Kapitel 53 - Survivors, Loners and the Dead
Kapitel 53 – Survivors, Loners and the Dead
„Bist du sicher, dass du noch eine Runde haben willst?", fragte ich amüsiert und balancierte Eosphoros lässig in meiner rechten Hand. Meine Augen waren konzentriert auf Adam fixiert.
Adam hockte mit den Knien im Dreck, schweratmend und mit roten Wangen von der Anstrengung. Er hob den Kopf, sein Mund halb geöffnet, damit er mehr Sauerstoff in seine Lungen befördern konnte. Ich wusste, dass er keine weitere Runde durchhalten würde, aber es machte mir Spaß, ihn dennoch dazu aufzufordern. Jungs und ihre Egos ...
„Ich möchte!", rief eine raue, weibliche Stimme und wir beide ploppten aus unserer Blase des Kampfes heraus.
Das hier war nicht der Garten der Lightwoods. Das hier war ein verbranntes Stück Land an der Stadtgrenze, wo sich die Schattenweltler nur so tummelten. Gerade jetzt waren wir von mindestens einem Dutzend Werwölfen und Vampiren umringt, beide Clans einen guten Meter Sicherheitsabstand auseinander. Sie kamen weiter nicht gut miteinander zurecht. Die Werwölfe hatten ihre Oberarme vor der Brust verschränkt, während die Vampire sich neugierig nach vorn beugten. Das hier war ein Trainingskampf und ich war hier, um ihnen den Kampfstil von Valentin und Jonathan näherzubringen. Ich war hier, um ihnen zu zeigen, wie sie mich und meine Familie besiegen konnten.
Adam erhob sich schwankend und klopfte sich den feuchten Dreck von der schwarzen Monturhose. Ihn zu überreden, hier mit mir herzukommen, war ein hartes Stück Arbeit gewesen. Die Art, wie er nun die Zähne zusammenbiss, sagte mir klar und deutlich, dass er es kein Stück amüsant fand, sich hier vor einem Rudel Schattenwesen zu blamieren. Auch wenn es aus meiner Sicht keine Blamage war, er hatte gut gekämpft.
Ich wandte mich der Frau zu und winkte sie aufmunternd zu mir herüber. Sie war ein wenig größer als ich, schlank aber drahtig mit dunkler Haut und haselnussfarbenen Augen. Ihr lockiges Haar tanzte wie wild um ihr Gesicht, als sie mir ein herausforderndes Grinsen zuwarf. Werwolf durch und durch. Während die Vampire zurückhaltend jede kleineste meiner Bewegungen mit ihren scharfen Sinnen verfolgten, ließen sich die Werwölfe schneller in den Rausch des Trainings hereinziehen.
„Nahkampf?", fragte ich und als sie nickte steckte ich Eosphoros zurück in seine Scheide. Ich lockerte meine Glieder und strich mir eine Strähne hinters Ohr, die aus dem Zopf entkommen war, in dem ich mein Haar hielt.
Die Frau war ungefähr in meinem Alter, ihre Schritte graziös und präzise. Sie rollte ihren Kopf in den Nacken, schüttelte ihre Arme aus und stellte sich dann in Angriffsposition. Ich tat es ihr nach. Und dann griff ich an. Sie wich zur Seite aus, zu schnell, als dass meine menschlichen Augen es hätten registrieren können. Da halfen selbst die Runen nichts, die Isabelle mir vorhin aufgetragen hatte. Ich wirbelte herum und konnte gerade noch in die Hocke gehen, als das Mädchen auf mich zu gepirscht kam. Das Grinsen klebte förmlich auf ihren Lippen. Gegen eine Nephilim zu kämpfen, schien ihr den Kick zu geben.
Ich ging in Angriffshaltung über, so wie Valentin oder Jonathan es getan hätten und sie zog mit. Kurz darauf rangen wir um die Vorherrschaft auf dem Feld. Es gelang ihr, mich auf den Rücken zu werfen und der schmelzende Schnee vermischte sich mit dem Geruch von nasser Erde, als meine Schultern über den unebenen Boden schliffen. In Reaktion hob ich mein rechtes Bein und hatte das Mädchen im Bruchteil einer Sekunde in dieselbe Position gehievt, in der ich eben noch gelegen hatte. Ihre braunen Augen weiteten sich kaum merklich, aber das Lächeln schwand nicht. Selbst dann nicht, als sie hin- und her zappelte, es jedoch nach mehreren Minuten nicht schaffte, mein Bein von ihrem Körper zu fortzukriegen.
