Kapitel 61 - When Dreams Mix With Reality
Kapitel 61 – When Dreams Mix With Reality
Das Gefängnis der Garnison hatte nicht viel mit Menschenwürde zu tun. Der Teil des Gebäudes – dunkel und kalt – erinnerte mich mit den spärlich verteilten Elbenlichtfackeln und den mit geschlossenen Türen gesäumten, langen Gängen mehr an die Stille Stadt. Ein Eindruck, der durch die vermehrte Präsenz von Runen und anderen Symbolen verstärkt wurde. Die Nephilim hatten es zur Gewohnheit gemacht, ihre Runen in gesamt Alicante zu verteilen; für Schutz, Glück, Gesundheit und dutzend weiterer Gründe. Jedoch nicht vergleichbar mit dem Ausmaß, den die Runen hier annahmen.
Die Errichtung dieses Teils der Garnison musste schon von Anfang an in der Intention gewesen sein, die Wesen ausnahmsweise drinnen, anstatt draußen zu halten. Während der Rest des Gebäudes auf der Ebene eines Hügels erbaut worden war, gab es hier nur eine einzige Treppe, die vom Erdgeschoss hinein in den Berg führte. Die Zellen befanden sich beinahe vollständig unter der Erde, bis auf ein einzelnes, kleines, mit Gitterstäben gesichertes Fenster am oberen Rand des quadratischen Raumes. Die einzige Lichtquelle, die hier existierte. Und die einzige Gelegenheit, einen Blick auf den Teil der Stadt zu erhaschen, der im Tal lag. Wenn man das Glück hatte, eine Zelle auf der Südseite zu bewohnen. Und wenn man groß genug war, um herausschauen zu können oder stark genug, um sich an den Stäben hochzuziehen; wenn man denn lebensmüde genug war, sie überhaupt zu berühren.
Ich für meinen Teil wünschte, dass sie die Fenster einfach weggelassen hätten, denn ohne die Isolation von Glas war die Temperatur des Raumes stetig an die von draußen gekoppelt. Mit meiner Zelle dem Tal zugewandt, pfiff ein niemals endender Wind herein, der mich dank der Jahreszeit mit jedem Zug dem Gefriertod ein Stückchen näherbrachte. Wahrscheinlich nicht wirklich, aber zumindest fühlte es sich so an. Dass Jace mir vor dem Landhaus der Ashdowns seinen Wintermantel überlassen hatte, brachte mich mittlerweile fast schon in einen ekstatischen Zustand. Selbst mit der dicken Jacke hockte ich zusammengesunken auf dem kleinen Bett, das neben einer Toilette und einem Waschbecken zur einzigen Ausstattung dieser Zelle gehörte. Die Bettdecke, deren Stoff dünner als mein kleiner Finger war, tat nichts, um meine Körperwärme vor der fröstelnden Kälte der Natur zu schützen.
Mein einziger Trost war es, zu wissen, dass es Blakes noch lebenden Freunden nicht besser ging. Ich konnte ihr Schlottern zwar nicht durch die Wände hören, war mir aber sicher, dass sie genauso litten wie ich. Das war es fast schon wieder wert. Aber nur fast und nur so lange, bis der nächste Windstoß durch das Fenster fegte und ich das Zittern in meinen eigenen Muskeln ignorieren konnte. Draußen neigte sich die Sonne gen Süden. Bereits jetzt warf sie lange Schatten in meinen kleinen Raum. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie untergehen und jede Wärme, die dieser Tag gespendet hatte, mitnehmen würde.
Ich ließ meine Augen in einem langsamen Schweifen über die Wände fahren – der Versuch, meine Konzentration auf etwas zu lenken, was die Kälte vergessen lassen würde, miserabel. Wie auch die Gänge war hier alles von Runen und anderen kulturellen Symbolen übersäht. Für jedes Schattenwesen eine ganz eigene Qual, um sie vom Ausbruch abzuhalten: Die Gitterstäbe in den Fenstern aus Silber, Davidsterne und Kreuze in den Wänden, Phrasen in einer der dämonischen Sprachen an Tür- und Fensterrahmen, die Zauber aussprachen.
Wir würde hier drin ausharren müssen, bis die Inquisitorin sich entschieden hatte, was mit uns passieren sollte. Sie hatte von einer Verhandlung gesprochen. Hoffentlich nicht wie meine Letzte. Ich glaubte, dass mich nur wenig so sehr erzürnte wie die Tatsache, dass Jonathan und mein Vater das Engelsschwert gestohlen hatten; jeder Zweifel an der Wahrheit nun berechtigt und den Weg freimachend für neue, qualvollere Methoden.
Bis Imogens Wachen mich hierher verfrachtet hatten, hatte ich die Last der vergangenen Stunden noch ziemlich gut von mir fortschieben können. Es waren so viele Dinge geschehen, so vieles hatte sich aufeinandergestapelt, dass ich förmlich von einer Katastrophe in die nächste gelaufen war. Es hatte dafür gesorgt, dass meine Aufmerksamkeit gespalten und nicht in der Lage gewesen war, alles realitätsnah zu verarbeiten. Doch so langsam sickerten die Bilder in mein Hirn durch; langsam realisierte ich, was geschehen war und was ich im Eifer von Emotionen zu alldem beigetragen hatte.
Erst die Entführung durch Malachi, das Aufwachen in Blake Ashdowns geheimer Waffenkammer, der Monolog meines Vaters über meine Zukunft und seine Pläne, die Verfrachtung in das Landhaus der Ashdowns ... Und trotz des vielen fanatischen Wahnsinns, gerieten meine Gefühle erst ab hier aus den Fugen. Als wäre bis zu diesem Punkt noch alles in Ordnung gewesen; als wäre bis hierhin noch nichts Gravierendes geschehen. Hatte ich mich an so viel Böswilligkeit bereits gewöhnt? Es folgte ... die Folter ... der Fluchtversuch ... die vielen Toten ... der Kampf mit Blake ... Adam ... Blake ... Tod ... seine Mutter.
In den verzerrten, verzweifelten Schrei von Cynthia Ashdown mischte sich in meinem Hirn mein eigener, nach dem Tod meiner Mutter. Ich hatte ihr ähnliches Leid zugefügt, welches Jonathan mir zugefügt hatte. Und ich bereute es ebenso wenig wie er den Tod unserer Mutter bereute.
Aber du bereust ihren Schmerz, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf. Bereut er deinen?
