Kapitel 66 - Lost and Found
Kapitel 66 – Lost and Found
--- 5 Tage vor Beginn des Krieges. ---
In dem Moment, nachdem das Hologramm meines Vaters verschwand, erdrückte mich das Schweigen des riesigen Ratssaals. Anstatt, wie ich es von ihnen erwartet hätte, sofort in aufgeregtes Gerede auszubrechen, blieben sie alle mucksmäuschenstill auf den Bänken sitzen. All ihre Blicke waren auf mich gerichtet. Sie hingen an mir wie Gewichte, die meine Muskeln nach unten zogen und jede meiner Bewegungen aus dem Konzept brachten. Sie starrten mich an, weil in meinen Händen das Engelsschwert ruhte, welches sie für verloren geglaubt hatten. Doch mir war es gelungen, meinem Vater genau jenes zu entreißen. Es war mir gelungen, es in meinen Besitz zu bringen.
Und nun warteten sie alle atemlos darauf, was ich damit tun würde. Mit dieser Macht. Denn nichts anderes als Macht hielt ich da gerade in den Händen. In diesem Augenblick war ich mit ziemlicher Sicherheit die mächtigste Person auf diesem Planeten; ein Dämonenheer zur Stelle, falls ich es rufen sollte. Und ich konnte verstehen, warum einigen trotz Valentins Verschwinden die Furcht immer noch aufs Gesicht geschrieben stand.
Ich war seine Tochter. Großgezogen von einem Psychopathen, der dieses Schwert so dringend haben wollte, dass er ihr ohne zu zögern die Finger gebrochen hatte, weil sie im Weg stand. In ihren Augen war ich vielleicht eine begnadete Kämpferin aber dafür umso unberechenbarer. In den letzten Wochen hatte mich Trauma um Trauma gejagt und ich hatte mehr als einmal bewiesen, dazu in der Lage zu sein, irrationale, labile Entscheidungen zu treffen. Falls ich mich nun entschied, diese Macht an mich zu reißen, wüssten sie nicht, ob ich nicht möglicherweise zu denselben Dingen wie mein Vater fähig wäre.
Die Energie des Engelsschwert strömte durch meine Adern, aber ich hatte das Gefühl, mit jeder Sekunde mehr meiner eigenen Kraft zu verlieren. Als entzöge es mir jedes Adrenalin, welches bis eben noch durch meinen Körper gepumpt war. Meine Augen glitten mit ehrfürchtiger Bewunderung über die silberne Klinge des riesigen Schwertes und ich spürte meine Beine unter mir schwanken – versagen.
Jemand legte von hinten einen Arm um mich; hielt mich davon ab, zu stürzen. Ich ging in die Knie, meine intakte Hand krampfhaft um das Heft von Mellartach geschlossen. Einen Wimpernschlag später drängten sich zwei Gesichter in mein Sichtfeld. Ein Augenpaar gold, das andere blau. So anders und doch ähnelten ihre Blicke sich, was mich wunderte, da die Inquisitorin mich nie gemocht hatte. Geschweige denn Sorgen um mich gemacht hatte.
„Clary?" Jace' erschrockene Stimme riss mich endgültig aus der Trance des Blutverlusts.
Für eine Minute schien alles um mich herum übernatürlich deutlich zu rauschen. Mein Geist hatte sich dank des Adrenalins verschanzen können. Doch nun traf ich mit voller Wucht auf der Oberfläche der Realität auf und meine Sinne kehrten schlagartig zurück. Das Pulsieren in meiner verletzten Hand – in der Hand, durch die mein Vater einen Dolch gerammt hatte – ließ mich aufkeuchen.
Ich spürte, wie mir das Atmen von jetzt auf gleich begann, schwerzufallen. Auf einmal hob und senkte sich meine Brust viel zu schnell. Meine Lungen schienen nicht genug Sauerstoff zu bekommen. Meine blinzelnden Augen senkten sich auf das Loch, welches in meinem rechten Handrücken klaffte und mir drehte sich der Magen um.
Ich blinzelte und plötzlich war die Ratshalle verschwunden. Stattdessen saß ich gefesselt in einem Keller. Das Blut war überall. Ich hörte mich schreien und der Schmerz war unerträglich.
Ich blinzelte erneut und dieser ferne Ort war verschwunden. Jace und Imogen tauchten wieder vor mir auf und Jace hatte sich neben mich in das Blut gesetzt, als wäre es gar nicht da. Seine Arme stützten mich, hielten mich aufrecht. Zwar hielt ich Mellartach immer noch umklammert, aber die Klinge ruhte auf seinem Schoß. Sicher. Dort war sie sicher.
„Ich hoffe wirklich, dass es dafür nicht noch zu früh ist", murmelte Imogen und die Schärfe, die sonst immer in ihrem Tonfall lag, war verschwunden. Das Hellblau ihrer Augen hatte sich gemildert. Ob um Jace' Willen, oder weil sie Mitleid mit mir hatte, konnte ich nicht sagen. Ich sog die Luft ein als sie ihre Stele gegen meine Haut drückte. Die kühle Kraft des Adamants strömte durch mich hindurch und noch während Imogen die Iratze zeichnete, fiel mir das Atmen bereits leichter. Als sie mich losließ und sich skeptisch zurückbeugte, um mich zu mustern, verschwanden die schwarzen Ränder aus meinem Sichtfeld.
Ich drehte meinen Kopf und blickte hinab auf meine verletzte Hand. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich gegen Jace' lehnte; dass er mein Gewicht trug; dass wir beide im Blut von Malachi, mir und meinem Vater saßen; dass er mich ansah, als würde ich jede Sekunde verschwinden oder sterben oder durchdrehen.
