Kapitel 70 - Regrets and Mournings
Song Inspiration: Let It Happen - Tame Impala (normale, slowed & Tiktok Version)
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Kapitel 70 – Regrets and Mournings
Auf der anderen Seite des Raumes hatten sich die Fronten verhärtet. Jace kniete weiter auf dem Boden, hatte aber mittlerweile den Kopf gehoben und verfolgte angestrengt, was sich vor ihm ereignete. Nachdem ich einen von ihnen gerade enthauptet hatte, waren von Jonathans Lakaien noch sechs übrig. Einige von ihnen hatten ihre Waffen gezückt, andere sahen eher so aus, als würden sie fliehen wollen.
Der metallische Gestank von Blut zog mir wie ein Fluch um die Nase. Er umgab uns alle wie eine immerwährende Erinnerung daran, dass wir alle Mörder waren, egal auf welcher Seite wir standen. Mit diesem Wissen drang er tief in meine Kleider, Haut und Haare ein, um mir den Magen mit jedem Atemzug umzudrehen.
Ich hatte Eosphoros innerhalb einer Sekunde vom Boden aufgehoben und stürzte mich ohne Vorwarnung nach vorn. Auf die gewissenlosen Verräter, die nicht das Recht haben sollten, Nephilim zu sein. Blakes Anhänger, die mich ebenfalls im Anwesen der Ashdowns gefoltert hätten, wenn sie die Chance dazu gehabt hätten. Meine Reserven des Mitleids waren schon lange versiegt. Und so schlug ich mich durch ihre Reihen hindurch, ohne Halt und ohne Zurückhaltung – gab ihnen genau das, was sie von einer Morgenstern erwarten sollten. Isabelle schloss sich mir an, kämpfte an meiner Seite. Imogen blieb bei Jace, um einen weiteren Hinterhalt zu verhindern.
Und als schließlich alle von ihnen tot oder davongelaufen waren, rannte ich zu Jace und warf mich neben ihm zu Boden. Auf den erkalteten Adamant, in das frischwarme Blut. Imogen war gerade im Begriff ihm eine Iratze aufzutragen, als ich meine flache Hand über den Schnitt an seiner Kehle presste, um die Blutung zu stoppen. Sie war nicht mehr stark, hätte ihn zu keinem Zeitpunkt umgebracht, und doch ließ sie die Galle vor Angst in mir hochsteigen.
Jace drehte den Kopf zu mir und als sich unsere Augen trafen schien es, als könnte er mir all den Schmerz ansehen, der durch mich hindurchraste. Trotz seines schwächelnden Zustandes streckte er die Arme nach mir aus und zog mich an seine Brust. Der brennende Geruch einer Stele hing in der Luft und während Jace' Finger über mein blutiges, verklebtes Haar fuhren, versiegte der Blutfluss unter meinen.
Die Iratze entfaltete ihre Wirkung und einen Atemzug später verstärkte sich der Halt um meinen Körper, so fest wie Jace mich gegen sich presste. Seine freie Hand grub sich in den Stoff an meiner Taille und ich spürte einen warmen Luftstoß an meiner Halsgrube, der seiner Nase entfloh als er sie gegen meine Haut streifte.
„Es tut mir leid", flüsterte ich in die brüllende Stille des Raumes. Ich hatte das Gefühl, als hätte sich eine Wand vor meine Ohren gelegt, die jedes Geräusch auf ein Minimum dämpfte. Doch ich brauchte diesen Sinn nicht, um die heißen Tränen in meinen Augenwinkeln zu spüren – wie sie meine Wangen herunterkullerten und dabei Jace' Haut erweichten.
„Es war die falsche Entscheidung", erwiderte Jace mit schwacher Stimme, konnte das erleichterte Beben seiner Muskeln jedoch nicht ausschalten. Erleichtert, weil er noch am Leben war. Dann lehnte er seinen Kopf zurück, um mir in die Augen zu schauen. In seinen goldenen Iriden tobte ein niederschmetternder Sturm, zersetzt von Qual und durchtränkt von Verständnis. „Aber ich hätte mich bei vertauschten Rollen genauso entschieden."