Mit schüttelndem Kopf sprang ich vom Bett. Im Versuch, die Kälte abzuschütteln, streckte ich meine bebenden Arme aus, hüpfte auf der Stelle, lief im Kreis. Alles, was mich ablenken würde. Alles, was die Steifheit aus meinen Adern vertreiben würde. Und während ich Übung um Übung durchging, die ich schon seit Kindheitstagen durchlief, um mich vor dem Training aufzuwärmen, rückten die geringen Temperaturen tatsächlich etwas in den Hintergrund. Der Atem, der meinem Mund entkam, bildete nun stärkere Wölkchen gegen die Luft des Raumes, aber mir wurde immerhin warm. Das Einzige, was der Sport mir nicht brachte, war Ablenkung von meinen Gedanken.
Ich hing immer noch in den Ereignissen der letzten vierundzwanzig Stunden, als von der dicken Adamanttür plötzlich ein Raunen kam. Ein metallisches Klackern drang zu mir herüber, wie wenn jemand mit einem Schlüssel das Schloss öffnete. Dabei war das irrsinnig, weil sie Stelen dafür benutzten. Meine Füße hielten inne und ich machte einige Schritte vom Eingang zu meiner Zelle fort, als die Tür zu ruckeln begann und sich schließlich unter dröhnendem Stöhnen nach innen öffnete.
War die Zeit etwa bereits um? Hatte die Inquisitorin bereits eine Entscheidung getroffen?
Eine Garnisonswache geriet in mein Blickfeld. Unter einer pelzigen Kapuze in Dunkelheit gehüllt, konnte ich ihre Augen nicht ausmachen, aber ihrer passiven Körperhaltung zur Folge war sie nicht hier, um mich irgendwo hinzubringen. Eine Sekunde später schritt sie zur Seite und jemand anders trat in den Kegel des spärlichen Elbenlichts.
Jace. Sein blondes Haar fiel ihm in kurzen Locken knapp über die Ohren und warf lange Schatten über sein Gesicht. Unsere Augen trafen sich über die kurze Distanz hinweg und er blinzelte mehrmals. Als wäre er sich unsicher, ob tatsächlich ich da vor ihm stand. Dann drehte er den Kopf zu der Wache, nickte ihr zu und trat in meine Zelle. Keinen Moment später schloss sich die Tür hinter ihm mit einem dumpfen Schlag. Jace' Lippen hoben sich ein Stück.
„Was machst du hier?", war das Erste, was aus meinem Mund schoss. Dabei gab es mindestens ein Dutzend wichtigerer Fragen, die ich hätte stellen müssen.
„Ich dachte mir, dass du in diesem Drecksloch vielleicht einige Sachen gebrauchen könntest, um die Nacht zu überleben", erklärte Jace voller Tatendrang und erst jetzt senkte sich mein Blick auf den eigentlich unübersehbaren Stapel aus Kleidung in seinen Händen. „Hier drin ist es ja echt zum Erfrieren."
Ich beobachtete Jace schweigend, wie er zu meinem Bett herüberging, den Stapel ablegte und in seiner Hose ein Elbenlicht herauskramte. Als er sich zu mir umdrehte, war von seinem gutgelaunten Gesichtsausdruck nicht mehr viel übrig. Also nur aufgesetzt. Der Schein des Elbenlichts verlieh seinen Zügen eine durchdringende Erschöpfung und ich konnte wieder die Anstrengung, die Sorge sehen, die mir bereits kurz vor unserem Sprung durch das Portal aufgefallen war.
„Wieso sind deine Haare nass?", fragte Jace und nahm eine meiner vom Wasser verklebten, kalten Haarsträhnen zwischen seine Finger. Sein warmer Atem hob sich ebenso von der fröstelnden Luft ab wie meiner; prallte gegen meine Haut und ließ mich ihm mehr entgegenlehnen.
„Ich habe versucht, mich zu waschen", erklärte ich und deutete auf das kleine Waschbecken an der Wand hinter mir. Ich war voller Blut und Dreck gewesen, als man mich hier abgeladen hatte. Während ich mein Gesicht und Haare mit zitternden Händen davon befreit hatte, hatte ich es nicht über mich bringen können, die einzigen Klamotten, die ich hier drinnen besaß, ebenfalls zu befeuchten. Die Haare nass gemacht zu haben, war genug Lehre gewesen. Stunden später waren sie gefühlt noch genauso nass wie nach dem Abtrocknen.
Jace schnaubte ungläubig. „Beim Erzengel, Clary, manchmal glaube ich, du hast wirklich einen Todeswunsch." Trotz dem Vorwurf klangen seine Worte nicht anklagend. Er griff nach meinem Handgelenk und zog mich zum Bett herüber. „Ich habe dir was mitgebracht, was helfen wird." Er kramte im Stapel und hielt mir dann ein Bündel mit dunklen Kleidern hin. „Die Wintermontur aus deinem Schrank. Sie sollte dich mehr wärmen als das, was Blake dir gegeben hat. Und deinen Mantel habe ich auch dabei."
Ich konnte das Seufzen nicht zurückhalten, welches meine Kehle verließ. „Danke." Meine Stimme hörte sich selbst in meinen Ohren erleichtert und durchgefroren an. Dafür löste der Geruch meiner eigenen Klamotten den Knoten in meiner Brust etwas. Der Gedanke, dass Jace sich die Mühe gemacht hatte, meinen halben Kleiderschrank herzubringen, rührte mich mehr als ich erwartet hätte. „Willst du deinen Mantel zurück?"
Jace schüttelte ungeduldig den Kopf und nun schlich sich doch etwas wie ein Schmunzeln auf sein Gesicht, als er an sich herabdeutete. „Mach dir keinen Kopf. Ich habe mehr als genug Mäntel, um durch diesen überaus penetranten Winter zu kommen. Aber du nicht, wenn du weiter hier rumstehst." Damit drehte er sich fort von mir, die Hände hinter seinem Rücken verschränkt, um mir jede Privatsphäre zu gewähren, die hier möglich war.
Als ich zwei Minuten später in meinen eigenen Sachen steckte – schwarze Schattenjägermontur, innen mit Schafsfell gepolstert und passende Lederstiefel, die einem Schneesturm trotzen würden – ging mein Atem bereits ein bisschen ausgeglichener. „Du kannst dich wieder umdrehen", murmelte ich und stülpte mir meinen eigenen Wintermantel über die Schultern.
Langsam, als wollte er sicher gehen, dass ich auch wirklich fertig war, wendete Jace sich wieder mir zu. Sein Lächeln wurde größer und er wirkte ziemlich zufrieden mit sich. „Besser?"
