ihn bereits in seinen Besitz gebracht. Wäre es da nicht einfacher, ihn aufzuspüren und ihm diesen abzunehmen?"

„Irgendetwas sagt mir, dass es nicht so einfach ist." Nachdenklich glitt mein Blick über die Dächer von Alicante. „Trotzdem. Selbst dafür müssten wir wissen, wo Valentin sein wird. Und ich habe das Gefühl, dass er Jonathan die Schlacht allein schlagen lassen wird. Er wird sich völlig auf die Engelsinsignien konzentrieren."

„Aber wenn dem so ist, dann würde Jonathan ohne Mellartach in die Schlacht ziehen", bemerkte er verwundert.

„Es gibt so viele Variablen zu beachten, die wir nicht verstehen. Wir wissen nicht, ob sie die Insignien noch benutzen können, nachdem sie Raziels Beschwörung vollzogen haben. In der Ratsversammlung meinte Valentin, er würde erst den Wunsch von Raziel einfordern und dann angreifen. Entweder sie wissen mehr als wir oder sie lügen. Denn sonst werden sie damit warten, bis die Schlacht beginnt, um kein Risiko einzugehen. So viel kann ich mit Sicherheit sagen. Sein Wunsch der Erschaffung einer neuen Rasse von Schattenjägern ist an den Engelskelch gebunden. Aber da er Mellartach für die Dämonenarmee braucht, wäre es schlau, zuerst den Kampf zu beginnen."

„Sie getrennt zu schlagen ist einfacher", beharrte Jace, der mit seinen Gedanken voll bei der Sache war. „Zuerst müssen wir Valentin aufspüren und ihn aufhalten und danach Jonathan."

Ich nickte. „Das führt mich zum nächsten Punkt. Imogen wird den Rat einberufen. Noch heute. Ein richtiger Schlachtplan muss her, jeder braucht eine Aufgabe."

Jace' Augen blitzten beeindruckt. „Du bist wirklich gut. Sie hat tatsächlich vor einigen Stunden eine offizielle Ladung herausgegeben. Scheint so, als hätte sie letzte Nacht nicht viel geschlafen."

Meine Augen verengten sich zu Schlitzen, ohne dass ich sie aufhalten konnte. Ich spürte, wie die Furcht langsam zurück in meinen Körper kroch und mir eine Gänsehaut bereitete, während sie durch meine Adern glitt. „Es scheint mir, als wäre sie nicht die Einzige." Meine Stimme klang verletzlicher als ich preisgeben wollte. „Du hast versprochen, dass du da sein würdest. Wo warst du?" Der Hauch einer Frage.

Jace verzog gequält das Gesicht und beugte sich zu mir herab, um seinen Mund in einer deutlichen Geste auf meinen zu drücken. Seine Finger umfassten meine Wangen wie ein Käfig, sodass sich mir keine Ausweichmöglichkeit bot als ihn zu küssen. „Es tut mir leid", nuschelte er gegen meine Lippen, als er sich gerade genug von ihnen löste, damit ich überhaupt etwas verstand. „Du warst noch am Schlafen als ich aufgewacht bin. Ich war nicht lange weg, nur in der Küche, weil ich Durst hatte." Nachdem er die Worte laut ausgesprochen hatte, flog Erinnerung über seine Augen und er drehte den Kopf mit verzogenen Lippen fort von mir; in mein Zimmer. „Apropos. Ich werde gleich putzen müssen."

Eine Wahrnehmung drängte sich in den Vordergrund meines Hirns. Jace hatte ein Glas in der Hand gehalten, als er meinen Raum betreten hatte. Ich spähte an seinen breiten Schultern vorbei und entdeckte die Scherben auf dem Boden. „Ich helfe dir", sagte ich und er musste beiseitetreten, damit ich meine Beine über die Fensterbank schwingen konnte. „Und danach bereiten wir uns auf die Ratsversammlung vor."

Um zu verhindern, dass die Welt, die Jonathan mir versprochen hatte, jemals das Antlitz meiner eigenen erblicken würde.


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Lasst mich wissen, wie euch das Kapitel gefallen hat! Wenn ihr wissen wollt, wie ich mir die einzelnen Charaktere vorstelle, schaut gern bei meinem Pinterest vorbei. Mein Name dort ist ccskyllen. :)

Skyllen

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