Ich hatte mich für Jace entschieden und dafür den Rest der Nephilim praktisch zum Tode verurteilt. Ich hatte Jonathan das Engelsschwert ausgehändigt, solange er Jace nur verschonte. Ich hatte ein Leben über so viele andere gestellt, weil ich ohne ihn nicht leben wollte. Konnte sicherlich. Aber ich wollte nicht. Nicht mehr.
Und in diesem fatalen Moment erkannte ich, wer genau ich tatsächlich war. Was ich war. Das Produkt meines Vaters. Nach seinem eigenen Abbild geformt. Ich war egoistisch und selbstsüchtig – genauso wie er. Denn Valentin hatte sich nie um den Kollateralschaden geschert, solange er bekam, was er wollte. Und nichts anderes hatte ich gerade getan. Unter dem Deckmantel meiner Gefühle hatte ich Jace gerettet und uns alle langfristig dem Untergang geweiht. Dabei waren meine Gefühle nichts anderes als Schwäche. Dieselbe Schwäche, die Valentin davon abgehalten hatte, Mellartach loszulassen, obwohl er infolgedessen seine Hand verlor.
„Ich habe uns alle getötet. Ich habe unser aller Schicksal besiegelt." Ich bereute meine Entscheidung nicht. Nein. Ich würde wieder Jace wählen. Wieder und immer wieder. Aber ich war nicht dumm genug, um zu wissen, was das bedeutete. Ich kannte die Konsequenzen und wusste, dass ich mit ihnen würde leben müssen.
„Es hat sich nichts verändert, Clary", bemerkte Isabelle mit solch einer Zurückhaltung, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Sie stand auf unserer Linken und blickte auf Jace und mich herab, wie wir beide im Blut so vieler toter Schattenjäger hockten. Ihre haselnussbraunen Augen waren getrübt von einer Gewissheit, die mir meine Nackenhaare aufstellte. „Wir stehen da, wo wir gestern vor der Ratsversammlung schon standen. Wir können deinen Vater immer noch schlagen."
„Isabelle hat recht", schaltete Imogen sich nun ein, aber auch ihre Stimme klang seltsam verfremdet. Als versuchten sie beide, mich zu trösten und die Wahrheit für mich zu verzerren. Auch wenn ich nicht begriff, weshalb sie es taten, denn meine Handlungen bedeuteten auch ihren Untergang. Die eisblau-umrahmten Pupillen der Inquisitorin waren auf Jace gerichtet als sie sprach – ihre Worte waren nur wenig lauter als ein Gemurmel, aber ihr Inhalt richtete sich allein an mich. „Noch ist nichts verloren."
Ich kam nicht umhin, ihre forschenden Blicke zu bemerken, die gleichermaßen über Jace und mich fuhren – wie sie versuchte, zu verstehen, was diese intime Umarmung zwischen uns zu bedeuten hatte. So wie gestern in der Ratsversammlung.
„Sie haben eine Dämonenarmee", entgegnete ich, ohne mich aus Jace' Armen zu befreien. Diese Nähe zu ihm bereitete mir keine Scham, ganz gleich ob Imogen unsere Verbindung für gut befinden würde oder nicht. Uns blieben noch vier Tage, bis das Verderben uns zerreißen würde und ich wollte jede Sekunde davon in Jace' Nähe verbringen, ganz gleich was sie sich dachte.
„Das ist ein Gespräch, welches es nicht jetzt zu führen gibt." Imogen schüttelte die Zurückhaltung von sich ab wie die verbrauchte Haut einer Schlange und alles, was zurückblieb, war neue Entschlossenheit. Sie sah aus, als würde sie jetzt sofort in die Schlacht ziehen und siegreich zurückkehren können. Und trotz ihres Alters, welches sich in den scharfen Falten und den grauen Haaren abzeichnete, glaubte ich daran, dass es ihr gelingen würde. Solange es jeder Gegner dieser Welt war außer Valentin.