Anstatt zu antworten, überraschte ich sowohl mich als auch ihn, als ich den wenigen Abstand zwischen uns überbrückte und meine Arme um seine Mitte schlag. Für einen qualvoll langen Moment lehnte Jace' Körper stocksteif gegen meinen und ich bereute bereits, die Vorsicht über Bord geworfen zu haben. Das Gefängnis hatte nicht dafür gesorgt, dass ich meine Gefühle besser unter Kontrolle hatte, eher das Gegenteil. Doch dann erwachte Jace aus seiner Starre und seine Arme, die bis jetzt bewegungslos an seinen Seiten verharrt hatten, fuhren hoch zu mir, schlangen sich behutsam um meinen Rücken und drückten mich näher an sich heran.
„So viel besser", flüsterte ich in die Hitze hinein, die von Jace ausging.
„So bin ich nun mal." Ich musste ihn nicht anschauen, um sein Grinsen hören zu können. „Der unfehlbare Retter in der Not."
„Wobei ich die Nacht auch sicherlich ohne dich überlebt hätte. Ich habe Schlimmeres überlebt."
Auch wenn ich es nicht böse gemeint hatte, schien das Jace wieder zurück auf die Erde zu bringen. „Natürlich hast du das", sagte er und als er sich von mir fortlehnte, schaute ich wieder in die ernstere Version seiner selbst, der ich in den vergangenen Wochen am meisten begegnet war. „Was nicht heißt, dass deine Freunde dir nicht helfen können, wo es möglich ist. Du bist nicht allein. Auch wenn sich die Stunden seit Malachis Entführung vielleicht anders angefühlt haben."
Die Erwähnung von Malachi brachte auch mich wieder auf den Boden der Tatsachen. Für den Bruchteil eines Moments hatte ich alles um mich herum einfach vergessen können. Ich fragte mich, ob es immer nur bei diesen Schnipseln einzelner Augenblicke bleiben würde. Jace, der spürte, wie meine Muskeln gegen seine an Passivität gewannen, löste sich von mir und setzte sich auf mein Bett.
„Was ist mit deinen Verletzungen?" Jace' prüfender Blick fuhr über meinen Körper und blieb an meiner Hüfte hängen. „Du siehst ... gesund aus."
„Sie haben einen Heiler hergeschickt, der sich um alles lebensbedrohliche gekümmert hat."
„Immerhin." Die Nachricht schien eine Dringlichkeit aus seiner Gestik zu nehmen, die eben noch da gewesen war. „Ich habe dir noch etwas mitgebracht." Seine Hände zogen an einer Felldecke und darunter zum Vorschein kam eine runde Dose, die er nun vorsichtig in die Hand nahm. Als er den Deckel abnahm, kam mir ein so köstlicher Geruch entgegen, dass mein Magen sich fast schon schmerzhaft zusammenzog. Ich saß schneller neben Jace als ich blinzeln konnte. „Maryse hat sie gekocht. Sie ist noch warm."
In der Tat, von der Suppe wehten helle Dunstschwaben der Decke entgegen. Meinem Mund entkam ein Seufzen als Jace mir die Dose in die Finger drückte, die Wärme Balsam für meinen frierenden Körper. Allein Jace' Blick hielt mich davon ab, die Suppe in einem Zug herunter zu schlingen. Es wäre mir egal gewesen, wenn sie mir den Rachen verbrannt hätte. Gerade hätte ich vieles gegeben, um in glühend heißem Wasser zu liegen.
Jace reichte mir einen Löffel und ich begann leise zu essen. Ich gab mir Mühe, Schluck um Schluck der Suppe zu trinken und meinen Magen nicht zu überfordern. So würde mir länger warm sein. Während ich aß, setzte Jace sich im Schneidersitz mir gegenüber und erzählte, was nach meiner Verfrachtung ins Gefängnis geschehen war.
„Der Rat tagt seit Stunden. Meine Großmutter hat sie über alles, was passiert ist, in Kenntnis gesetzt. Wir haben keinen Konsul mehr, Malachi sitzt auch in Haft. Cynthia Ashdown hat ihre Leute mobilisiert, aber sie sind nicht genug, um etwas gegen den Rat ausrichten zu können. Adam wird durchkommen, er liegt noch in den Basilias. Seine Eltern, die angeblich von Nichts eine Ahnung hatten, versuchen zwar, dich irgendwie zur Schuldigen zu machen, aber es gelingt ihnen nicht. Anscheinend haben genügend Leute gesehen, wie Adam dich auf den Feierlichkeiten abgefüllt haben. Es ist klar, dass auch er da nicht straflos rauskommen wird. Ansonsten ist der Rat sehr gespalten. Dass Blake tot ist, ist für uns am besten. Hätte er jeden anderen Schattenjäger entführt, dann hätten sie ihm sofort die Runen entzogen, aber weil es sich um dich handelt, zögern viele, härtere Strafen zu fordern."
„Das hört sich ja alles großartig an. Wahrscheinlich wollen sie mich noch für seinen Tod bestrafen, stimmt's?" Ich klang bitter genug, dass Jace die Lippen verzog.
„Sehr wahrscheinlich, ja", merkte Jace so neutral wie möglich an. „Aber bei den anderen ..." Er zuckte die Schultern. „Wir glauben, dass es auf Notwehr hinauslaufen könnte. Das wird sich alles entscheiden, wenn der Rat eure Aussagen aufnimmt."
Mit einem abgehackten Nicken trank ich den letzten Rest der Suppe und schaute enttäuscht auf die leere Dose hinab. In einer sanften Bewegung nahm Jace sie mir ab, verschloss den Deckel und schob sie zur Seite. „Wenn wir schon dabei sind", brachte er leise hervor, wich dabei aber meinem Blick aus. „Ich weiß, dass es dir schwerfällt darüber zu reden. Das ist mir vorhin beim Landhaus schon aufgefallen. Aber würdest du mir davon erzählen? Von allem, was passiert ist, nachdem ich ... dich draußen stehengelassen habe."
Von dem selbsteingenommenen jungen Mann von vor wenigen Minuten war nicht mehr viel übrig. Jace' besorgte, reuevolle Augen hatten seinen dunklen Ton angenommen. Er rieb seine Finger gegeneinander, während er sprach, als würde ihm mit jeder Minute, die er hier verbrachte, kälter und kälter werden. Ich wartete bereits darauf, dass er aufsprang und seinen Rückzug ankündigte. Doch obwohl auch er offensichtlich fror, bewegte er sich keinen Zentimeter. Seine fragende Forderung allein zeugte vom Gegenteil.