Ein brüchiger Atemstoß entkam meiner Kehle und ich ignorierte die Intensität von Imogens Blick, der auf uns lag und zwischen uns hin und her huschte. Ich konzentrierte mich auf meine blutrote Hand, hob sie langsam vor mein Gesicht und bog die Finger einen nach dem anderen. Intakt allesamt. Der Muskel geheilt. Das Loch verschwunden.
Schließlich erwiderte ich Imogens Blick, unsicher was mich erwarten würde. „Du hast uns womöglich alle gerettet, Kind", sagte sie nach einer Weile des Schweigens. Auch sie kniete in der weiten Blutlache. Sie wirkte resigniert. Geschlagen. Als gäbe sie endlich auf, mich als den Feind zu sehen. Aber da war noch mehr und es schmerzte. Auf eine Art, wie keine physische Wunde es konnte. Sie hatte Mitleid mit mir. Weil meine Mutter tot und mein Vater ein Psychopath war, der seinen Sohn vergiftet hatte, um die Weltherrschaft an sich zu reißen und seine Tochter lieber abstach als seine Gier nach Macht aufzugeben. Weil es niemanden auf dieser Welt gab, für den ich an erster Stelle kam. Obwohl doch die eigenen Eltern genau diese Aufgabe verinnerlichen sollten.
Ich musste den Augenkontakt zu ihr abbrechen. Fokussierte mich stattdessen auf das Engelsschwert in meiner Hand. Irgendwo hinter mir hörte ich Isabelle und Alec diskutieren. Auch die Nephilim hatten ihre Stille gebrochen. Das Schwert lag schwer in meiner Hand, raubte mir weiter die Kraft, als wäre es ein Lebewesen und kein Gegenstand. Vielleicht war es die infernalische Umkehrung, die das auslöste. Vielleicht aber auch der Zauber, der jedem Nephilim die Wahrheit entlockte, der ihn berührte.
„Du kannst jetzt loslassen", murmelte Jace neben mir leise. Er hatte seinen rechten Arm immer noch um meine Schultern geschlungen, als fürchtete er, ich würde ohne ihn in dem ganzen Blut versinken.
Ich ließ das Schwert nicht los. Anstelle dessen rappelte ich mich taumelnd auf, ließ Jace mich aber weiter stützen, weil meine Füße kribbelten wie verrückt. Ich lockerte den Griff um das Engelsschwert und verschob es in meine andere, eben noch durchstoßene Hand. Während ich meine nun freie Hand nutzte, um mich an Jace festzuhalten, hob ich den Schwertarm.
Mellartachs Klinge glitzerte im Elbenlicht und warf krumme Schatten auf den scharlachroten Boden. „Dieses Schwert ist der Grund, weshalb meine Mutter tot ist", erklärte ich matt, an niemand bestimmtes gerichtet. Die Trauer in meiner Brust hatte sich mit der Zeit verändert. Nicht abgeklungen, aber durch all die anderen Dringlichkeiten in den Hintergrund geschoben. Mir blieb zu wenig Zeit, um wirklich darüber nachzudenken. Das würde ich aufarbeiten müssen, falls ich diesen Krieg überlebte. Falls es noch einen Krieg zu überleben gab.
„Dein Bruder Jonathan ist der Grund", bemerkte die Inquisitorin mit neutraler Miene. „Das Engelsschwert ist nichts weiter als eine Waffe, die nach dem Willen seines Trägers geführt wird. Es ist weder böse noch gut. Wenn jemand schuld ist, dann allemal Valentin."
„Er muss sterben", flüsterte ich, meine Augen unbeirrt auf das Engelsschwert fixiert. Irgendwo in meinem Hinterkopf war ich mir bewusst, dass uns immer noch eine Menge Schattenjäger zuschauten. „Er wird sich das Schwert zurückholen. Er wird die Welt auf den Kopf stellen, um es zurückzukriegen. Wir müssen ihn töten, wenn wir das verhindern wollen."
„Darum werde ich mich kümmern", versprach die Inquisitorin und kam einen Schritt auf Jace und mich zu. „Genauso wie um das Schwert."
„Es muss sehr gut bewacht werden." Ich riss mich vom Anblick des Schwerts los, welches Jocelyn das Leben gekostet hatte. Es war einfacher ihren Namen vor Augen zu haben. Es ließ sie fremder erscheinen.
„Wir werden es mit unseren Leben bewachen." Ein Versprechen, welches sie als Inquisitorin verpflichtet war, zu geben. Besonders in Zeiten wie diesen.
Ein Seufzen kam mir über die Lippen, als ich den Arm senkte und auf Imogen zutrat, um ihr das Engelsschwert zu übergeben. Sie nahm es mir mit solcher Behutsamkeit ab, als wäre es der wertvollste Gegenstand, den sie jemals innegehabt hatte. „Ich habe die Vorahnung, dass das nicht genug sein wird."
oOo
Der Tag zog sich in die Länge. Als wir die Garnison nach einer deprimierenden Krisensitzung im Büro der Inquisitorin verließen, hatte ich mit den einlullenden Farben des Sonnenuntergangs am Horizont gerechnet. Stattdessen begrüßten uns die Strahlen einer kraftvollen Frühlingssonne und ihrem Stand nach zu urteilen war es erst Nachmittag.
Ich trottete Isabelle und Alec hinterher, ohne wirklich auf meine Umgebung zu achten. Ich war erschöpft, hungrig und niedergeschlagen. Ich verfluchte meine Familie, die immer für Ärger und Schrecken sorgen musste. Ich verfluchte das Schicksal dafür, mich in diese Familie gesteckt zu haben. Ich wollte die Augen schließen, vergessen und so tun, als wäre ich nichts als gewöhnlich, nichts Besonderes, nicht das letzte Bindeglied zwischen Freundschaft und Feindschaft dieser Gemeinschaft.