Dann, entgegen jeder meiner Erwartungen, streckte die Inquisitorin mir ihre Hand entgegen. Ich zögerte eine Sekunde, bevor ich sie ergriff und sie mich mit all der Stärke auf die Beine hievte, die sich in ihren Zügen spiegelte. Für einen Moment verweilte sie in dieser Position: Ihre rauen, gezeichneten Finger um meine gelegt. Sie schaute mir ins Gesicht und mehrere Emotionen flackerten über ihr eigenes. Schließlich ließ sie mich los, schaute kurz zu Jace und wieder zurück zu mir. Die Entschlossenheit war einer Regung gewichen, von der ich nicht mal im Traum geglaubt hätte, sie je an mich gerichtet zu sehen. Respekt. Verzweifelter, dankbarer, erleichterter Respekt.
„Mir ist bewusst, dass es gegen meinen Eid verstößt, da mein Volk an erster Stelle kommen müsste. Danke, Clarissa. Danke, dass du meinen Jungen gerettet hast, auch wenn es uns den einzigen Vorteil in diesem Krieg gekostet hat. Ich bin froh, dass du es getan hast, denn andernfalls hätte ich mich selbst als Verräterin entlarven müssen."
Ich konnte nicht anders als die Inquisitorin mit offener Bestürzung anzustarren. Sie hatte bei Amtseintritt einen Schwur auf den Schutz ihrer Leute geleistet. Sie hatte auf den Erzengel geschworen. Und dennoch stand sie nun vor mir und gestand, dass sie genauso gehandelt hätte wie ich. Sie, die für die Einhaltung genau dieser Schwüre und Gesetze eingesetzt worden war. Wie ironisch, dass sie selbst kurz davor gewesen war, Malachis Beispiel zu folgen, ich sie dafür aber nicht verurteilen konnte. Anscheinend standen wir wohl doch auf derselben Seite.
Imogen musste etwas über meine Züge blitzen sehen, denn sie räusperte sich mit genügend Hochmut, als hätte es ihr Geständnis gerade nie gegeben. Sie entließ meine Finger, reckte das Kinn und scannte dann ihr zerrüttetes Büro. Das helle Blau ihrer Iriden wirkte noch trüber als sonst, wie wenn dieser Zusammenstoß mit Jonathan sie einige Jahre an Lebenskraft gekostet hätte. „Keine Sorge, ich bin keine Heuchlerin", sagte sie, als hätte sie jeden meiner Gedanken gelesen. „Ich werde von meinem Amt zurücktreten, falls wir diesen Krieg überleben. Doch für diesen Kampf werden die Nephilim mich an der Spitze noch brauchen. Danach ..." Sie verstummte allmählich und ließ ihren Blick zu Jace schweifen, der neben mir wankend auf die Füße kam. „Danach kann mir diese gesamte Politik gestohlen bleiben, solange dein Vater bekommt, was er verdient."
Oh ja, die Inquisitorin würde erst ruhen, wenn Valentin ein für alle Mal ruhte – und zwar nirgendwo anders als unter der Erde. Ihn zur Strecke zu bringen war ihre Lebensaufgabe. Damals wie heute. Und nach all dem Tod, den ich erlebt hatte oder dem ich gerade so von der Schippe gesprungen war, verstand ich, weshalb sie diese Jagd bis zum Ende fortsetzen würde. Sie wie ich hatten Menschen verloren, die uns alles bedeutet hatten. Wir waren beide zerfressen von Rache; sie um Welten tiefer als ich. Vielleicht war es ihr Alter. Oder weil ihr bis auf Jace niemand mehr geblieben war.
Doch dir ist niemand geblieben, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.
Wir waren uns ähnlicher als wir jemals zugeben würden. Ich konnte nur hoffen, dass ihr Schicksal mir erspart bleiben würde.
oOo
Ich lag bereits im Bett, die Lider schwer von der Last des vergangenen Tages, als es an der Tür klopfte. Ein kurzer Blick auf die Nachttischuhr verriet mir, dass es noch nicht allzu spät war. Aber der Kampf gegen Jonathan hatte mich so sehr ausgelaugt, dass ich nach der Rückkehr zum Anwesen der Lightwoods nur ein schnelles Bad genommen und mich dann sofort bettfertig gemacht hatte.
„Herein."