Ich hob nicht den Kopf, um Jace' Gesicht zu begegnen, ahmte ihm jedoch seine Haltung nach, als ich mich ihm gegenüber in den Schneidersitz setzte. Unsere Knie berührten sich in einer federleichten Berührung, aber weder er noch ich handelten dahingehend. Mir wurde klar, dass er wartete, weil er nicht wusste, wie ich reagieren würde. Vielleicht dachte ein Teil von ihm, dass ich ihn wegschicken würde. Ein Teil von mir wollte auch gar nicht erzählen, aber es war so wie heute Mittag draußen auf den verschneiten Feldern von Idris. Etwas in mir wollte sich ihm öffnen; wollte ihn teilhaben lassen.
Jace gab mir ein merkwürdiges Gefühl der Sicherheit. Ich hatte mich mein Leben lang sicher gefühlt. Ich war stark, stärker als die meisten Schattenjäger. Ich war in der Lage, auf mich achtzugeben, mich zu beschützen. Doch Jace gab mir eine andere Art der Sicherheit. Eine Facette, von der ich nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierte. Kein Sicherheitsgefühl im Sinne von Stärke, Kraft oder Macht, sondern von Nähe, Einheit und Vertrauen. Ein Gefühl, welches nicht einmal Jonathans Bruderschaft mir schenken konnte.
Das war der Grund, weshalb ich Jace von Anfang bis Ende berichtete, was geschehen war. Von der Entführung, der Tatsache, dass Jace in Blakes Keller nur wenige Meter von mir entfernt gewesen war, der Folter und der Flucht bis zu meinem ersten Kampf mit Blake, Adams plötzlichem Einmischen und seiner eigenen Ankunft. Ich erzählte ihm alles. Von den Worten, die mein Vater und ich gewechselt hatten, bis zu den Instrumenten, die Blake benutzte. Alles, so detailreich, dass es schmerzte. Ich überraschte mich selbst damit.
Als ich fertig war, herrschte Stille. Ich konnte nicht sagen, für wie lange. Seit Jace durch diese Tür getreten an, fühlte sich alles seltsam zeitlos an. Ich hob erwartungsvoll den Kopf, unsicher, was mich erwarten würde. Jace hatte kein Wort gesagt, mich nicht unterbrochen, während ich geredet hatte. Obwohl ich in den letzten Tagen viel Zeit mit ihm verbracht hatte, wusste ich nicht, ob es ein gutes oder schlechtes Omen war.
Was mich überraschte, war der lodernde Zorn in Jace' Augen, die glühten wie die Flammen eines tosenden Feuers. Er bleckte die Zähne und war mit einer blitzschnellen Beugung seines Körpers in meinem Privatbereich. Ich zuckte nicht, ging nicht in Abwehrhaltung. Ich saß einfach nur da und erwiderte den Kontakt seiner Pupillen mit ... ich wusste nicht, ob ich meine Maske fallen gelassen hatte, als ich erzählt hatte. Wahrscheinlich schon. Ich weinte nicht – zum Glück nicht schon wieder – aber ich konnte die erdrückende Niedergeschlagenheit in meinen Wangenmuskeln spüren.
Noch mehr überraschten mich die Worte, die Jace als nächstes über die Lippen gingen. In einem Ton, den ich ihn seit vermutlich unserer ersten Begegnung nicht mehr hatte nutzen hören. „Ich würde ihn umbringen. Wenn er nicht bereits tot wäre, würde ich ihn umbringen", zischte Jace, die Wut zwischen uns greifbar wie die scharfe Kante eines Messers. Ich wusste sofort, dass er über Blake sprach. „Er hatte Glück, dass du ihn getötet hast. Du hast ihn verschont, ihm einen schnellen Tod gewährt. Ich glaube nicht, dass ich mich so kontrollieren oder ihn mit einem einfachen Durchschneiden seiner Kehle hätte davonkommen lassen können. Ich bereue, dass er tot ist, weil er nicht das Ende gekriegt hat, das er verdient hat."
„Ich hätte mir Zeit gelassen, wenn du nicht da gewesen wärst", gab ich zu, erklärte aber nicht die doppelte Bedeutung meiner Worte. „Es gab zu viele Variablen zu berücksichtigen. Ich wollte die Sache endlich ein für alle Mal beenden." Meine Aufmerksamkeit flackerte von ihm zur verriegelten Tür. „Wie lange lassen sie dich eigentlich bleiben?" Für einen Gefangenenbesuch war er schon ziemlich lang hier.
Jace zuckte mit den Schultern. Die Hitze seines Gemütszustandes milderte sich. „Keine Ahnung. Sie werden schon kommen, wenn ich gehen soll." Er zögerte. „Willst du, dass ich gehe?"
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich ... bin froh, dass du hier bist. Danke nochmal für die ganzen Sachen."
„Bedanke dich nicht dafür bei mir." Jace griff nach meinen Händen, nahm sie zwischen seine Finger und drückte sie fest. Seine Haut war ebenso kalt wie meine. „Ich müsste noch viel mehr tun, um irgendwie wieder gut zu machen, was ich gestern Abend angerichtet habe. Das hier ist nicht mal das Mindeste."
„Du musst kein schlechtes Gewissen haben, Jace. Wirklich nicht." Ich entzog ihm meine Finger und rückte etwas von ihm ab. Es war dasselbe Szenario wie einige Wochen zuvor, nachdem ich sein Leben vor dem Dämon gerettet hatte und er mir wegen seiner Schuldgefühle nicht von der Seite weichen wollte. Seine Freundlichkeit bedeutete mir etwas. Seine Gesten ließen mich akzeptiert fühlen. Aber nicht, wenn der einzige Grund sein Gewissen war. Er sollte nichts davon tun, nur weil es eine Schuld zu begleichen gab. Das machte alles zunichte. Wertlos. Und obwohl ich meine Ehre selbst kaum umgehen konnte, oft in ihrem Sinne handelte, weil ich so erzogen worden war, hasste ich es, wenn Jace seinem eigenen Ruf der Ehre folgte.
„Ich habe aber ein schlechtes Gewissen und richtig so. Hätte ich mich nicht wie der größte Vollidiot auf dieser Welt verhalten, dann hätte ich dich dort draußen nicht allein gelassen. Dann wäre das alles vielleicht nie passiert, dir würde es möglicherweise gut gehen. Du müsstest nicht in dieser Zelle hocken. Also ja, ich fühle mich schuldig und das völlig zurecht." Jace schien mit jedem Satz erregter zu werden. Als hätte er sich stundenlang den Kopf darüber zerbrochen.