Das Aufeinandertreffen mit meinem Vater hing über mir ein schwerer Hammer, der mich jeden Moment erschlagen würde. Vater. Dieser Titel hatte für mich an Bedeutung verloren und doch wurde ich den Schock nicht los, der sich seit der Ratssitzung wie eine vertrocknete Blutschicht um mein Herz geschlossen hatte. Er hatte mich einfach niedergestochen. Ich war sein Kind und er hatte mir versprochen, mich bei der nächsten Gelegenheit umzubringen.
Es sollte mir nicht nahegehen. Mittlerweile sollte ich immun gegen diese lächerlichen Emotionen sein, die mich noch mit ihm verbanden. Ich war schwach und er wusste es genau.
Der Schnee schmolz und ich hoffte, dass er endlich endgültig verschwinden würde. Ich konnte ihn nicht mehr sehen. Er erinnerte mich an meine Mutter, an Jonathan und an mein Versagen.
Hinter mir knirschten Jace' Stiefel über den Pflasterstein. Ich hatte kein Wort mit ihm gewechselt, seitdem ich seiner Großmutter das Schwert der Engel übergeben hatte. Mir war nicht nach reden zu Mute. Auch wenn er mir dabei geholfen hatte, meinen Vater zurückzuschlagen, konnte ich ihn nicht ansehen. Da waren so viele Gedanken und Dringlichkeiten, die mein Gehirn zumüllten und beanspruchten und Jace' seltsames Verhalten der letzten Tage – vor allem aber von heute – konnte ich dabei nicht gebrauchen. Ich würde einfach warten, bis er den Konflikt aus der Welt geschafft hatte, der ihn beschäftigte und seine Launen fluktuieren ließ.
Jemand hakte sich an meinem Arm ein und ich blinzelte, um die Stimmen in meinem Hirn fortzuschieben. Isabelle schenkte mir ein breites Grinsen, als würde sie mir jeden Moment ein Geheimnis verraten, welches eigentlich schon lange kein Geheimnis mehr war. „Seit deiner Entführung ist einiges passiert, was wir aufarbeiten müssen", erklärte sie verschwörerisch und drehte dann kurz den Kopf, um über ihre Schulter zu Jace zu schielen. „Du hättest die Szene sehen müssen, die er deinetwegen gemacht hat." Sie kicherte, als wäre alles, was mir in den letzten Tagen passiert war, nichts als ein Märchen aus einem Buch. In ihren braunen Augen funkelte der Schalk. Sie brauchte das hier. Den Tratsch, die Spannung des Alltags, die Ablenkung. Jeder hatte seine eigene Art damit umzugehen. Vielleicht würde es auch mir helfen, meinen Vater endlich aus meinen Gedanken verschwinden zu lassen. „Er hat sich wirklich Sorgen um dich gemacht. Sogar Imogen hat er für ihr Versagen zur Schnecke gemacht."
„Das hätte ich gerne gesehen", murmelte ich und schob mir ein Schmunzeln auf die Mundwinkel. „Jede Gelegenheit Imogen vorzuführen, sollte ausgekostet werden. Ich habe lange gezweifelt, ob diese Frau überhaupt Gefühle hat."
Isabelle berichtete mir zustimmend von ihrer Jagd nach Hinweisen, nachdem sie Malachis Namen in der Dunkelheit hinter der Abkommenshalle gefunden hatten. Wie Jace Malachi angeblich vor den Augen seiner Großmutter mithilfe der Engelskraft bedroht hatte, um meinen wahren Standort in Erfahrung zu bringen.
Obwohl sie es wahrscheinlich erzählte, um mir klarzumachen, dass sie mich die ganze Zeit gesucht und mich nicht einfach aufgegeben hatten, machte es mich nachdenklich. Hinter meinem Rücken schien Jace verzweifelt gewesen zu sein, mich ausfindig zu machen. Doch in meiner Anwesenheit brachte er es nicht auf die Reihe, eine Seite aufrechtzuerhalten. Ich hatte gedacht, dass er diese Feindseligkeit nach heute Nacht abgeschüttelt haben würde.
Der einzige Stern am Himmel. All die Dinge, die er im Schutz der Dunkelheit gesagt hatte, sprudelten in mir hoch und ich wunderte mich, wie viel er davon tatsächlich ernst meinte. In dem Moment hatte ich gedacht, dass er ehrlich war, dass er es wirklich so meinte. Alles davon. Ich will dich immer noch küssen.
Es raubte mir den Atem, nicht zu wissen, was das sollte. War das Ganze ein Spiel für ihn? In deiner Nähe schaffe ich es nicht, mich wie ein normaler Mensch auszudrücken. War es Verlegenheit? Egal was es war, ich verstand es nicht. In diesen Dingen war ich so unwissend wie ein unbeschriebenes Blatt und das machte mir Angst. Riesige Angst. Ich hatte keinen Schimmer von dieser Welt und lief vielleicht geradewegs in das nächste Trauma, ohne es als solches überhaupt zu erkennen, weil meine Sinne allein für das Schlachtfeld ausgebildet waren. Würde ich es bereuen, wenn ich mich in das hier fallenließ?
Einige Zeit später, mittlerweile saßen wir mit dampfenden Tellern in der Küche der Lightwoods, hatte Isabelle ihren Monolog in ein Kreuzverhör verwandelt und löcherte mich mit Fragen zu allem, was ihr durch den Kopf schoss. Ich hatte das Gefühl, dass mir meine niedergeschlagene Laune anzusehen war und sie sich bemühte, mich beschäftigt zu halten. Wäre ich nicht so fixiert auf das Essen vor meiner Nase, hätte ich es wohl amüsant gefunden, ihr beim Nachdenken zuzuschauen. Wie jede meiner Antworten ein neues Licht in ihrem Hirn zum Leuchten brachte und ihr eine neue Frage einfiel. Als hätte ihre Neugier keine Grenzen.