Die Holztür wurde unter einem Knarren aufgeschoben und ein goldener Haarschopf trat in das spärliche Licht der einzigen Kerze, die noch brannte und tanzende Schatten an die Wände warf. Sie füllte das Zimmer mit dem schwachen Aroma von schmelzendem Wachs. Einen Moment schaute Jace sich verwundert um, bis er meine Gestalt unter der Daunendecke ausmachte. Als unsere Augen sich kreuzten schien er ins Zögern zu geraten. In einer hektischen Bewegung drückte er die Tür ins Schloss, um sich anschließend mit dem Rücken gegen sie zu lehnen.
„Tut mir leid, mir war nicht bewusst, dass du schon schlafen könntest." Jace fuhr sich durch die Haare und ich wurde das Gefühl nicht los, dass er nervös war. Seine Füße blieben, wo sie waren. Aus der Entfernung konnte ich seine Züge durch das fade Licht kaum ausmachen.
„Ich habe noch nicht geschlafen", erwiderte ich und setzte mich etwas in den Kissen auf. „Alles in Ordnung?"
Er nickte, nur um in der Geste innezuhalten. Dann machte er einige Schritte in das Zimmer hinein. „Ich ..." Wieder zögerte er, was mich stutzig machte. Nun, wo er am Ende meines Bettes stand, konnte ich die kaum noch sichtbare Narbe an seiner Kehle erkennen, die silbern vom Kerzenlicht reflektiert wurde. Bis morgen früh würde sie vollends verschwunden sein.
Ein frustriertes Seufzen entkam Jace' Lippen und er schüttelte sich, wie wenn er mit der Überwindung brechen wollte. „Das heute war schon ... heftig", gestand er kleinlaut, als dürfte er als Schattenjäger solche Gefühle nicht haben. „Dort auf dem Boden zu hocken, die Klinge an meiner Kehle ... Ich dachte, ich würde sterben. Ich war fest davon überzeugt."
„Aber du lebst", entgegnete ich sanft und winkte ihn zu mir heran.
Jace kam um das Bett herum und ließ sich neben mich auf der Matratze nieder. Seine Finger wanderten automatisch zu meinen, streiften meine Haut und vergruben sich zwischen meinen Fingern. Für einen Augenblick lang starrte er auf unsere ineinander verschränkten Hände, bis er den Kopf hob und unsere Blicke sich trafen. „Ich dachte, ich würde sterben", wiederholte er ernst und drückte meine Hand so fest, als fürchtete er, mir sonst entrissen zu werden. „In diesen Minuten bin ich all die Dinge durchgegangen, die ich bisher noch nicht erlebt habe. Die ich eigentlich in meinem Leben noch erreichen wollte. Jetzt habe ich zwar überlebt, aber uns bleiben trotzdem nur noch vier Tage, bis wir dem Tod wieder ins Auge schauen müssen. Die Tatsache, dass mir die Zeit ausgeht, macht mir Angst."
Eine Vorahnung schlich sich in meinem Verstand an die Oberfläche. In der Furcht, mich durch falsche Fantasien doch zum Narren zu machen, stellte ich keine Schlüsse an. Stattdessen stimmte ich ihm zu. „Wir haben vier Tage, um einen Plan zu schmieden, der das Blatt wendet."
Jace nickte zwar zustimmend, schien sich darauf jedoch nicht zu fokussieren. „Mir bleiben nur noch vier Tage, um meine Liste an Dingen abzuarbeiten, die ich vor meinem Tod machen will. Und du bist auf dieser Liste." Ein verschmitztes Lächeln mit einer Spur der Nervosität ließ sein symmetrisches Gesicht aufleuchten. „Um genau zu sein, bist du ganz oben auf der Liste."
„Ich fühle mich geehrt", sagte ich und hielt mir eine Hand ans Herz, eine leichte Belustigung in meinem Ton. Doch schließlich wurde ich ernst. „Und was genau beinhaltet diese Liste?"