„Sieht aus, als hättest du gewonnen", gab sie zu und neige spielerisch respektvoll den Kopf. Sie klang aufgeregt und erfreut, als hätte ihr der Kampf tatsächlich Spaß gemacht. Mein Bein wanderte zur Seite und ich hielt ihr die Hand hin, während ich auf die Füße kam. Sie zögerte nicht, als sie sie nahm. Ihr Grinsen war ansteckend, genauso wie ihre Laune.
„Ich bin Maia", stellte sie sich vor. „Ich bin aus Lukes Rudel, also weiß ich so gut wie alles über dich." Sie schien ein offener Mensch zu sein. Das mochte ich. Auch wenn der Gedanke, dass sie meine Vergangenheit kannte, mir nicht recht behagte.
„Freut mich dich kennenzulernen", bot ich an. Maia wischte sich den Schnee von der Hüfte und zwinkerte Luke zu, der in diesem Augenblick zu uns herüberkam.
„Das läuft hier ja wirklich gut." Er klopfte dankbar meine Schulter. Luke und Magnus hatten darum gebeten, dass ich den Schattenwesen beim Training half. Die Division, die Alec ins Leben gerufen hatte, florierte und jeden Tag meldeten sich mehr Nephilim freiwillig, um gemeinsam mit den Schattenwesen zu trainieren. Aber es waren immer noch nicht genug, sodass die, die noch keinen Partner hatten, in größeren Gruppen übten. Sinn der Sache war, ihnen beizubringen, wie ein Schattenjäger kämpfte. Etwas, was die konservative Fraktion im Rat gar nicht gern sah. „Danke, dass du ausgeholfen hast, Clary." Dann wandte er sich an die übrigen Werwölfe und Vampire, die uns umringten. „Das war's für heute, Leute." Kurz darauf löste sich die Menge auf.
„Morgen um die gleiche Uhrzeit?", fragte ich und Luke nickte. So wie die meisten Werwölfe trug er kaum genug Kleidung am Körper, um sich vor der Kälte zu schützen, die immer noch das Klima beherrschte. Auch wenn der Schnee schon seit Wochen aufgehört hatte zu fallen.
„Wir wissen eure Hilfe sehr zu schätzen", sagte er als Adam an meine Seite trat. „Das ist nicht selbstverständlich."
„Meine Mutter hätte dasselbe getan", erwiderte ich ernst.
„Ja, das hätte sie." Lukes schokoladenfarbige Augen waren in die Ferne gerichtet, den Mund eisern zusammengepresst, in Gedanken wahrscheinlich Jahre in der Vergangenheit. Plötzlich breitete sein Anblick ein Frösteln in meinem Körper aus. Dieser Mann war einst der beste Freund meiner Mutter gewesen. Vielleicht hätte er mein Vater sein können, wären die Dinge anders verlaufen. „Sie wäre sehr stolz auf dich, weißt du?"
„Ich frage mich immer, was sie an meiner Stelle tun würde", gab ich kleinlaut zu. Adams Präsenz neben mir fühlte sich mit einem Mal weniger angenehm an als eben noch. Vor ihm über diese Themen zu sprechen war mir unangenehm. „Sie hätte mich durch diese neue Welt leiten sollen. Jetzt schlage ich mich irgendwie durch und meistens gefühlt eher schlecht als recht."
„Du machst deine Sache gut." Luke schüttelte vehement den Kopf und drückte erneut meine Schulter. Nun, da sich die Menge um uns aufgelöst hatte, hatten wir freien Blick auf die weiße Landschaft hinter den unsichtbaren Grenzen der Stadt. „Diese Gesellschaft ist keine einfache. Lass dir das von jemandem sagen, der auch einst zu ihr gehörte. Einige hier würden alles tun, um dich untergehen zu sehen, nur weil du anders bist. Aber genau diese Menschen gilt es nicht zu überzeugen. Nur weil sie am lautesten schreien, bedeutet das nicht, dass sie die Mehrheit sind."
