Kapitel 54 - Courageous Confessions
Kapitel 54 – Courageous Confessions
Ich hatte meinen Weg zurück in Jace' Zimmer gefunden. Mittlerweile war Nacht eingebrochen, aber das kümmerte weder ihn noch mich besonders. Ich hockte auf seinem Bett, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, die Fotos, die Jace mir gegeben hatte, auf meinem Schoß ausgebreitet. Die Stunden vergingen, doch ich konnte nichts anderes tun, als sie anzustarren. Immer mal wieder nahm ich eines von ihnen in die Hand, hielt es mir direkt unter die Nase, um jeden Zentimeter genaustens zu betrachten; oder fuhr mit den Fingerspitzen über das auf Hochglanz polierte Papier. Als würde ich die Konturen meiner Familie nachzeichnen wollen. Als würde mich die Berührung ihnen näherbringen. Als könnte ich durch die Bilder hindurch aus dieser Realität verschwinden und in eine andere abgleiten.
Seitdem ich mich umgezogen hatte, hatten Jace und ich nicht viele Worte gewechselt. Ich befand mich immer noch in einem schwermütigen Zustand, spürte das Loch in meinem Magen weiterhin, wie wenn die Geister meiner Vergangenheit heute besonders laut nach mir schrien.
Jace saß ebenfalls auf dem Bett, jedoch am Kopfende und hinter einem Buch versteckt. Als könnte ihn das unsichtbar machen. Ich fragte mich, ob er bereute, mich hierher eingeladen zu haben; ob er wohl seine Ruhe haben oder schlafen wollte. Er beachtete mich nicht weiter, war voll und ganz auf die Seiten seines Buchs fokussiert. Wenn ich nicht so tief in meinen eigenen Gedanken gewesen wäre, hätte ich vielleicht die Gelegenheit genutzt, um ihn genauer zu betrachten.
Die Stimmen in meinem Kopf schrien durcheinander. Ich bekam es nicht auf die Reihe, mich zu lange auf eine von ihnen zu fokussieren. Mich beschlich das Gefühl, dass meine tiefen, auf Krampf gleichmäßigen Atemzuge das Einzige waren, was meine Mitte vom Zerbrechen abhielt. Warum war der Schmerz heute so stark? Warum raubte er mir heute jede Kraft, wenn er die letzten Wochen im Hintergrund gelungert hatte? Wie ein wildes Biest, welches sein hungriges Wesen für so lange versteckt hatte, bis ich es für gezähmt hielt, nur um nun auszubrechen und alles in seinem Weg zu verschlingen.
Die Fotos hatten mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Auf eine gute und schlechte Art. Sie gaben mir Trost und erinnerten mich daran, dass es einst gute Zeiten gegeben hatte – erinnerten mich an meine Mission; weshalb ich noch hier war, weshalb ich kämpfen musste, wen es zu rächen galt. Sie versetzten mich in Qual und führten mir vor Augen, dass ich so vieles verloren hatte – die Sinnlosigkeit meiner Mission; egal wie hart ich kämpfte, ob ich siegte oder verlor, nichts würde die Vergangenheit ungeschehen machen.
Und dann war da noch Jace, der mich ebenfalls verletzt hatte. Obwohl wir wieder miteinander sprachen, hatte ich die Sache am Lichtenhof nicht vergessen. Ich hatte die Erinnerung lediglich zurückgeschoben, wartend auf den richtigen Moment. Ich verzweifelte an meiner Einsamkeit – eine Einsamkeit, die über Freundschaft hinaus ging. Dieser Kuss vor der Elfenkönigin hatte dafür gesorgt, dass ich mich noch einsamer fühlte. Wegen dieses Blickes, den er mir danach zugeworfen hatte. Und obwohl ich aufgehört hatte, ihn zu ignorieren, nachdem Jonathan ihn beinahe umgebracht hatte, hatten wir nicht über diesen Kuss gesprochen. Ich wollte behaupten, dass seit seinem Angriff keine Zeit dafür gewesen wäre, doch das wäre gelogen. Für die wirklich wichtigen Dinge gab es stets Zeit. Es konnte Zeit geschaffen, Platz freigemacht werden.