Ihre Fragen zu beantworten war unangenehm. Hauptsächlich, weil Alec und Jace beide immer noch anwesend waren und mithörten. Wenigstens hatte ich Jace so gut wie alles über die Entführung bereits einmal berichtet. So war es weniger qualvoll, nochmal auszuholen. Doch Isabelle umschiffte die blutigsten Details meiner jüngsten Vergangenheit gekonnt. Was sie interessierte, war ganz anderer Natur.
„Ich kann nicht glauben, dass Adam dir vor allen Augen seine Liebe gestanden hat", platzte sie heraus als wir auf sein Auftauchen vor dem Landhaus der Ashdowns zu sprechen kamen. „Also nicht, dass ich darüber überrascht bin. Es war wirklich super offensichtlich. Und unter besseren Umständen wäre das eigentlich irgendwie romantisch gewesen."
„Es war aber nicht romantisch", brachte ich zwischen zwei Bissen hervor. „Und es war auch kein Geständnis, weil ich es, wie gesagt, ja bereits wusste."
„Sei ehrlich, hättest du mir davon erzählt, wenn er es nicht vor allen Leuten ausgeplaudert hätte?", hakte Isabelle nach. Sie hatte so viel geredet, dass ihr eigener Teller kaum angerührt war.
„Wahrscheinlich nicht", gab ich zu und sie stöhnte frustriert. „Was gibt es da groß zu erzählen? Außerdem hat er mich doch in der Abkommenshalle vor den Augen aller geküsst", platzte es schließlich etwas energischer aus mir heraus und ich fuchtelte anklagend mit meiner Gabel vor ihrem Gesicht herum. „Reicht das nicht als Geständnis?"
„Ja genau, vor den Augen aller. Nur ich habe es natürlich nicht gesehen", murmelte sie unzufrieden und ich konnte den Hauch von Beleidigung darin hören. Hoffentlich machte sie mich nicht dafür auch noch verantwortlich. Ich wollte gerade die Augen verdrehen, als ihre mich musternd trafen. Ein ernsterer Ausdruck darin als gerade noch und dann klopfte sie mir in einer halb amüsierten, halb mitleidigen Geste auf die Schulter. „Diese Welt ist neu für dich, Clary, also gebe ich dir einen Rat. Von Frau zu Frau. Verwechsele einen Kuss nicht mit Liebe. Menschen küssen sich ständig, Nephilim eingeschlossen. Man küsst aus Leidenschaft, weil man den anderen heiß findet oder man gerade einfach Lust darauf hat. Adam mag in dich verliebt sein, aber das ist keine Voraussetzung für einen Kuss. Schau dir nur an, wie verdreht seine angebliche Liebe für dich doch ist."
Jace war auf einmal ziemlich beschäftigt damit, in seinem Essen herumzustochern. Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg und ich starrte so reaktionslos wie möglich auf den Rand meines Tellers. „Und woher weiß ich dann–"
„Punkt Eins", begann Isabelle und schien völlig in ihrem Element zu sein. „Wenn Alkohol im Spiel ist, bedeutet ein Kuss schon einmal gar nichts. Da bin ich das beste Beispiel." Sie kicherte in sich hinein und nun verdrehte Alec plötzlich wissend die Augen, was mich wiederum zum Schmunzeln brachte. „Ich küsse dauernd Leute, wenn ich betrunken bin und bereue es später meistens. Deshalb wäre Adams Kuss eigentlich auch kein Indiz gewesen, wenn er seine Liebe nicht später gestanden hätte."
„Kein Alkohol beim Küssen", murmelte ich und nickte mit gespieltem Eifer, als würde ich eine imaginäre Checkliste abhaken. Jace stand abrupt vom Tisch auf und brachte seinen halbvollen Teller zur Spüle. „Verstanden."
„Nein, nein!" Isabelle sprang beinahe vom Stuhl als sie ihre Hände in einer abwehrenden Geste über den Tisch streckte. „Es gibt nichts Tolleres als betrunken zu küssen. Und da der Krieg gegen deine Familie ja trotz deiner außerordentlich heroischen Leistungen anscheinend trotzdem vor der Tür steht, habe ich entschieden, dass du vorher eine gute Portion Ablenkung gebrauchen könntest."
„Oh ja, ich bin ja so unglaublich heroisch", erwiderte ich ihren mit eigenem Sarkasmus und lehnte mich spielerisch in meinem Stuhl zurück. „Ich habe mich meinem Vater und dem Engelsschwert nur in den Weg gestellt, um am Ende des Tages den Helden spielen zu können."
Isabelle ignorierte die Schärfe meiner Ironie und fuhr ungerührt fort. „Morgen findet in der Südstadt eine Party statt, zu der wir eingeladen sind. Und wir werden hingehen, uns betrinken und Spaß haben. Und du wirst dir jemanden suchen, den du heiß findest und mit ihm rummachen. Keine Ausreden. Das muss man einmal im Leben gemacht haben. Also ... falls das mit dem Krieg dann doch nicht so gut ausgeht. Nur zur Sicherheit. Ich kann nicht in dem Glauben sterben, dass Adam dein einziger, richtiger Kuss war. So kann ich nicht abtreten. Das geht gegen meine Moral."
Wir zuckten zusammen als Jace seinen Teller in der Spüle fallenließ. Ein Fluch kam ihm über die Lippen, der selbst Alec die Augen weiten ließ. Obwohl die letzten Stunden die Hölle gewesen waren, musste ich lachen. Nicht wegen Jace. Nein. Isabelle hatte unseren Kuss vor der Feenkönigin mit eigenen Augen gesehen, jedoch nicht erwähnt, als hätte es ihn gar nicht gegeben. Ich wusste, dass sie es mit Absicht machte. Nur nicht, weshalb. Ich hatte auch keine Ahnung, warum Jace sich so seltsam verhielt. Er hatte genug Gelegenheit, sich auszusprechen. Stattdessen war er in eine Dauerschleife der Stille verfallen. Selbst Alec hatte mehr Worte mit uns gewechselt.