„Bist du dir da sicher? Ich habe auf die harte Tour erfahren, wie willkommen ich hier bin." Adam kratzte sich nervös am Hinterkopf und versuchte, unbeteiligt zu wirken. Blake war weiterhin ein Thema, was eine Kluft zwischen uns bildete. Auch wenn wir in den letzten Tagen viel Zeit miteinander verbracht hatten, grübelte ein Teil meines Verstands weiterhin über seine Verbindung zu Blake nach. Mein Geist wollte keine Ruhe geben. Es war, als würde eine Stelle meines Körpers jucken, nur dass dieser Juckreiz kein Ende nehmen wollte, egal wie sehr ich es zu ignorieren versuchte.
„Ich habe davon gehört." Lukes Blick fuhr prüfend über mich hinweg. Dann breitete sich ein Schmunzeln auf seinen Lippen aus. Ein Kontrast zu den sonst so trostlosen Zügen. „Wie es scheint, lässt du dich nicht so einfach runterkriegen. Genau wie deine Mutter."
Der Vergleich zu meiner Mutter erwärmte meinen Körper und drückte im selben Moment ein Gewicht auf meinen Rücken, welches mich stärker gen Erde drückte. „Ich wünschte, dass ich sie um Rat fragen könnte. Gerade jetzt, wo der Krieg immer näherkommt, habe ich keine Ahnung, was ich eigentlich tun soll. Meinen letzten Kampf gegen Jonathan habe ich verloren. Es ist Glück, dass ich jetzt hier stehe."
„Mit der Zeit habe ich eines gelernt, Clary." Luke seufzte und steckte die verkrusteten Hände in die Taschen seiner Shorts. „So etwas wie Glück gibt es nicht. Alles ... Jocelyns Tod, dieser Krieg, der Verrat der Elben, es ist alles Teil eines großen Ganzen. Schicksal. Es sollte so kommen. Ob man uns damit bestrafen will, steht jedoch auf einem anderen Blatt geschrieben."
„Valentins Stärke soll Schicksal sein?", fragte Adam ungläubig. „Er hatte Glück, dass er all die Jahre im Verborgenen leben konnte."
Luke senkte das Kinn und betrachtete Adam für einen langen Moment mit einem Ausdruck, der von brutaler Lebenserfahrung zeugte. „Valentin hat überlebt, weil er klug war. Das war kein Glück, Junge. Das war Cleverness und Kalkulation."
„Luke war sein Parabatai, bevor er gebissen wurde", erklärte ich Adam und wendete mich dann wieder an Luke. „Die Vorstellung, dass du der beste Freund meiner beiden Eltern warst, ist so ..."
„Abstrus?" Ein seltsamer Ausdruck des Bedauerns zeichnete sich auf Lukes Gesicht ab. „Unvorstellbar? Glaub mir, ich kann es heute selbst kaum glauben. Das scheint in einem anderen Leben gewesen zu sein. Zumindest fühlt es sich so an. Wir waren alle zu blind, um zu erkennen, wer er wirklich war. Wir haben alle gedacht, dass es nichts als ein Spiel sei. Und jetzt, zwanzig Jahre später, sind so viele, die ich kannte, tot, dass ich sie gar nicht abzählen kann."
Seine Worte ließen mich an Blake denken. Blake, der seine eigene Gruppe hatte; der von der Politik ignoriert wurde. Wurde er unterschätzt? Hatte er die Macht, ähnliches zu vollbringen wie mein Vater? Nicht, dass Blake irgendeine Sympathie für ihn hegte, nein, er verabscheute Valentin und mich. Was seltsam war, da sie eigentlich ziemlich ähnliche Ideale teilten.
Dann drang der Rest von Lukes Worten zu mir durch und mein Magen wurde schwer. Wie ist dieses einsame Leben, wenn man weiß, dass man einer der einzigen ist, der noch lebt? Wie fühlt es sich an, an die Vergangenheit zu denken und zu wissen, dass man allein ist, weil alle, die man je geliebt hat, schon vor Jahrzehnten ihre Leben verloren haben? Wie muss es sein, sein altes Leben, seine Heimat, hinter sich lassen zu müssen, weil sie nicht akzeptieren wollen, wozu man geworden ist? Nur die Gedanken schnürte mir die Kehle zu. Plötzlich hatte ich Mitleid mit Luke; für dieses quälende, bittere Leben, zu dem er verbannt wurde, nur weil die Schattenjäger keinen Respekt für Werwölfe übrighatten. Weil sie sich für etwas Besseres – Gottgeschaffenes – hielten. Bis heute.