„Ich will dein Mitleid aber nicht", knurrte ich in Antwort und riss mich vollends von ihm los. Jace zuckte, aus der Bahn geworfen, vor meiner Reaktion zurück. „Ich will dein schlechtes Gewissen nicht." Ich will nicht, dass du all das nur deswegen getan hast. Ich will nicht, dass du das Gefühl hast, den Kuss hinter der Abkommenshalle nur aufrechterhalten zu müssen, damit ich nicht entführt werde. Ich will einfach nur, dass du aus freien Stücken handelst. Natürlich sprach ich nichts davon laut aus. „Ich ..." Jace' erstaunter Ausdruck war genug, um die Lippen für die Wahrheit zu verschließen. Eine Wahrheit, die uns wahrscheinlich weiter auseinandergebracht hätte, als ich gerade bereit war, zu akzeptieren. Ich hatte bereits Adam verloren und so egoistisch, wie es sein mochte, ich wollte mir seinen Grund für das Beenden des Kusses nicht anhören. Ich konnte nicht. „Ich sollte schlafen", murmelte ich stattdessen. „Ich brauche Schlaf. Ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan."
Jace nickte mechanisch, machte aber keinerlei Anstalten, aufzustehen. Stattdessen rückte er sich wieder zu mir herüber, langsam und schwankend, die Unsicherheit deutlich auf seinen Zügen zu erkennen. Als er seine Hände hob und sie um meine Wangen schloss, hörte ich auf zu atmen. Die Kälte in seinen Fingerspitzen pulsierte gegen meine Haut, obwohl er mein Gesicht so sanft festhielt, dass ich mir die Berührung auch nur hätte einbilden können. Jace' dunkle Pupillen waren von Schwermut getrübt als meine ihnen begegneten. Sie wichen ihnen aus, als könnten sie dem Gewicht in meinen nicht standhalten.
„Ich bereue es, fortgegangen zu sein, das musst du mir glauben, Clary", flüsterte Jace in die Stille zwischen uns hinein. Sein warmer Atem kitzelte auf meinem Gesicht, ließ die Hitze in meine Wangen schießen. „Ich habe noch nie in meinem Leben etwas so sehr bereut. Ich bin fast krank geworden vor Sorge, vor Verzweiflung, als mir klarwurde, dass du fort warst. Du hattest noch keine Gelegenheit, mit Izzy zu reden, aber das Erste, wovon sie dir erzählen würde, wäre die Szene, die ich deinetwegen gemacht habe." Er schnaubte und verdrehte die Augen bei einer Erinnerung, doch ich konnte mich nicht rühren. Auch ohne den frostigen Wind, der von draußen hereinwehte, wäre ich an Ort und Stelle festgefroren gewesen.
In meinem Kopf sprudelten die Fragen nur so hervor. Meine Lippen zuckten in dem Bedürfnis, sie eine nach der anderen auszusprechen; dieses Gespräch in eine endgültige Richtung zu lenken. Doch obwohl Jace' Ausdruck vollkommen ehrlich und hingegeben wirkte, fürchtete ich mich vor der Gewissheit. Denn etwas in mir sagte, dass er die Wahrheit sprechen würde, egal was ich ihn nun fragte. Und Tatsache war, dass ich nicht wusste, was für ihn die Wahrheit war. Sie könnte dieselbe Wahrheit sein wie meine, es gab Indizien, die darauf hindeuteten, wie die Art und Weise, mit der er gerade jetzt meine Wangen umklammert hielt. Oder dem Blick des flüssigen Goldes seiner Iris. Aber die Wahrheit konnte genauso gut das Gegenteil meiner eigenen sein, auch dafür gab es genügend Indizien. Der Blick, den er mir nach unserem Kuss am Lichten Hof zugeworfen hatte oder wie er unseren Kuss gestern Abend nicht einmal ausgehalten hatte und geflüchtet war.
Wer war ich schon, um die Wahrheit zu erkennen? Sah man nicht immer das, was man sehen wollte? Fakt war, dass ich zu wenig Zeit in Gesellschaft anderer Nephilim außerhalb meiner Familie verbracht hatte, um irgendeine reale soziale Erfahrung vorweisen zu können. Alles, was ich über den Menschen wusste, war das, was mein Vater Jonathan und mich in Psychologie gelehrt hatte und das hatte mit Liebe nicht viel zu tun. War mir Adams Liebe nicht bis zum bitteren Ende verborgen geblieben? Ohne sein Geständnis wäre ich mir seiner Zuneigung wahrscheinlich niemals bewusst geworden. Fakt war, dass ich abseits des Schlachtfelds von Nichts eine Ahnung hatte. Fakt war, dass Jace gesagt hatte, versuchen zu wollen, mit mir befreundet zu sein. Mehr nicht.
Und abgesehen von alldem gab es da noch Jonathan und den bevorstehenden Krieg, den es zu gewinnen galt. Ich konnte mir keine Ablenkung erlauben. Das Leben in der Mitte der Nephilim hatte mich bereits genug aus meinen Fugen gebracht. Mein Fokus musste einzig und allein auf Jonathan liegen. Stattdessen hatte ich mich in Intrigen und Verschwörungen hineinziehen lassen und war meinem eigentlichen Ziel, stark genug zu sein, um meinem Bruder trotzen zu können, nur ein kleines bisschen nähergekommen.
„Jace ..." Schwach und erschöpft lehnte ich mich fort von ihm. Bis meine Wangen seinen Fingern entglitten und sie zwischen uns in der Luft verharrten. „Ich kann darüber jetzt nicht sprechen. Ich kann darüber jetzt nicht nachdenken. Lass uns darüber reden, wenn das alles vorbei ist." Falls ich dann noch lebe. Ich wollte mich nicht festlegen, fürchtete mich davor. Zumindest war es das, was der scharfe, rationale Teil meiner Selbst sich einredete; wie er den sehnsüchtigen, leidenden Teil zum Schweigen brachte. Wenn du es so lange ausgehalten hast, wirst du die Last noch ein wenig länger mit dir rumtragen können.
Jace sah aus, als hätte ich ihn geschlagen. Nicht physisch, sondern psychisch. Als hätte ich meine Faust direkt in sein Herz gerammt und seine Seele in einer brutalen, ruckartigen Bewegung aus ihm herausgerissen. Seine Lider flatterten, wie wenn er versuchte, seine Emotionen im Schach zu halten. Dennoch konnte ich die Enttäuschung und Niedergeschlagenheit sehen, die für den Bruchteil einer Sekunde über sein Gesicht huschten. Wie ein Blitz, den man nur aus dem Augenwinkel wahrnahm. Dann straffte er die Schultern, warf jegliche Gefühle mit einem Kopfnicken ab und erhob sich geschmeidig aber viel zu hektisch vom Bett.