„Du bist verrückt", platzte es aus mir heraus. „Du musst verrückt sein. Hast du mich mal angeschaut?" Es war unbeabsichtigt und doch spürte ich eine Sekunde später drei Augenpaare auf mir ruhen, die mich eingehend musterten. Als Isabelle und Alec gleichermaßen verwirrt die Brauen hoben, seufzte ich frustriert. „Mein Nachname lautet Morgenstern, Izzy. Hast du etwa vergessen, dass die Hälfte der Stadt mich hasst? Der letzte Mordversuch auf mich ist ... lass mich kurz überlegen ... ein paar Stunden her."
„Da bleiben noch fünfzig Prozent übrig." Isabelle zuckte die Achseln, als könnte nichts, was ich sagte, sie vom Gegenteil überzeugen. Da funkelte etwas in ihren Augen, was mich misstrauisch den Kopf neigen ließ. „Das grüne Kleid von der Feier stand dir wirklich phänomenal. Da gab es einige Herren, die dir hinterher geschaut haben", betonte Isabelle verschwörerisch und ein geheimnisvolles Grinsen breitete sich auf ihren Lippen aus. „Ich bin mir sicher, dass die meisten solche Gedanken so kurz vor einer so bedeutenden Schlacht über Bord werfen. Gerade weil du eine Morgenstern bist. Du wirst beliebter, glaub mir. Und du bist quasi berühmt. Berühmte Personen will jeder haben."
„Meine Güte, Izzy, diese Schattenweltler-Partys in New York tun dir nicht gut", bemerkte Alec und vergrub seinen Kopf in den Händen. Doch am Rande seiner Handfläche konnte ich ein Grinsen ausmachen, welches er mit Mühe zu verstecken versuchte. Als verstünde er etwas, was ich nicht verstand. Als hätte er sie durchschaut, während ich im Dunkeln tappte. „Du klingst wie ein Viehzüchter, der versucht seine Tiere zu verkaufen."
„Aber ich mache ihr doch nur das reale Leben schmackhaft", protestierte Isabelle. „Sie soll nicht denken, dass jede Feier in so einem Desaster endet. Das tun sie nämlich so gut wie nie. Und wir können die nächsten fünf Tage nicht einfach nur hier rumhocken und auf unser Schicksal warten. Wir müssen leben, solange wir noch können. Und Clary sollte diese Chance nutzen. Das ist alles, was ich sage."
„Was genau hat sich betrinken und mit wildfremden Leuten rummachen mit Leben zu tun?", schaltete sich Jace plötzlich ein, der seinen Teller unter beständigem Krachen abspülte. Man sollte meinen, dass jemand, der einen Dolch präzise wie eine Maschine werfen konnte, einen Teller geräuschlos abspülen konnte. Als wir uns zu ihm umdrehten fiel mein Blick zuerst auf seine blutverklebte Montur, dessen Blut mittlerweile getrocknet und verkrustet war. Dann auf seine Hände. Er schob sie ohne Umschweife in seine Hosentaschen. Sie bebten. Ich wollte etwas sagen, aber seine harten, distanzierten Pupillen waren auf Isabelle fixiert. „Sie hat bereits gelernt, dass Alkohol gleich Kontrollabgabe ist. Was hat das mit Spaß zu tun?"
Trotz seiner unfreundlichen Worte schenkte Isabelle Jace ein Lächeln, das nur breiter und tückischer zu werden schien. Provozierend, wenn ich es nicht besser gewusst hätte. „Nicht jeder sieht so aus wie du. Ein Kerl mit deinem Aussehen braucht auch keinen Alkohol. Du betrittst bei diesen Partys nur den Raum und die Hälfte der Frauen will mit dir schlafen. Das deprimiert mich. Deshalb bist du morgen auch nicht eingeladen. Ich hasse es, dir beim Flirten zuzuschauen. Das Schlimmste ist, dass es jedes Mal funktioniert."
Alec brach in Gelächter aus, während Jace beinahe empört dreinschaute. „Sie hat recht. Deine Anmachsprüche sind die Schlimmsten und funktionieren trotzdem jedes Mal."
Ein Grinsen stahl sich auf Jace' Gesicht, nur für den Bruchteil einer Sekunde. Nur so lange bis seine goldenen Augen meine trafen und er sich daran erinnerte, dass ich ebenfalls am Tisch saß und ihre Diskussion mitanhörte. Ein Ausdruck der Verlegenheit, der sich in Nervosität verwandelte, als Isabelle weitersprach, breitete sich auf seinem Gesicht aus.
„Und da sind wir schon bei Punkt Zwei, Clary." Isabelle holte theatralisch Luft. „Vertraue niemals einem Mann."
„Das ... musst du präzisieren."
Isabelle kam um den Tisch herumspaziert, setzte sich auf Jace' freien Platz und lehnte sich zu mir herüber. Sie strich mir die Haare auf den Rücken und ich folgte ihrem Finger als sie auf meine Brust tippte. Die Stelle über dem Herzen. „Männer spielen gerne mit uns. Ich glaube das gibt ihnen den Kick. Sie werden dir das Blaue vom Himmel versprechen, um dich haben zu können. Lass dich nicht verarschen. Die wenigsten halten ihre Versprechen. Also nimm, was du willst, aber trenne Lust von Gefühlen. Das ist nicht dasselbe, vor allem nicht für sie."