Doch nun hockte ich hier auf Jace' Bett und brachte es nicht zustande, den Mund zu öffnen. Mir fehlte der Mut. Wegen dieses angewiderten Blickes. Weil ich mich vor seiner Ablehnung fürchtete. Und gerade jetzt war ich nicht bereit, mit dieser umzugehen. Egal wie viel Mühe ich mir gab, meine Stimmbänder anzuspannen, um die Frage hervorzubringen – um überhaupt seine Aufmerksamkeit von dem Buch auf mich zu lenken – kein Laut wollte ihnen entspringen. Einige Male atmete ich bereits tief ein, bereitete mich darauf vor, die Stimme zu heben, war mir sicher, dass ich jetzt die Überwindung gefunden hatte, nur um meine Schultern stumm in sich zusammensacken zu lassen.
Also starrte ich Jace an. Immer wieder, wenn ich mich mutig genug fühlte, um die Frage zu stellen, nur um wieder einen Rückzieher zu machen. Es gab so viele sichere Konstanten in meinem Leben. Dass meine Mutter tot, mein Bruder von einem Dämon besessen, mein Vater ein machthungriger Psychopath war. Dass ich meine Verbündeten an einer Hand abzählen konnte. Dass mindestens die Hälfte der Nephilim mich verabscheute und als Verräterin betrachtete. Dass einige von ihnen nicht davor zurückschreckten, mich zu töten. Jace war anders. Jace konnte ich nicht durchschauen. Ich hatte keine Ahnung um seine Begierden, Intentionen und Gedanken. Er sagte eines und tat gegenteiliges. Er hasste mich und dann auf einmal nicht mehr. Er küsste mich und dann schaute er mich an, als hasste er mich doch noch. Bei all den Konstanten in meinem Leben war Jace die einzige Variabel, deren Kurs ich nicht bestimmen konnte.
Papier raschelte. Buchränder schlugen dumpf zusammen. Jace ließ es von seinem Gesicht sinken. Er nahm einen langen, tiefen Atemzug und hob seine blonden Augenbrauen. Auffordernd. Erwartungsvoll. Seine Augen begegneten meinen und ich war so in meine Gedanken vertieft, dass ich nicht schnell genug wegschauen konnte. Er hatte mich beim Starren erwischt.
„Spuck's schon aus", verlangte Jace nicht unfreundlich, als ich nicht reagierte. Ich war unfähig, irgendetwas zu tun, zu tief war ich noch in meiner Trance. „Wenn du denkst, du wärst subtil darin, mich zu beobachten, dann muss ich dich enttäuschen. Außerdem ist dein erdrückendes Seufzen kaum zu überhören."
„Ich ..." Doch was sollte ich sagen? Die Wahrheit? Wieso hat dein Kuss uns im Feenreich gerettet? Wieso hast du mich danach angeschaut, als würdest du mich nicht ausstehen können? Wieder wollte mir keine Silbe über die Lippen kommen und langsam frustrierte es mich.
Jace, der meinen verärgerten Gesichtsausdruck wohl falsch deutete, kam über die Matratze zu mir herübergekrochen, bis uns nur noch eine Armlänge voneinander trennte. Er hatte das Buch achtlos liegengelassen und legte nun die Beine in einen Schneidersitz. „Ich war mir nicht sicher, ob du darüber reden wolltest", gab er zu und nickte zu den Fotos in meinen Händen. „Also habe ich dir Freiraum gelassen. Aber wenn es dir hilft, darüber zu reden, dann–"
„Selbst wenn es helfen würde, würde es nichts ändern", platzte es aus mir heraus und ließ ihn innehalten. Meine Stimme klang verwundbar. Defensiv zugleich. Man merkte ihr die vergangenen Stunden der inneren Qual an; merkte, dass ich gedanklich an einem völlig anderen, dunkleren Ort gewesen war. Sie ließ Jace sich mir entgegenlehnen. „Ein Teil von mir wünscht sich, dass das alles nie passiert wäre. Dass ich immer noch bei meiner Familie wäre, ganz gleich der Lügen. Ich wünsche mir nichts Sehnlicheres als meine Familie zurück und egal, welche Szenarien ich in meinem Kopf durchspiele, das ist das einzige Realistische."