„Ich liebe dich, Clary." Jace sprach es so frei heraus, dass ich vor Überraschung beinahe aufsprang. Ich war mir nicht sicher, ob ich mich an den Klang dieser Worte jemals gewöhnen würde. Allem Anschein nach blieb ihm meine Reaktion nicht verborgen, denn das Schmunzeln auf seinem Mund wurde weicher. Aber unter der ehrlichen Freude konnte ich die nagende Furcht erkennen, die sein Herz seit seinem beinahigen Ableben im Griff hatte. „So sehr ich mir eine Zukunft mit dir wünsche, bin ich mir nicht sicher, ob der Erzengel uns diese Gelegenheit lassen wird. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit und ich will jede freie Minute von ihr mit dir verbringen."
Mir stockte der Atem, als ich seine Worte sacken ließ. Er hatte natürlich recht. Uns blieben sichere vier Tage und alles, was danach kam, würde sich nach dem Ausgang des Krieges wenden. Im schlimmsten Fall würde Jace tot und ich eine Gefangene meines Bruders sein. Ich würde den Rest meines Lebens ohne ihn auskommen müssen. Meinem Hirn gelang es nicht, dieses Bild vor meinem Geist heraufzubeschwören. Es schien abwegig und unmöglich, auch wenn es nichts als eine Abwehrreaktion meiner selbst war.
Als ich schließlich begriff, weshalb genau er so spät noch hergekommen war, löste ich unsere Hände und rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen. Jace beobachtete mich aus unergründlichen, goldenen Augen, bis ich mit der flachen Hand auf die leere Matratze zwischen uns klopfte. Mein Bett war groß genug für drei, perfekt für zwei.
Jace trug dasselbe Shirt, welches er getragen hatte, als ich die letzte Nacht bei ihm verbracht hatte. Letzte Nacht. Dieser Tag kam mir so lang vor, weshalb es ausgeschlossen erschien, dass ich die letzte Nacht in seinem Bett verbracht hatte. Doch genau so war es gewesen. Das Gespräch mit Adam war heute Morgen gewesen. Die Party, zu der Isabelle und ich eigentlich hatten gehen wollten, war wahrscheinlich noch in vollem Gange.
Jace zog die Decke zur Seite, die meinen Körper einhüllte und schlüpfte hinein in die Wärme, bevor er sie über uns beiden ausbreitete wie ein Schutzschild – wir gegen den Rest der Welt. Sein Körper roch nach frischem Shampoo und süßem Ahorn und katapultierte mich in eine Sphäre des Friedens, in der mein Herz endlich keinen Marathon laufen musste, um Schritt zu halten. Seine Finger strichen sanft wie eine Federberührung über meine Oberarme, kitzelten meine Sinne und brachten meine Wangen zum Glühen. Schließlich zog er mich näher zu sich heran, bis unsere Nasenspitzen sich streiften.
Einen Moment lang wagte ich es nicht zu atmen, dann schlang ich meine Arme um seinen Oberkörper und presste meine Wange gegen seine Halsbeuge – gegen die Stelle, an der die Klinge noch vor wenigen Stunden seine Haut zerfetzt hatte.
So zu liegen, einem anderen Menschen so nahe zu sein, war fremd und seltsam – und das beste aller Gefühle gleichermaßen. In all meinen Jahren auf dem Anwesen meines Vaters hatte ich nie auch nur daran gedacht, dass diese Nähe zu jemandem möglich wäre. Wir waren einzig für den Krieg ausgebildet worden, der am Horizont lungerte. Alles andere hatte für Valentin keine Rolle gespielt. Weshalb Jonathan auch nicht in der Lage war, meine Verbindung zu Jace überhaupt zu verstehen – weil er nichts dergleichen jemals selbst erfahren hatte.
„Ich dachte, ich würde sterben", murmelte Jace abermals in mein Haar und malte Kreise auf meinen Rücken. „Ich hatte solche Angst. Noch nie in meinem Leben habe ich mich so gefürchtet wie heute."
„Ich hatte auch Angst", gab ich in der Sicherheit der Dunkelheit zu und lauschte dem Blut, welches nun wieder stetig und rhythmisch durch seine Adern pulsierte. „Ich dachte, er würde dich umbringen. Ich wüsste nicht, was ich getan hätte, wenn er es durchgezogen hätte."