„So wie du redest könnte man meinen, du wärst einer von ihnen." Alec raufte sich die Haare und schob seinen Stuhl zurück. „Wieso erzählst du ihr das alles überhaupt? Schau dir ihr Gesicht an, du hast sie verschreckt. Jetzt wird sie nie wieder irgendwem vertrauen. Du hast wahrscheinlich gerade ihre ganze Zukunft ruiniert."
„Ich ...", stammelte ich und schaute von Isabelle zu Alec, aber demonstrativ nicht zu Jace. „Mir geht es gut."
„Jemand muss ihr die sozialen Spielregeln beibringen. Und ich bewahre sie nur vor dem, was mir und den meisten Frauen mindestens einmal im Leben passiert ist", erwiderte Isabelle selbstgefällig und zuckte die Achseln.
„Wir sind nicht alle so, Clary", sagte Alec und bedachte mich mit einem langen, vielsagenden Blick. Irgendwann in den letzten Wochen hatte er aufgehört, mich die ganze Zeit mit Blicken töten zu wollen. „Einige ja, aber wenn du dich an die Guten hälst, dann musst du dir um Vertrauen keine Gedanken machen."
„Wie konnten wir von Adams Liebeserklärung nur zu sowas abdriften?", fragte ich stattdessen und massierte mir die Schläfen. „Ich habe noch gar nicht für die Party zugesagt und ihr versucht bereits, mich zu verkuppeln."
„Nein!", Isabelle stöhnte. „Nicht verkuppeln. Rummachen und Verkuppeln ist nicht dasselbe. Und wir gehen auf die Party. Ich zerre dich da hin, egal ob du willst oder nicht. Ich will nicht allein hingehen und auch wenn du keine Lust hast, ich will einigen Typen die Köpfe verdrehen."
Ich senkte den Blick auf den Tisch. Wenn Küsse und Versprechen in dieser Welt nichts bedeuteten, dann könnte das zwischen Jace und mir auch nur aus meiner Perspektive etwas Besonderes sein. Isabelle hatte recht. Ich hatte keinerlei Erfahrungen. Aber ich wurde das Gefühl nicht los, dass sowohl Isabelle als auch Alec mir gerade etwas anderes unterschwellig hatten mitteilen wollen. Auch wenn ich daraus nicht wirklich schlau wurde.
„Lass uns morgen darüber reden", sagte ich und erhob mich langsam vom Tisch. Der Stuhl quietschte als ich ihn zurückschob. „Ich bin müde und ich muss mich umziehen. Meine Klamotten sind voller Blut."
Verständnis blitzte über Isabelles Züge und sie nickte leicht, ohne etwas zu erwidern. Kurz darauf erklomm ich die Treppen hoch zur zweiten Etage und wunderte mich, ob ich es noch in die Dusche schaffen oder mir vorher die Augen zufallen würden. Meine Füße hatten gerade die letzte Stufe hinter mir gelassen, als hinter mir plötzlich jemand hochgepoltert kam. Meine Muskeln reagierten, bevor mein erschöpftes Hirn aufgeholt hatte. Ich wirbelte herum und griff an meinen Waffengurt, nur um nach Luft zu greifen.
Jace blieb stürmisch vor mir stehen und stolperte dabei beinahe über die Kante einer Stufe. Er stützte sich am Geländer und hob dann den Kopf, um meinen Augen zu begegnen. In dieser Position waren wir ungefähr auf Augenhöhe, er ein kleines Stück unter mir. Er sah atemlos aus mit seinen geweiteten, goldenen Augen und dem halb geöffneten Mund. Sein Haar hing zerzaust um seine Ohren herab als wäre er gerannt, um mich einzuholen.
„Kann ich dir helfen?", fragte ich verwirrt und schritt rückwärts in den Gang, damit er von der Treppe folgen konnte.
Jace sog die Luft seufzend in seine Lungen und strich sich anschließend die Haare aus der Stirn. Als er sich auf mich zubewegte, ragte er wieder über mir herauf. „Ich ... ich muss mit dir reden."
„Kann das warten?" Ich wollte nicht abweisend klingen, konnte es aber nicht verhindern. Nach seinem Verhalten während der Verhandlung und den Dingen, vor denen Isabelle mich eben gewarnt hatte, wusste ich nicht wirklich, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. „Bis morgen vielleicht?"
„Nein." Jace schüttelte vehement den Kopf und überbrückte mit einem großen Schritt den Abstand zwischen uns. Meine Brauen flogen überrascht in die Höhe. „Du tust ja so, als würde es dich wundern, was ich hier mache", stellte er in unzufriedenem Ton fest.
Das entfachte Zorn in meiner Brust. „Ja, ich wundere mich tatsächlich", zischte ich und machte einen weiteren Schritt zurück. Jace' Gesichtsmuskeln verhärteten sich und er ballte die Finger zu Fäusten. „Heute Morgen in dieser beschissenen Zelle war noch alles in Ordnung, aber sobald die Verhandlung angefangen hat– Nein. Selbst da war noch alles in Ordnung. Du hast erst angefangen, dich so seltsam zu verhalten, als Adam–" Meine Stimme stockte vor Verwirrung und führte dazu, dass ich den Ärger in ihr nicht aufrechterhalten konnte. Ich kniff die Augen zusammen, ratterte die Verhandlung in meinem Kopf nochmal durch und bekam Jace' Reaktion vor mir nur halb mit.
Seine Schultern sackten zusammen und die defensive Haltung auf seinem Gesicht knickte ein, als hätte ich mit geschlossener Faust gegen eine Fensterscheibe geschlagen und sie nun einen Riss. „Jace ..."
Jace schloss die Augen. Presste die Lider so vehement aufeinander als würde er sich von diesem Ort wegwünschen. Er stieß einen gepressten Atemzug aus seiner Nase hervor und als er schließlich die Augen öffnete, war die Mauer um seine Gedanken und Gefühle verschwunden. „Erinnerst du dich daran als ich gesagt habe, dass ich versuchen will, mit dir befreundet zu sein?"