„Es ist spät", gähnte er und zupfte sich seine Montur zurecht. „Ich hoffe die Decke hilft beim Warmhalten."
Am Fußende des Bettes, neben meinen schmutzigen Klamotten, die ich ausgezogen hatte, lag eine ordentlich zusammengefaltete Decke, die Jace gemeinsam mit den anderen Dingen mitgebracht hatte. Aus gepolstertem Fell gefertigt war sie dick genug, um mich warmzuhalten. „Danke", wiederholte ich heute bestimmt zum hundertsten Mal. Diesmal schlich sich jedoch ein schlechtes Gewissen in meine Brust.
Jace ging nicht erneut auf meine Dankbarkeit ein. Stattdessen schritt er zur Tür. „Bis morgen dann." Ich antwortete nicht und schaute stumm dabei zu, wie er mit geballter Faust gegen die Tür klopfte. Dreimal. Der stumpfe Ton höher als bei einer Holztür. Laut genug, um meine Zellennachbarn aus ihren Träumen zu reißen. Wir warteten vergeblich auf eine Reaktion. Jace wiederholte sein Klopfen. Doch von der Wache hinter der Zellentür fehlte jede Spur. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte sie die Warterei aufgegeben, um an ihren eigentlichen Posten zurückzukehren.
„Wie genau wollte man dich denn wieder hier rausholen?", fragte ich skeptisch nach seinem vierten Versuch, die Aufmerksamkeit der anderen Seite zu erlangen.
„Wir ..." Jace seufzte und raufte sich die Haare. „Wir haben nichts ausgemacht. Ich dachte, dass sie mich nach Ende der Besuchszeit rausholen würden. Also, es war zwar nie die Rede von einer Besuchszeit, aber die gibt es im Gefängnis doch immer." Er drehte der Tür den Rücken zu und lehnte sich gegen den Adamant. „Sie können mich doch nicht einfach hier vergessen haben."
„Vielleicht gab es einen Wachwechsel", mutmaßte ich und erstaunte wohl uns beide, als ich daraufhin zu lachen begann.
Jace' Augen weiteten sich in Reaktion und einen Moment lang wirkte er verdattert. Bewusst wie selten ich lachte, verzog sich sein Mund zu einem minimalen Schmunzeln. Er vergrub die Hände in den Taschen und zog eine Grimasse. „Wenigstens habe ich etwas Warmes an", brummte er, offensichtlich verstimmt.
Ich spähte hoch zu dem kleinen Fenster. Hinter den Gitterstäben war Dunkelheit eingekehrt. Ohne den Elbenstein in Jace' Hand wäre der Raum in völlige Finsternis gehüllt. Mein Blick glitt zurück zu ihm und schließlich zum Bett. Es war wahr, als ich gesagt hatte, dass ich Schlaf brauchte. Die Erschöpfung zerrte schon stundenlang an meinen Gliedern. Mit einem unterdrückten Seufzen rieb ich mir die Augen und winkte Jace schließlich herüber.
„Komm her." Die Forderung war mehr eine offene Einladung, die ich in neutralem Ton übermittelte. „Das Bett ist nicht groß, aber es ist immer noch besser, als auf dem Boden zu erfrieren. Ich glaube deine Großmutter würde mich dann tatsächlich umbringen, falls sie nicht bereits meine Hinrichtung plant."
Jace zögerte und der Grund war offensichtlich. Nach dem Abbruch unserer Konversationen nur Minuten zuvor, war die Aussicht, nun eine Nacht im gleichen Bett mit mir verbringen zu müssen, nur wenig verlockend. Falls sie vorher denn überhaupt verlockend gewesen war. „Es geht hier nur ums Überleben", versuchte ich zu unterstreichen.
„Du hast recht." Jace setzte sich neben mich auf die Matratze, diesmal mit einer Armlänge Abstand zwischen uns. Er grinste leicht. „Ich habe nicht übel Lust, morgen als Eisklotz hier rauszukommen."
Ich behielt meinen Wintermantel an, zog allein die Stiefel aus, als ich nach der Decke griff und zur Wand rückte, damit Jace sich neben mich legen konnte. Er trödelte, brauchte eine halbe Ewigkeit, bis er sich aus seinen eigenen Schuhen befreit und die unzähligen Waffen auf dem Boden abgelegt hatte. Ebenso wie ich streifte er seine Jacke nicht ab. Als er endlich flach neben mir lag, reichte ich ihm das rechte Ende der Felldecke und unsere unterkühlten Finger streiften gegeneinander. Ein Schauder fuhr durch meinen Körper und Jace' Augen blitzten in Reaktion, aber keiner von uns reagierte. Schulter an Schulter nahmen wir die gesamte Breite der Matratze ein, wobei Jace fast doppelt so viel Platz benötigte wie ich. Ich presste mich bereits an die Wand und ignorierte das Eis, welches von ihr auszugehen schien.
Jace sagte kein Wort als er zuletzt den Elbenstein ablegte und uns somit in tiefste Schwärze hüllte. Für einige Momente wagte ich es nicht, zu atmen. Der Gedanke, mit ihm unter einer Decke zu liegen, sein Körper direkt an meinen gelehnt, wenn auch hart und unempfänglich, trieb die Wärme wie von selbst durch meine Adern.
Du rennst in dein Verderben, flüsterte die rationale Stimme in meinem Kopf und zwang mich dazu, Jace den Rücken zuzukehren.
Trotz der dutzenden Gedankengänge in meinem Gehirn, dauerte es nicht lange, bis die Müdigkeit der letzten vierundzwanzig Stunden Überhand gewann und mich in einen tiefen Schlaf zerrte.
oOo
Mein Körper zuckte. Einen Moment später schlug ich die Lider auf, nur um mit Finsternis konfrontiert zu werden. Mehrere Herzschläge lang hatte ich das Gefühl, zu ertrinken. Ich war atemlos, ohne sagen zu können, weshalb.
Etwas hatte mich geweckt. Doch selbst wenn ich die Augen wieder schloss, um in die Nacht hinein zu lauschen, war da kein Geräusch welches mir antwortete. Der Raum war totenstill und auch vom Fenster drang nichts an meine Ohren ... Allein der Atem der Person neben mir, hob sich vom Rest der Ruhe ab.