Er. Jonathan. Niemand sonst. Immer nur Jonathan.
„Ein Teil von mir wäre lieber gestorben, als ihm dieses verdammte Schwert in die Hände zu spielen." Ich wusste, dass er es ernst meinte. Mir war sein verzweifelter Blick nicht entgangen, als Jonathan Imogen vor die Wahl gestellt hatte. „Aber ein anderer Teil wollte leben. Als sie dich fortgezogen haben, wurde mir klar, was es bedeuten würde, ihm das Schwert nicht auszuhändigen."
„Ich wäre mit ihnen fertiggeworden", log ich. In den Sekunden nachdem Jonathan Jace die Kehle aufgeschlitzt hatte, war ich außer mir gewesen. Vollkommen hysterisch und nicht in der Lage, klar zu denken. Wie viele hätte ich tatsächlich töten können, bevor sie mich überwältigt hätten?
Jace überging meine Aussage und presste seine Stirn gegen meine. Das Kerzenlicht war gerade so genug, um seine hellen Iriden von den dunklen Pupillen abheben zu können. Die Furcht, die ich dort fand, war so real, dass ich fröstelte. „Dich wehrlos zu sehen, bringt mich jedes Mal wieder um den Verstand. Ich konnte nicht riskieren, dass sie dir etwas antun, nur weil ich ehrenvoll sterben wollte – auch wenn es mich zu einem Monster macht, weil ich dein Leben über das aller anderen stelle."
„Wenn du ein Monster bist, dann bin ich auch eins", erwiderte ich leise und senkte den Blick, ohne den Kopf zu bewegen. „Ich habe Jonathan das Engelsschwert übergeben. Ich habe uns alle verdammt, weil ich dich um jeden Preis retten wollte. Deine Großmutter genauso."
Zwei Finger fuhren hoch zu meinem Kinn und hielten es fest, sodass ich nicht zurückweichen konnte. Meine Augen sprangen schlagartig zurück zu Jace. Sein Ausdruck hatte sich verändert. Trauer hatte die Angst abgeschüttelt. „Dann sind wir wohl alle drei egoistische Monster", seufzte er und ich spürte, wie seine Erschöpfung auf mich abstrahlte.
Wir waren schon zu lange wach. Diese Woche war ein einziges Chaos gewesen. Vom Ball, über die Entführung, Blakes Tod, den Gerichtsprozess und Valentins Auftauchen bis hin zum Kampf gegen Jonathan und seine Schergen. Und dann waren da noch so viele kleine Dinge geschehen, wie die Nacht im Gefängnis oder die Aussprache mit Adam. Es war so viel passiert, dass es keineswegs alles in eine Woche passen sollte. Und doch tat es das – irgendwie. Und bis zum Ende des Krieges würde es damit nicht genug sein.
„Wir müssen es wieder geradebiegen." Eine Feststellung, die uns so viel Kraft kosten würde. Doch nichts Minderes würde ich tun. Ich würde jede freie Minute damit verbringen, mich auf den finalen Kampf gegen meine Familie vorzubereiten. „Wir müssen auf das vorbereitet sein, was uns in vier Tagen erwartet."
„Das werden wir." Jace klang zuversichtlich und schloss seine Augenlider. „Wir werden diesen Krieg gewinnen, Clary, und danach werden wir das hier erforschen."
Das hier erforschen. Es klang seltsam. „Du hast gesagt, dass du mich liebst." Ich verschluckte mich fast an den Worten und Jace schlug grinsend die Lider wieder auf. „Und ich ... ich habe dasselbe zu dir gesagt. Was bedeutet das nun? Bedeutet es überhaupt irgendwas? Haben diese Worte überhaupt einen Wert?"
Verwundert und leicht erschüttert riss Jace seine blonden Brauen in die Höhe, die Müdigkeit für den Moment verschwunden. „Und ob es etwas bedeutet", gab er mit solch einer Souveränität zurück, dass es anklagend klang. „Hast du gedacht, ich sage sowas zum Spaß? Dass ich dich zum Spaß küsse? Bedeutet es dir denn etwas?"