Ich blinzelte mehrmals und schüttelte dann protestierend den Kopf. „Was hat das damit zu tun?"
„Beantworte einfach die Frage", brachte Jace energisch hervor, als würde sein Leben von dieser Frage abhängen. „Erinnerst du dich?"
„Ja, natürlich erinnere ich mich." Es war der Anfang von etwas Neuem. Das Ende von dem Krieg zwischen uns.
„Ich habe gelogen."
Ich wünschte, ich könnte behaupten, dass mich dieser Satz nicht traf – dass er mir egal war. Doch ich konnte spüren, wie mein Herz sank. Wie meine Lippen zuckten und mein Gesicht sich in eine Eislandschaft verwandelten. Und gerade als ich aus meinem Schmerz heraus etwas Gemeines erwidern wollte, griff Jace nach meinen Händen und zog mich in seine Richtung, seine eigenen Züge in vorsichtige Neutralität gehüllt. Doch ich konnte die glühende Sehnsucht in seinen Augen brennen sehen.
„Ich will nicht nur mit dir befreundet sein. Aber ich habe lange versucht, es mir einzureden", erklärte er weiter. Ich war froh, dass er mich festhielt, weil meine Füße plötzlich zu zittern begannen. „Ich habe so lange darüber nachgedacht und–"
„Halt." Das Wort war frei von jeder Emotion. Das Beben in meinen Füßen hatte sich in meine Finger ausgebreitet und ich entriss ihm meine Hände. „Hör auf damit. Ich will es nicht hören."
„Wie ... Was soll das heißen?" Die Verletzlichkeit stand ihm auf einmal ins Gesicht geschrieben und ich zweifelte daran, richtig gehandelt zu haben.
Ich wusste nicht, was ich hier tat. Ich ließ mich von meinem Instinkt leiten, der aber selbst nur aus einem Gefühl der Furcht heraus agierte. Um mich zu schützen. Um mir möglichen Kummer zu ersparen. Also öffnete ich den Mund und erklärte mich. „Du küsst mich. Küsst mich mehrmals. Erzählst mir, wie toll du mich findest. Versprichst, dass du dich verändert hättest. Und keinen Tag später behandelst du mich, als wäre ich wieder diese Fremde. Diese Verräterin. Lügnerin. Spionin." Jace sah aus, als würde er aus allen Wolken fallen. Als hätte er gar nicht begriffen, wie sehr mir seine Haltung von vorhin im Gedächtnis geblieben war. „Adam betritt den Raum und plötzlich bist du wie ausgewechselt. Und dann kommt Isabelle mit ihrer Rede über Männer und dass ich am besten einfach niemandem vertraue. Und es fällt mir sowieso schon schwer, Leuten zu vertrauen. Also, welchen Grund habe ich, dir zu trauen, Jace? Du gibst mir nämlich keinen. Und falls du nur mit mir spielst, weiß ich, dass mein Stolz das nicht ertragen würde und ich will dich nicht umbringen im Versuch, meinen gekränkten Stolz wieder herzustellen. Denn glaub mir, ich habe keine Ahnung wie ich sonst damit umgehen sollte."
Jace seufzte und raufte sich die Haare. „Manchmal vergesse ich, dass du von all dem hier keine Ahnung hast", gab er zu. „Manchmal vergesse ich, wie abgeschottet ihr aufgezogen wurdet." Als er meinen Blick sah senkte er die Augen. „Ich war– Nein, ich bin eifersüchtig auf Adam. Ich kann mir nicht erklären weshalb, weil er dich verraten und hintergangen hat und ich weiß, dass das Gefühl keinen Sinn macht. Aber jedes Mal, wenn er dich anschaut, habe ich das Bedürfnis ihm den Hals umzudrehen. Als er dich geküsst hat, wollte ich ihn umbringen. Während ich dir nach draußen gefolgt bin, habe ich mir im Kopf Gründe zurechtgelegt, die seine Ermordung plausibel erschienen lassen hätten. Aber zu hören, wie er es vor dem ganzen Rat zugibt ... zu hören, dass er es dir bereits gesagt hat. Der Gedanke, dass er es dir gesagt hat und du ihn wählen könntest, zerreißt mich. Egal wie abwegig diese Entscheidung auch ist."
Mein Mund stand offen; hatte sich geöffnet, während er gesprochen hatte. Da lagen keine Worte auf meiner Zunge. Nicht, weil ich nichts zu sagen hatte. Ich wollte lachen, wollte ihn anschreien, wollte weinen. Eine seltsame Erleichterung durchströmte mich, weil ich mit Schlimmerem gerechnet hatte. Viel Schlimmerem. Das hier ... das war ... ich wusste nicht, was das hier war.
„Das ist kein Grund, mich wie Abfall zu behandeln", sagte ich und wollte dafür am liebsten aus dem Fenster springen. Ich war wirklich unfähig.
„Ist es nicht", gab er zu und als er erneut nach meinen Händen griff, ließ ich ihn gewähren. Vielleicht wegen dieser Intensität in seinen Augen, der ich mich hingeben wollte. Vielleicht weil ich erschöpft war und ich Mühe hatte, aufrecht zu stehen. „Es war falsch. Ich konnte mich nicht kontrollieren. Dieses Gefühl hat mich überfordert. Es tut mir leid."
Da ich Jace' Entschuldigungen an einer Hand abzählen konnte – und Isabelle wahrscheinlich auch –, wusste ich, dass er es ernst meinte. Ich spürte seine Finger, verschlungen um meine, warm und anziehend, mit rasendem Puls. Ich drückte seine Hände, ließ mich stärker von ihnen einnehmen; ließ mich von ihm enger an sich heranziehen, als er merkte, dass ich meine Abwehr aufgab.