„Ich kann deine Sehnsucht nur teilweise nachempfinden", murmelte Jace, ohne mich anzuschauen. Seine Augen waren angestrengt auf den Raum zwischen uns geheftet. „Ich kannte meine nie, also weiß ich nicht, ob es wirklich Sehnsucht ist, die ich empfinde. Meine Kindheit war gut, mir hat es an nichts gefehlt. Die Lightwoods haben mir immer das Gefühl gegeben, Teil ihrer Familie zu sein. Besonders am Anfang, als meine Großmutter nicht in der Lage war, sich um mich zu kümmern. Allein sie hat mir immer klargemacht, was wir verloren haben. Natürlich sind da Fragen. Fragen, was für ein Mensch ich wäre, wenn sie noch lebten. Wie sie wohl waren. Ob sie mich gemocht hätten. Aber mein Leben ist keine Lüge. Ich muss nichts hinterfragen. Nicht so wie du."
Für eine lange Zeit sagte ich nichts. Ich wüsste nicht, was. Jace hatte sich mir zuvor noch nie so geöffnet wie gerade. Bisher hatte er seine Familie immer so sehr vermieden, wie nur möglich. Von jetzt auf gleich bildete sich ein Kloß in meinem Hals, der von den tobenden Emotionen der letzten Stunden nur angefeuert wurde. „Vermisst du sie?"
Jace zuckte die Achseln und sah melancholisch aus. „Lange Zeit nicht. Maryse und Robert sind wie meine Eltern, ich kannte nie etwas anderes. Ich wusste nicht, dass es etwas zu vermissen gab. Erst als ich älter wurde und tatsächlich begriff, was mit meinen Eltern passiert ist, kamen diese Gedanken. Diese Fragen. Ich verspüre Zorn, dass ich sie nie kennenlernen durfte, ja. Aber eher um meiner Großmutter willen, weil ich gesehen habe, was die Trauer mit ihr gemacht hat. Ich hasse deinen Vater dafür, dass sie tot sind, aber ich habe eine Familie. Ich kann nichts vermissen außer eine Fantasie."
„Ich vermisse meine Familie. Ich vermisse alles an ihr. Die Zugehörigkeit. Die Zuneigung. Den Zusammenhalt. Ich wusste, wer ich war. Ich hatte einen festen Platz. Ich hatte meine Liebsten, mit denen ich mich sicher und geborgen fühlte. Ich wusste nicht einmal, was ich hatte, bis ich sie alle verloren habe. Jetzt fühle ich mich in manchen Momenten so einsam, dass ich spüre wie ..." Es gab nichts, um das zu beschreiben. Es gab nichts, was es verständlich machen würde. Ich dachte, es laut auszusprechen, würde es einfacher machen. Doch das Gefühl war immer noch da. Obwohl Jace mir so nahe war, hätte ich mich nicht einsamer fühlen können.
„Du bist nicht einsam", sagte Jace und griff nach meinen Fingern. Er drückte sie fest. Fest, so fest, wie ein Versprechen, nie wieder loszulassen. Ein sinnloses Versprechen, welches er nicht halten würde. Nicht konnte. „Du bist nicht allein. Vielleicht kommt es dir gerade so vor, aber du hast Menschen, denen du wichtig bist. Auch wenn es für dich verzweifelt wirken mag. Denk an Isabelle. Oder auch an Adam. Ich bin hier. Du bist nicht allein, Clary, ich bin hier. Immer."
Meine Augen fuhren hoch zu Jace' Gesicht und seine goldumrahmten Pupillen waren auf mich geheftet. Intensiv wie die Sonne zur Mittagsstunde. Warm und vehement und unumstößlich. Einlullend, wenn einem so kalt war, dass einem jede Hitze recht war. Schwerwiegend, wenn man sich nicht verbrennen wollte. Ich löste meine Hand aus seiner, die Reaktion auf seinen Zügen verfolgend. Jace hatte sich mir hingegeben, verletzlich, und ich hatte zugestochen. Sein Mitfühlen hatte seine Mauern zu stark heruntergefahren, um sie innerhalb eines Moments wieder aufbauen zu können. Also sah ich die Unsicherheit, Verwirrung und Zurückweisung.
„Ich glaube dir nicht", sagte ich und spürte, wie mein Körper auf hundertachtzig aufdrehte. Wie plötzlich alle Sinne zum Leben erwachten, als hätte mich jemand in kaltes Wasser geschubst. Wie das Adrenalin durch meinen Körper rauschte. So sehr hatte es mir nun also vor diesem Thema gegrault.