„Das tut es", antwortete ich prompt und unüberlegt. „Ich habe nicht mehr viele Menschen in meinem Leben, kaum jemanden, um genau zu sein. Ich ... ich habe bereits einmal geliebt. Eine falsche Liebe, die auf Unaufrichtigkeiten und Geheimnissen beruhte. Man hat mich einmal getäuscht, also werfe ich bestimmt nicht einfach mit ihr um mich. Ich war mir lange nicht sicher, ob ... ob ich diese Liebe überhaupt jemals wieder hergeben könnte. Ich bin, wer ich bin. Man hat mich so lange gehasst, dass ich mich schon fast damit abgefunden hatte, für den Rest meines Lebens allein zu sein. Also ja, dich zu lieben, bedeutet mir sehr viel. Aber das bedeutet nicht, dass ich nicht auch gleichzeitig Angst habe. Dass es zerbricht – schon wieder. Oder dass ich es einfach falsch deute. Sozialer Kontakt liegt mir nicht."
„Das, was wir haben, wird nicht zerbrechen", flüsterte Jace so eindringlich und selbstsicher, dass ich den Atem anhielt. „Ich werde immer hier für dich sein. An deiner Seite. Egal, ob uns der Erzengel persönlich auseinanderbringen will. Den Fehler, dich im Stich zu lassen, habe ich einmal gemacht und ich werde ihn bis zum Ende meines Lebens bereuen. Ich werde keine Geheimnisse vor dir haben, du wirst immer die sein, mit der ich meine teilen werde. Ich werde alles tun, um mich deiner Liebe würdig zu erweisen. Ich werde diesen Krieg gewinnen, weil es dafür nötig ist. Auch ich habe Ängste, aber solange wir zusammen sind, sind wir nicht zu schlagen."
Ich küsste ihn. Ein einzelner Kuss auf die Lippen. Tief und innig, im Versuch, ihm meine Dankbarkeit deutlich zu machen. Denn nichts hiervon war selbstverständlich. Wir hatten einen langen, steinigen Weg hinter uns. Es hätte alles ganz anders ablaufen können – so viel schlimmer. Sie könnten mich alle immer noch für eine Verräterin halten. Ich könnte immer noch eine Existenz in Einsamkeit führen, abseits dieser Gesellschaft und ohne Freunde. Doch irgendwie war es mir gelungen, das Blatt zu wenden. Wegen der wenigen Menschen wie Isabelle, die bereit gewesen waren, hinter die abschreckende Fassade zu blicken.
Jace erwiderte den Kuss ohne Eile und als wir auseinanderbrachen, löste er sich von meinem Körper, um sich auf den Rücken zu legen. Sein linker Arm ruhte weiter um meine Schultern, seine Finger ein schwacher Kontakt an meinem Ellbogen. Ich bettete meinen Kopf auf seinem Oberarm, während ich seinem Beispiel folgte und an die Decke starrte.
„Ich glaube ich habe noch nie etwas lieber gemacht, als einfach nur mit dir hier zu liegen." Jace' Flüstern fühlte sich wie eine warme Liebkosung meiner Haut an – weich und schwerelos, unsichtbar aber merklich. Seine Worte wie Pollen, die vom Winde verweht wurden und im Zuge dessen Blumen und Gräser mit schwebenden Berührungen streiften, sich jedoch niemals niederließen.
Vor nur etwas mehr als 24 Stunden hatte Jace mir das wahre Ausmaß seiner Gefühle gestanden. Und obwohl wir erst zum zweiten Mal so zusammenlagen, kam es mir bereits wie eine einstudierte, eingesessene Routine vor. Ich drehte meinen Kopf zentimeterweise in seine Richtung, um ihn zu betrachten. Im flackernden Kerzenschein wirkten seine Wimpern noch länger als sonst. Er hatte die Lider geschlossen und seine Züge waren entspannt. Sein leichtes, lockeres Lächeln wurde von goldenen Locken umrahmt.
Er war wunderschön.
Die Erkenntnis traf mich aus heiterem Himmel. Und obwohl es nicht das erste Mal war, dass mir sein Aussehen auffiel, wurde mir erst jetzt hundertprozentig bewusst, wie gut er eigentlich aussah – jetzt wo er von all den unterschiedlichsten Emotionen befreit und nur die Gelassenheit geblieben war.