„Ich will, dass meine Liebe genug ist", murmelte er in mein Haar.
Mein Körper versteifte sich. Ein zittriger Atemstoß entkam meiner Kehle. Wusste er warum? Wusste er, was er da sagte? Wusste er, was er da tat? Man würde meinen, ich hätte mich mittlerweile an die Einsamkeit, die Leere in meiner Brust gewöhnt, die Jonathan und meine Mutter hinterlassen hatten. Doch ich spürte das Loch, welches ihre Liebe hinterlassen hatte. Spürte die Sehnsucht. Nach Heimat. Nach Zugehörigkeit. Sicherheit. Frieden.
Meine Augenwinkel waren feucht als ich sprach, „Nachdem was Izzy gesagt hat, weiß ich nicht ob–"
„Vergiss, was Izzy gesagt hat", flehte Jace. Er löste seine rechte Hand von meiner, drückte seine Finger sanft unter mein Kinn und zwang meinen Kopf in seine Richtung. Ein sanftes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, welches seine goldenen Iriden zum Strahlen brachte. „Sie ist eine Idiotin und hat das alles nur gesagt, um mich aus der Reserve zu locken. Auch wenn sie recht hat. Ich will nicht, dass du falsch von mir denkst und ich will nicht länger warten oder irgendetwas vor dir geheim halten. Ich will, dass du den vollen Umfang meiner Gefühle begreifst. Ich liebe dich, Clary. Ich liebe dich schon eine ganze Weile und ich hoffe, du liebst mich auch, denn sonst würdest du meinen Stolz verletzen und jetzt, wo ich es laut ausspreche, weiß ich nicht, was ich machen würde, wenn das passiert." Er war nervös. Er fürchtete sich, vor meiner Reaktion.
„Du liebst mich", flüsterte ich und meine Finger fuhren hoch zu seinem Gesicht, strichen durch sein Haar, fuhren über seine Wange, streiften seine Lippen. Jace keuchte und nickte. „Beschreib mir dieses Gefühl."
„Ich kann mich nicht von dir fernhalten", gab er in demselben Flüsterton zurück und beugte sich in meine Richtung. Seine Stimme war einlullend und berauschend zugleich. „Ich will es auch nicht. Ich habe zu lange gegen dieses Bedürfnis angekämpft." Ich konnte dabei zuschauen, wie seine goldenen Augen sich verdunkelten; wie er mich mit seinen Blicken einzufangen versuchte, als wäre ein Blick nicht genug; als würde er sich mein Gesicht auf seine Netzhaut einbrennen wollen. Ich wusste, dass es so war, weil ich dasselbe empfand. Einen Moment später lag sein Mund auf meinem und ich hatte das Gefühl, freier zu atmen als gerade noch. Seine Hände fuhren zu meiner Hüfte, schlangen sich um meinen Körper, pressten mich gegen die Wand hinter mir. Ich keuchte als Jace seine Lippen so fest auf meine drückte, dass er vor meinen Augen verschwamm. „Ich will dich", seufzte er und ich war mir erst nicht sicher, ob ich es mir einbildete oder er tatsächlich sprach. „Jede Faser meines Körpers will dich." Als er für einen Moment aus dem Kuss ausbrach, wanderten seine Finger über meinen Körper, entfachten dabei meine Sinne, als stünde ich in Flammen. Er drückte sich gegen mich und wir waren uns so nah, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich endete und er anfing.
Seine Lippen glitten über meine. Unsere Zungen streiften umeinander herum, tanzten miteinander. Unser Atem vermischte sich. Ich wusste nicht, wann ich meine Arme um seinen Hals gelegt hatte. Erst als er Schwierigkeiten hatte, den Kopf in den Nacken zu legen, um auf mich herabzuschauen, bemerkte ich es überhaupt. Er lächelte. So anders als seine halbherzigen oder belustigten oder hochmütigen Lächeln. Jace lächelte mit solcher Intimität, so frei von jeder Furcht seine wahren Emotionen zu offenbaren, dass ich fürchtete, gleich in Tränen auszubrechen.
„Ich will deine Geheimnisse kennen. Deine Gefühle, Gedanken, egal wie schwachsinnig oder abstoßend oder unangenehm, ich will alles wissen. Ich will, dass du meine Welt bist und ich will deine Welt sein."
„Mein Vater hat immer gesagt, dass Lieben zerstören heißt und geliebt zu werden, bedeutet, zerstört zu werden", sagte ich und schaute ihm dabei so tief in die Augen, dass mein Verstand nicht mehr in diesem Universum zu sein schien. Jace schien mich mit seinen Blicken aufzusaugen. Doch nun schwankte er, als wüsste er nicht, welches Ende meine Erzählung nehmen würde. „Ich habe so wenige Menschen in meinem Leben geliebt und bin trotzdem mehr als einmal zerstört worden. Ich weiß, dass ich ohne diese Liebe heute hier nicht stehen würde. So schlimm kann diese Zerstörung also nicht sein. Wenn das die Voraussetzung ist, nehme ich sie freiwillig in Kauf."
Diesmal war ich es, die ihn küsste.
Ja, die Zerstörung würde über uns herfallen. Ich konnte es in meinen Knochen spüren. Es war nur eine Frage der Zeit. Zeit, die in fünf Tagen ablaufen würde. Engelsschwert hin oder her.
Trotz alldem zögerte Jace nicht, sich der Zerstörung hinzugeben.
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Uuund? Wie fandet ihr dieses überaus interessante Kapitel? :) Clary und Jace sind endlich so weit, sich ihre Liebe einzugestehen, yay! Es halt ultra lang gedauert, aber hier sind wir endlich. Und der Weg war es doch wirklich, oder nicht?
Lasst mir gerne ein Like und/oder Kommentar da, wenn es euch gefallen hat! :D
Skyllen
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