„Du glaubst mir nicht?" Jace schien ehrlich vor den Kopf gestoßen. Seine Finger zuckten auf seinem Schoß, wie wenn ihm diese vier Worte wehgetan hätten. „Habe ich nicht tagelang an deinem Krankenbett gesessen, um dich nicht alleinzulassen? Bin ich nicht halbtot zu dir herübergekrochen, damit du nicht allein sein musstest, während dein Bruder die Welt auf den Kopf stellte? Bitte sag mir, wie du darauf kommst, dass ich nicht an deiner Seite sein würde."
„Wir haben dasselbe Blut", platzte es schließlich aus mir heraus. Etwas völlig anderes, als ich hatte eigentlich sagen wollen. Plötzlich prallte ich gegen meine eigene Mauer, die zu hoch war, als dass ich herüberklettern und ihm die Wahrheit sagen konnte. „Die Engelskraft verbindet uns. Wir sind aneinandergebunden, weil wir beide eine besondere Gabe besitzen. Eine Gabe, von der wir keine Ahnung haben, wie sie funktioniert. Du brauchst mich, ich brauche dich. Das ist der Grund. Ohne diesen wären die Dinge anders."
Jace wirkte sprachlos. Er öffnete den Mund, den Kopf halb geschüttelt in Verneinung, die Augen geweitet in Befangenheit. Doch dann verhärtete sich das Gold seinen Iriden und Wut verwandelte seine Mimik in eine Eislandschaft. „Danke für deine Ehrlichkeit. Gut zu wissen, wie du darüber denkst." Meinte er mit darüber nun uns? Dieser Mann besaß wirklich eine überhebliche Doppelmoral. Ich hatte schon fast die Worte auf meinen Lippen, um ihm meine eigentliche Frage erbarmungslos entgegenzuschmettern, als er fortfuhr. „Alles klar, wenn die Engelskraft alles ist, was uns verbindet, dann sollten wir vielleicht an einer Lösung arbeiten, damit wir endlich mit unseren getrennten Leben fortfahren können."
Dieser Schmerz war anders als der von zuvor. Näher an der Oberfläche. Ich rügte mich für meine Worte, konnte gleichzeitig aber die eigene Verärgerung über ihn nicht zurückhalten. Ich erwartete, dass Jace mich jeden Moment aus seinem Zimmer schmiss. Unter dem Vorwand, dass es keinen Grund für uns gab, Zeit zusammen zu verbringen, wenn doch nur wegen des Engelsbluts.
„Da du so erpicht darauf bist, sollten wir sofort damit anfangen. Dann haben wir es schneller hinter uns." Er spuckte mir die Worte entgegen, als würde er eigentlich nichts lieber tun wollen, als mich tatsächlich rauszuschmeißen. Als würde er sich aus irgendeinem Grund zusammenreißen.
„Soll ich noch mehr Dinge sagen, über die du dich aufregen kannst, um deine Kraft besser kennenzulernen?" Meine Stimme klang neutral, fast gelangweilt, aber die Doppelzüngigkeit war nicht zu überhören.
Ein Sturm braute sich in Jace' Augen zusammen und er musste sich auf die Zunge beißen, um mir nicht das Erstbeste an den Kopf zu werfen, was ihm durch den Kopf ging. Stattdessen entließ er einen kräftigen, zittrigen Atemstoß. „Nein. Wir werden uns um deine Kraft kümmern. Das sollte für dich Ablenkung genug von deinen Problemen sein." Oh, er wusste, wie er anderen wehtun konnte. Und er nutzte es gnadenlos.
Ich spürte, wie meine Finger zuckten und eine Sekunde lang fragte ich mich, in welchem Bedürfnis. Abwehr, was mich überraschte, weil das hier immer noch Jace war. Das letzte Mal, als ich mich so bedroht von ihm gefühlt hatte, sodass ich mich physisch hätte verteidigen müssen, lag so lange in der Vergangenheit, dass ich mich nicht daran erinnern konnte.
Jace musste etwas auf meinem Gesicht sehen. Ich wusste nicht, wie ich aussah, wenn ich in den tranceartigen Fokus des Blutvergießens abglitt. Doch seine Lider flatterten, als würde er seine letzten Worte überdenken.
Ich sprang vom Bett auf, drehte ihm den Rücken zu und massierte meine Hand. „Wie du willst", murmelte ich, als ich das Gefühl hatte, meine Stimme unter Kontrolle zu haben. Die kühle Emotionslosigkeit schnitt dennoch durch sie hindurch und sie bereitete mir eine Gänsehaut. Unfähig, mich wie ein normaler Mensch zu verhalten, wirbelte ich zurück zu ihm und streckte die Hand aus. Zu seiner Verteidigung musste ich sagen, dass ich bedrohlich wirken musste. Trotzdem störte mich die Anspannung seiner Muskeln. „Deine Stele?"