Ich brauchte mehrere Denkanläufe, bis ich mich daran erinnerte, wo ich war und wer da neben mir lag. Jace rührte sich nicht, seine Brust hob und senkte sich in einem ebenmäßigen Rhythmus. Ich wollte ihn nicht wecken und unterdrückte deshalb das Stöhnen, welches sich gegen meine Stimmbänder drückte.
Trotz der Kälte, die vom Zellenfenster hineingelassen wurde, war es hier unter der Decke erstaunlich warm. Jace' Körper neben mir glühte. Nur dass er nicht mehr völlig neben mir lag. Ich hatte ihm auch nicht, wie in meiner letzten Erinnerung, den Rücken zugekehrt. Vielmehr schmiegte sich die obere Hälfte meines Körpers an seinen. Die übrige Müdigkeit, die meine Gedanken vernebelte, fiel von mir ab, als ich realisierte, dass mein Kopf gegen seine Brust lehnte; abseits des flachen Kissens. Viel zu hastig versuchte ich, mich auf der Matratze aufzurichten. Es gelang mir nicht. Ein Gewicht lastete auf meinen Schultern, welches ich in der Dunkelheit nicht identifizieren konnte. Ich streckte meine Hand aus, um-
Plötzlich geriet der gleichmäßige Takt von Jace' Atem ins Schwanken. Er bewegte sich zur Seite, in die entgegengesetzte Richtung von mir, nur um im Halbschlaf innezuhalten, weil er bereits über der Kante des Bettes hing. Jace streckte seinen Arm und das Gewicht von meinen Schultern verschwand.
„Clary?" Jace klang nicht wirklich anwesend. Mein Name bestand aus zwei verschluckten Silben, die er gerade so aneinanderzureihen schaffte.
Ein lautloses Summen war meine einzige Reaktion. Er würde es in wenigen Sekunden wahrscheinlich ohnehin wieder vergessen haben. Ich stützte mich auf meine Arme und wollte mich gerade aufsetzen, als Jace' Hand plötzlich zu meinem Rücken schoss. Innerhalb eines Wimpernschlags hatte er nach meiner Taille gegriffen und mich in seine Richtung gezogen. Mir blieb gerade noch genügend Zeit, einen stockenden Atem hervorzubringen, bevor ich von jetzt auf gleich auf seinem Schoß saß und Jace' Lippen gegen meine krachten.
Obwohl die ganze Situation viel zu schnell ging, kostete mich erstaunlich wenig Denkzeit, um alle Widersprüche, die ich mir bei unserer Diskussion vorhin zurechtgelegt hatte, über Bord zu werfen. Mit einem Mal waren Jace' Finger an meiner Wirbelsäule, schossen hoch zu meinem Nacken und rissen mich dicht zu ihm heran. Er hatte sich aufgerichtet, lehnte nun gegen die Wand, die Beine angewinkelt und gegen mein Kreuz gedrückt, seine Arme fest um mich geschlungen, im Versuch, mich noch näher heranzubringen.
Meinen inneren Konflikt für einen Moment in die Ferne geschoben, erwiderte ich Jace' Kuss, ohne innezuhalten. Sein warmer Mund pressten sich fordernd gegen meinen und teilte meine Lippen auf der Suche nach meiner Zunge. Ich sah Sterne. Ich hatte das Gefühl, meine Seele würde meinen Körper verlassen.
Meine Finger fanden Jace' Schultern, schlossen sich um seinen Hals. Ich bewegte meine Hüfte nach vorn und Jace unter mir stöhnte. Er murmelte meinen Namen, huldigte ihn, als wäre ich eine Kreatur, die jede Verehrung verdiente. Unserer Körper, aneinander aufgeladen wie Magnete, wurden so warm, dass ich die Decke um uns herum zur Seite schieben musste, um Luft zu bekommen.
Die Kälte schien den Fluch zu brechen. Denn genauso plötzlich wie Jace mich in seinen Schoß befördert hatte, versteinerte er nun in seiner Handlung; seine Lippen nun hart und reaktionslos gegen meine.
„Clary?", fragte Jace wieder, diesmal um einiges gesammelter als eben noch. Galle stieg in meinem Magen auf als ich den Schrecken in seiner Stimme vernahm.
Prompt hatte ich den Kuss hinter der Abkommenshalle vor Augen, aus dem er genauso hektisch ausgebrochen war. Ich war dankbar, dass ich sein Gesicht in der Dunkelheit nicht sehen konnte. Allein sein Atem auf meiner Nase und die Tatsache, dass seine Arme immer noch in meinem Rücken lagen, sagten mir, wie nah wir uns weiter waren. Ich blieb still, unsicher, was meiner Kehle entspringen würde, wenn ich die Stimmbänder anspannte. Adrenalin schoss durch meine Adern, zwang mich, mich zurückzulehnen. Nur um seine Knie gegen meine Rückseite zu spüren.
Jace, dem das Beben meines Körpers natürlich nicht entging, räusperte sich. Seine Stimme klang dennoch nicht weniger heiser und atemlos. „Bitte sag etwas."
Als wäre ich diejenige, die gerade zum zweiten Mal einen Kuss abgebrochen hatte. Als wäre das die einzig vernünftige Reaktion auf einen Kuss mit mir. Nur weil mein Nachname Morgenstern war, hieß das nicht, dass ich keine Gefühle besaß und das musste er mittlerweile wissen. „Wieso ... hast du aufgehört?"
Zum ersten Mal interessierte mich mein verwundbarer Ton nicht. Obwohl ich den Konfrontationskurs eigentlich vermeiden wollte, konnte ich nicht anders als zu fragen. Zum einen war da mein gekränkter Stolz, aber noch viel Schlimmer das Gefühl der Ablehnung, welches sich darunter verbarg. Genauso wie gestern bildete sich dieser Kloß in meiner Kehle; schloss sich wie ein Draht um meinen Hals und zwang die Tränen in meine Augenwinkel.
„Ich dachte ich träume", kam es kleinlaut von Jace, das Geständnis auf seiner Zunge schwer wie Blei.
„Du dachtest du träumst?" Ich konnte die Verblüffung nicht zurückhalten.
„Es tut mir leid, ich wollte dich nicht überrumpeln", sagte Jace, anstatt weiter darauf einzugehen. So wie er sprach, klang er beinahe ... verlegen. Er schien keine Worte zu finden. Oder wollte nicht.
„Also wolltest du mich gar nicht küssen?" Ich bereitete mich auf das Messer in meiner Brust vor, hoffte, dass es nicht allzu schmerzhaft werden würde, auch wenn ich mir wieder nur etwas einredete. Es würde wehtun.