Ich hatte dutzende Bücher über Psychologie und Menschliches Verhalten gelesen, sodass ich wusste, welchen Stellenwert Schönheit in einer jeden Gesellschaft innehatte. Schöne Menschen wurden für kompetenter gehalten, intelligenter und freundlicher. Nicht auf Grundlage irgendeiner Handlung, sondern allein wegen ihres Aussehens. Schönheit kam mit zahlreichen Privilegien, öffnete zahlreiche Türen, war mit Macht verbunden – auch in der Fortpflanzung.
Während meiner Zeit in Alicante war mir Jace neben seinem einstigen Hass auf mich, vor allem wegen seiner Arroganz aufgefallen. Er war es gewohnt, seinen Willen zu kriegen und ich konnte nicht anders, als mich zu fragen, was dies auf persönlicher Ebene bedeutete. Isabelle hatte gestern bereits angedeutet, dass Jace ein Spieler sein konnte, wenn er wollte – dass er flirtete und stets erfolgreich war. Ein Kommentar, den Jace mit einem selbstzufriedenen Grinsen quittiert hatte.
Meine Augen waren auf Jace' engelsgleiches Gesicht fixiert und der Gedanke, dass ich nicht die einzige Person war, die ihn jemals so ausgelassen erlebt hatte, machte etwas mit meinem Magen, was ich nicht erklären konnte.
Ich bin eifersüchtig auf Adam, hatte er mir gestern gestanden. Jedes Mal, wenn er dich anschaut, habe ich das Bedürfnis ihm den Hals umzudrehen. War das Eifersucht? Ich hatte Jace kein einziges Mal mit einer anderen Frau gesehen und auch Isabelle hatte niemanden erwähnt. Wie konnte ich also eifersüchtig sein? Aber allein der Gedanke, wie er eine andere so hielt wie mich – einer anderen den Blick schenkte, den er sonst für mich reserviert hatte – ließ mein Herz in sich zusammenfahren. Wie ein Schwamm, den man mit aller Kraft auswringte, um auch jeden letzten Tropfen Wasser aus seinen Poren herauszupressen. Eine Art von Schmerz, die ich noch nie gespürt hatte und mich dennoch atemlos zurückließ.
„Bleibst du hier?", fragte ich in die Stille hinein, die die Nacht mit sich brachte.
Jace streckte seinen Körper wie eine Katze und warf mir einen kurzen Seitenblick zwischen seinen Lidern hindurch zu. Er war so müde, dass er bereits halb in den Schlaf abgedriftet war. „Offensichtlich."
Das Wort, welches mir als nächstes über die Zunge ging, hatte nichts mit der Clarissa Morgenstern gemein, für die ich mich bisher gehalten hatte. Von der Doppeldeutigkeit ganz zu schweigen. „Versprochen?"
Trotz seiner Schläfrigkeit musste Jace diese Unüblichkeit ebenfalls bemerkt haben, denn er hob verwirrt seine Brauen, ohne die Augen dabei zu öffnen. „Immer", versprach er, auch wenn das Wort halb gelallt klang.
Dieser Ort hatte mich verändert. Er hatte mich nicht schwächer gemacht, nicht direkt. Er hatte mich geöffnet – für Alternativen zu der Gewalt, die bis dato alltäglich für mich gewesen war. Er hatte mir gezeigt, dass Abhängigkeit von anderen nicht gleichzusetzen war mit Schwäche, sondern mit Vertrauen. Mit Sicherheit.
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Erstes Donnerstags-Update! Ist da etwa ein Friedensangebot zwischen Imogen und Clary am Horizont zu sehen? Dieses Kapitel ist etwas entspannter und dreht sich eher um Clace, weil wir ja jetzt einige action-geladene Kapitel hatten.
Ich bin mir immer noch unsicher, ob ich Clace zu rüberbringe, jetzt nachdem das ganze Slowburn vorbei ist. Was denkt ihr? Über ehrliche Kritik, auch negative, freue ich mich sehr!
Skyllen :)
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