Verständnis huschte über Jace' kontrollierten Züge und er händigte mir wortlos seine Stele aus. „Hast du einen Plan?" Heiser räusperte er sich.
„Ich werde es so versuchen, wie beim letzten Mal", erklärte ich kurz angebunden und ließ mich von der elektrisierenden Kälte des Adamants in seinen Bann ziehen. Stehend schloss ich die Augen und konzentrierte mich ganz auf den Schmerz in meiner Mitte. Auf die Einsamkeit, die mich ertrinken ließ.
Was willst du? Nähe. Zugehörigkeit. Wahrheit.
Was brauchst du dafür? Mut. Furchtlosigkeit. Wahrheit.
Die Rune tauchte wie von selbst vor meinem inneren Auge auf. So schnell, so simpel, dass ich beinahe laut aufgelacht hätte. Und genauso wie beim letzten Mal, wo ich die Rune auf den Boden gezeichnet hatte, wusste ich, dass sie diesmal auf meine Haut gehörte. Ein Instinkt, stärker als jedes Bauchgefühlt. Also zeichnete ich.
Meine Haut brannte, wo die Stele über sie hinwegglitt. Wie die feinste Spitze einer Klinge, die – kaum merklich, aber gerade noch spürbar – in die Haut schnitt. Das Blut in meinem Arm pulsierte, wurde wärmer und wärmer. Bis die Rune fertiggestellt war und das Blut so schnell und plötzlich durch meinen Körper schoss, dass ich aufkeuchte. Es verteilte sich – verteilte die Wirkung der Rune. Und auf einmal veränderte sich das Empfinden meines Körpers. Der Schmerz war immer noch da. Doch anders. Wie wenn man ihn mit Adrenalin angemischt und zu einem berauschenden, qualvollen Cocktail verwandelt hätte. Erschöpfend und dringlich zugleich. Da floss ein Nachdruck durch mich hindurch, den ich so nur aus dem Kampf kannte. Bestimmtheit.
Ich schlug die Augen auf und fand meine Balance wieder. Jace war halb aufgesprungen, in meine Richtung gelehnt, als würde er nach mir greifen wollen. Als er meinen Augen begegnete, ließ er sich zurück auf die Matratze fallen. Dann huschte sein Blick zu der tintenschwarzen Rune, die auf der Innenseite meines Unterarms prangte. „Wie geht es dir?"
„Ich weiß es nicht genau", gab ich zu und schüttelte probeweise meine Gelenke aus. Bis auf diese fokussierte Entschlossenheit hatte sich nichts verändert. Ein bebender Atemzug glitt durch meine Lungenflügel. „Ich fühle mich ... berauscht. Irgendwie. Als könnte ich jetzt losrennen, ohne dass mir jemals die Kraft ausgeht."
„Wenn das jemandem gelingen würde, dann dir", brachte Jace hervor und winkelte seinen Kopf an, mich musternd. Er versuchte, ein Schmunzeln zu verstecken, das konnte ich sehen. „Woran hast du gedacht?"
Mir war jedoch nicht nach Scherzen zumute. Nicht nach unserer vorherigen Diskussion. Mein Kiefer kribbelte in dem Vorwissen, meine Gedanken in Worte zu verwandeln. Die Intention, ihm die Wahrheit zu sagen, schlummerte in meiner Brust wie eine Flamme, die nur darauf wartete, mit genügend Sauerstoff versorgt zu werden. Und anders als eben noch war da kein Rückhalt, keine Furcht vor einer möglichen Zurückweisung. Allein der Drang, es endlich loszulassen.
„Daran, dass ich keine Angst mehr davor haben will, meine Gefühle zu offenbaren", platzte es ohne Umschweife aus mir heraus, leicht wie der Wind, als wäre es kein Thema, welches mich persönlich betraf. Überrascht kniff ich die Augen zusammen.
„Das finde ich gut", sagte Jace, dem die Verblüffung nicht entging und verschränkte die Arme vor der Brust. „Eine Furchtlosigkeitsrune?"
Ich zuckte die Achseln. „So etwas in der Art."