„Was? Nein- Doch." Jace klang verwirrter als der Anflug von Emotionen in meiner Mitte sich anfühlte. Auf einmal drehte sich die Welt um mich herum und ich musste meine Finger in seine Schulter graben, um nicht gegen ihn zu kippen. „Es tut mir leid, ich hätte das nicht tun sollen. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt." Während er sprach, löste er meine Finger in seinem Nacken.
Mein Herz machte einen taumelnden Schlag und setzte aus. Der folgende Atemzug aus meiner Lunge bebte und ich musste jede Faser zusammenreißen, um die Tränen nicht fallenzulassen. „Den richtigen Zeitpunkt wird es nie geben."
„Hey, warte. Warte!" Als ich versuchte, mich loszureißen, wurde Jace' Stimme plötzlich nervös. Seine Finger fuhren hoch zu meinen Wangen. „Weinst du etwa?"
Die Tatsache, dass er es laut aussprach und der offenkundige Schock in seinem Ton, trieben mich über den Rand. Zu vehement schüttelte ich den Kopf, wusste aber, dass jedes Wort aus meinem Mund einem Wimmern oder vielleicht – schlimmer noch – einem Schluchzen gleichkommen würde. Eigentlich war es egal. Seine Fingerkuppen strichen unterhalb meiner Augen entlang, wischten die Feuchtigkeit fort.
„Es tut mir leid, Clary, es tut mir so leid." Dann küsste Jace mich ein zweites Mal. Ein kurzer, liebevoller, sanfter Kuss, der mich aufkeuchen ließ. „In deiner Nähe schaffe ich es nicht, mich wie ein normaler Mensch auszudrücken. Ich beginne, Unsinn zu reden, weil- Du verwirrst mich. Du lässt mich meinen Kopf vergessen."
„Aber wieso diese zweideutigen Signale? Wieso schiebst du mich jedes Mal von dir?" Ich ließ mich von Jace' Armen in einen beruhigenden Rhythmus einlullen; ließ zu, dass er über meinen Nacken strich; seinen Daumen tröstlich über meine Haut fahren ließ.
„Gestern, da- Nein, vergiss gestern. Der Jace von gestern existiert nicht mehr. Wenn mich der Stunt gestern eines gelehrt hat, dann, dass mich meine eigenen Instinkte zu trügen versuchen. Du bist, wer du bist, und es ist mir egal. Du bist, wer du bist, und ich würde es nicht anders wollen. Kein Zögern mehr. Wenn jemand das Recht zu Zögern hat, dann du. Ich habe dich so lange wie Dreck behandelt, dass ich es nachvollziehen könnte, wenn du mir nicht verzeihen kannst. Ich war so geblendet von den Geschichten über Valentin und meinen Eltern, dass ich dich nicht sehen konnte. Jetzt sehe ich dich. Der hellste Stern am Himmel. Der einzige Stern am Himmel." Satz um Satz sprudelten die Worte aus Jace heraus, als hätte er sie schon viel zu lange versucht, zurückzuhalten. „Was gerade betrifft ... Ich war mir nicht sicher, was du willst. Deine Signale sind auch nicht gerade eindeutig, nur damit du es weißt. Nach unserer Diskussion war ich mir nicht einmal sicher, ob du mich ohne den ganzen Alkohol überhaupt geküsst hättest. Du warst so abgeneigt, darüber zu reden, dass ich dachte, du hättest kein Interesse."
„Also heißt das, du wolltest mich küssen?" Mehr brachte ich nicht raus. Meine Stimme war dünn wie ein Seidenfaden und ebenso schnell zu durchschneiden. In meinem Kopf drehte sich wieder alles, diesmal jedoch explodierte eine Welle der Hitze in meinem Bauch.
„Ich will dich immer noch küssen", erklärte Jace sachlich und beugte sein Gesicht zu meinem. „Darf ich?"
Alles, was ich zustande brachte, war ein knappes Nicken. Trotz der Dunkelheit schien er es mitzukriegen, denn eine Sekunde später verschmolzen unsere Münder erneut. Das zufriedene Seufzen, das Jace entkam, ließ mich vor Erfüllung aufkeuchen. Er löste sich nicht von mir, als er mich in seinem Schoß näher zu sich heranzog.
Meine Finger fanden ihren Weg zu seinem Haar und durch die höhere Position konnte ich mich ausnahmsweise über ihn beugen. Unsere Zungen kollidierten und ich war mir sicher, dass ich gefallen wäre, wenn Jace' Arme mich nicht stabilisiert hätten. Schnaufend versuchte ich, meine Balance wieder zu erlangen und ich hörte Jace gegen meine Lippen lachen; ein tiefer, rauer Ton, dessen Vibration auf meinen Körper überging und mir eine Gänsehaut bereitete. Ich drückte meine Finger stärker in seine Haare, zog daran und entlockte nun ihm einen entsprechenden Laut.
Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln als ich von ihm abließ, um Luft zu holen. Das Herz in meiner Brust lief einen Marathon, konnte nicht stillstehen, konnte das Verlangen kaum aushalten. Jace unter mir surrte zufrieden, im selben Rausch wie ich, und ich war mir sicher, dass seine Pupillen groß und geweitet und direkt auf mich gerichtet waren. Nur Zentimeter von mir entfernt, auch wenn die Schwärze sein Gesicht verbarg. Ich fragte mich, ob die Dunkelheit es uns einfacher machte.
Mit meinen Gedanken gleichzeitig hier und im Nirgendwo, beugte ich mich zurück zu Jace, der seine Arme in Antwort bereits enger um mich schloss. Ich konnte seinen Atem auf meinem Mund spüren, war gerade im Inbegriff, ihn wieder auf seinen zu drücken, als von draußen plötzlich ein haarsträubender Schrei durch die Nacht hallte.
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Ich hatte im Dezember sehr sehr viel um die Ohren. Zusätzlich dazu ging es mir nicht wirklich gut und ich konnte mich lange nicht aufraffen, zu schreiben oder hochzuladen. Vor allem die deutschen Geschichten hab ich dabei vernachlässigt. Das tut mir sehr leid!
Deshalb hab ich heute für ein ein sehr langes Kapitel. Eigentlich zu lang, um es in einen Teil zu packen, aber ich hab es jetzt mal für euch ganz gelassen. Dann habt ihr das Kapitel, welches vor zwei Wochen hätte kommen sollen, hier enthalten! :)
Liebe Grüße
Skyllen
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