„Das müssen wir testen." Von dem zornigen Jace war nichts mehr übrig, auch wenn ich sehen konnte, dass er auf der Hut war. „Wäre Izzy jetzt hier, würde sie dich wahrscheinlich zu einer Challenge herausfordern. Lass mich überlegen ... dafür müsste ich aber wissen, wovor du dich fürchtest."
„Da gibt es so einiges", sagte ich ohne zu zögern und konnte die Kraft der Rune in meinen Muskeln spüren – spürte, wie sie die Silben Wort für Wort gegen meine Stimmbänder und über meine Zunge drückte. „Ich fürchte mich davor, Jonathan im Kampf nicht schlagen zu können. Dass ich meine Mutter nie wiedersehen werde, weil sie auf dem Friedhof der Schande liegt. Aber wer weiß, vielleicht lande ich ja auch irgendwann dort, wenn ich Jonathan nicht aufhalten kann. Doch am meisten Angst habe ich davor, mich für den Rest meines Lebens so zu fühlen wie jetzt: Allein."
Jace blinzelte mehrmals, den Mund leicht geöffnet. Man sah ihm an, dass er diesen Sturm der Offenbarung nicht erwartet hatte. Eine Reflexion von Mitleid huschte über seine Augen. Er erhob sich vom Bett. „Wolltest du das alles wirklich gerade sagen?"
Konzentriert verlagerte ich das Gewicht meiner Beine. „Das ist keine Wahrheitsrune. Ich werde nicht gezwungen, diese Dinge zu sagen. Es sind einfach nur Dinge, die ich mich normalerweise nie trauen würde zu sagen, auch wenn ich es gerne würde."
„Also wolltest du, dass ich das alles weiß?" Ein Hauch von Zufriedenheit schlich sich in Jace' Ton. Zurückhaltend, als erwartete er ein Verneinen meinerseits.
Meine Augen suchten nach seinen und wieder war da diese Unsicherheit. Wie wenn Jace, der sonst zu allem einen selbstverliebten, witzelnden Spruch auf den Lippen hatte, nichts mit dieser Situation anfangen konnte. Da sollte Furcht in meinen Gliedern sein, die ich hätte fortschieben müssen. Wagemut pulsierte stattdessen in jedem Winkel meiner Nerven. „Ich brauche jemanden, dem ich diese Dinge erzählen kann. Ich sollte sie Isabelle oder Adam erzählen, aber ich kann nicht erklären, warum ich sie nur dir erzählen will."
Ich konnte mein Herz spüren, welches mir bis zum Hals klopfte. Konnte das Rauschen des Blutes in meinen Ohren hören. Das Adrenalin, welches durch mich schoss. Und da erkannte ich, dass die Angst vor der Wahrheit immer noch da war. Nur hatte die Furchtlosigkeit sie ausgeschaltet. Zumindest das Gefühl von ihr, aber nicht ihre körperlichen Anzeichen.
„Erzähl mir alles." Jace war mir näher als zuvor, doch ich hatte sein Kommen gar nicht wahrgenommen. Er hatte das Kinn gesenkt und blickte mich zwischen seinen langen Wimpern hindurch an, ein fast schon liebevoller Blick. Diese Art von Blick, die ein Klicken in meinem Hirn auslöste.
„Das möchte ich. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann."
„Dieses Thema schon wieder." Frustriert raufte Jace sich die Haare. Diesmal klang er beinahe anklagend. „Was ist dein Problem? Was habe ich falsch gemacht? Und versuch nicht, mich wieder mit der Engelskraft abzuwürgen."
„Die Feenkönigin hat uns unter der Bedingung gehen lassen, dass ich von der Person geküsst werde, die es sich am meisten ersehnt." Meine Stimme schnitt wie eine scharfe Klinge durch den Raum. Eine Schärfe, die Jace sich aufrichten und zurücktreten ließ. Elend blitzte über seine Gesichtsmuskeln, die ihm so einfach entglitten, als wäre er schon immer dieser Typ Mensch gewesen, die offen ihre Emotionen zeigten. „Du hast mich geküsst und sie hat uns gehen lassen."
„Ich weiß, ich war dabei", brachte Jace hervor und wich meinen forschenden Augen aus.
„Sie hat gesagt, dass du dich nach diesem Kuss sehnen würdest und doch hast du mich danach angeschaut, als wäre ich die schreckliste, widerwärtigste Person, die jemals über diese Erde gelaufen ist. Das ist der Grund, weshalb ich dir nicht vertraue." Schweiß rannte mir über die Stirn. Ich spürte die heißen Tröpfchen gegen meine Haut; spürte meinen angestrengten Atem wie einen Dolch gegen meine Brust bohren. Trotz allem hatte ich es über mich gebracht. Für die Dauer dieser Rune war ich vollkommen furchtlos.
„Ich–" Jace schaute betroffen zu mir auf. Unglaube weichte das Gold seiner Iriden auf. Dann traf ihn die Erkenntnis. „Warte, ist das der Grund, weshalb du mir danach die ganze Zeit aus dem Weg gegangen bist? Weil du dachtest, ich hätte dich seltsam angeschaut?"
„Ich habe es nicht gedacht, ich habe es gesehen. So deutlich wie ich dich gerade vor mir sehe. Ich habe mir diesen Blick nicht eingebildet", zischte ich.
Plötzlich sah Jace für einen mir unerklärlichen Grund erleichtert aus. „Ich dachte du wärst mir aus dem Weg gegangen, weil du den Kuss nicht wolltest. Du bist so schnell davongestürmt und ich dachte, dass er dir missfallen hätte."
„Ich bin davongestürmt, weil du mich angeschaut hast, als würde dich meine gesamte Existenz ankotzen!" Ich schrie ihm die Worte praktisch entgegen. Alles an ihm erzürnte mich. „Ich mag es nicht, wenn man mit mir spielt, also sag mir jetzt die Wahrheit!"
„Der Blick galt nicht dir", presste Jace unter zusammengekniffenen Zähnen hervor, als würde er sich gegen die Worte wehren. „Ich war frustriert über mich selbst. Weil die Feenkönigin mich vor dir bloßstellen wollte. Weil ich gezwungen war, auf Grundlage von etwas zu handeln, aus dem ich selbst noch schlau werden muss."
„Also ... bereust du es nicht?" Eine gefährliche Frage. Von der ich sicher war, dass ihre Antwort selbst trotz meiner Rune die Sprengkraft besaß, mich in Stücke zu reißen.
Jace ließ mit seiner Erwiderung auf sich warten. Er hatte seine Hände hinter dem Rücken versteckt und die Schultern hochgezogen, um sich zu seiner vollen Größe aufzurichten. Seine Augen ruhten nicht auf mir, sondern auf einem Punkt in der Ferne. „Ich bereue, dass es unter diesen Umständen geschehen ist. Was den Kuss selbst betrifft ... darauf kann ich dir keine Antwort liefern. Noch nicht. Gib mir Zeit, es herauszufinden."
Nicht das, womit ich gerechnet hatte. Ich brachte ein abgehacktes Nicken zustande, aber mein Herz beruhigte sich langsam aber sicher wieder in meiner Brust. Ich versuchte, in mich hineinzuhorchen, zu verstehen, worauf ich gehofft hatte, was ich hatte hören wollen. Da war keine Antwort. Nichts. Als blockierte ich mich selbst. Als wollte mein Unterbewusstsein nicht, dass ich diesen Weg einschlug. Ich hatte keine Ahnung, ob Jace' Antwort mich zufriedenstellte, denn ich hatte keinen Schimmer, was ich eigentlich wollte.
Eine Weile standen wir beide einfach nur da, das Schweigen wie eine Mauer zwischen uns. Irgendwann wandte Jace mir den Kopf zu. Sein distanzierter Blick fuhr über mich hinweg und er verzog die Lippen, offensichtlich unzufrieden über etwas. „Du siehst fertig aus", gestand er. „Diese Rune kappt einfach nur deine Nerven, anstatt die Furcht wirklich auszulöschen. Ich hoffe, das war es wert."
„Ich habe eine neue Rune erschaffen. Das ist ein Erfolg." Ich spielte den Ball zurück, wie wenn diese Konversation eben zwischen uns nie stattgefunden hatte. „Ich glaube, ich habe endlich einen Weg gefunden, meine Gabe zu nutzen."
Jace grinste zu mir herunter. „Ich bin neidisch."
„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber dieses Gespräch hat Furchtlosigkeit gebraucht. Nächstes Mal, zwinge ich dir auch eine Rune auf, dann sind wir wenigstens beide ehrlich."
Darauf hatte Jace keine Antwort.
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