Ich starrte hinaus in die sich anbahnende Finsternis, hinaus auf den Friedhof der Schande, der von meinem Standpunkt aus nicht sichtbar war. Wie ist es, jeden zu verlieren, den man liebt? Ja, wie war das? Die Frage brannte Löcher in meine Brust. Ich wusste, wie es war, weil niemand mehr da war, den ich liebte. Meine Mutter war tot. Mein Bruder war tot. Dass die leere Hülle von ihm noch herumlief und dieselbe Stimme wie er besaß, machte es nur schlimmer.
Ruckartig wandte ich den Kopf von den eingeschneiten Abhängen der Stadtgrenzen ab. „Ich muss gehen", brachte ich kurz angebunden hervor. „Wir sehen uns morgen."
Ich wartete nicht auf eine Antwort. Ich machte auf dem Absatz kehrt und stiefelte davon. Isabelle war auch hier irgendwo, aber ich blieb nicht, um sie zu suchen. Das letzte Mal als ich sie gesehen hatte, hatte sie einem Vampir große Augen gemacht.
Hinter mir knirschten Schritte durch den Schnee, aber ich blieb nicht stehen. Ich hatte keine Lust, mit Adam zu reden. Er wusste, dass etwas nicht stimmte und ich wusste, dass er mich darauf ansprechen würde. Ich wollte nicht angesprochen werden. Dieses tiefe, trübe Loch des Kummers hatte sich so plötzlich in meinem Magen aufgetan, dass ich nicht recht damit umzugehen wusste. Mir war nur klar, dass ich nicht von Adam getröstet werden wollte.
„Alles in Ordnung?", fragte er wie aufs Stichwort und meine Hände ballten sich von selbst zu Fäusten, weil seine Vorhersehbarkeit mich wütend machte. Seine Anwesenheit nervte und ich wusste, dass es nicht seine Schuld war. Er konnte nichts dafür, dass ich so empfand, aber dadurch verschwand dieses Empfinden nicht.
Ich nickte kaum merklich mit dem Kopf. „Ich bin erschöpft, das ist alles."
„Wir können uns was zu essen besorgen, wenn du Lust hast", schlug Adam in heiterem Ton vor, deutlich im Versuch, mich aus meiner Stimmung herauszuziehen. Er wusste nicht, was los war. Er wusste nicht, dass das hier schlimmer war als nur eine schlechte Laune. Dass er bei meinen Stimmungsschwankungen überhaupt freiwillig mit mir befreundet war ... Ich hatte das Gefühl, dass Adam oft die schlimmsten meiner Gemütslagen abbekam. Doch dieser Gedanke lenkte mich zurück zu der kritischen Stimme in meinem Kopf, die sich immer noch fragte, ob die Freundschaft von seiner Seite aus tatsächlich auf Aufrichtigkeit beruhte.
Ich schüttelte die Gedanken hastig von mir ab. „Heute nicht. Ich bin nicht wirklich hungrig, ich will einfach nur duschen und ins Bett."
„Wie du willst." Adam zuckte neben mir die Achseln, begleitete mich jedoch zum Anwesen der Lightwoods. Als ich an der Haustür ankam, winkte ich ihm kurz zu – eine so abgehakte Bewegung, dass es eigentlich gar nicht mehr als Winken zählte – und verschwand im Haus. Wahrscheinlich war ich unfair und eine schlechte Freundin, aber gerade hätte es mich nicht weniger interessieren können.
Ich stürmte die Treppen hinauf und spürte, dass sich dieser Knoten in meiner Brust mit jedem Schritt enger schloss. Wie ein Galgen, der mich ersticken würde. Oben angekommen fiel es mir auf einmal schwer zu atmen. Ich lehnte mich gegen das Treppengeländer, stemmte die Hände auf die Knie und atmete tief ein. Tränen brannten in meinen Augenwinkeln.
Ich frage mich, ob du in der Lage bist, zu lieben, Clarissa Morgenstern. Die Fragen der Feenkönigin hallten in meinem Gehirn wider, klopften gegen die Innenseiten meines Schädels, ließen mich vor Schmerz zusammenzucken. Bist du in der Hinsicht wie dein Vater oder doch wie deine Mutter? Verdammt, die Liebe zu meiner Mutter tobte mit einer solchen Inbrunst durch meine Adern, dass ich glasklar wusste, dass ich in dieser Hinsicht kein Stück so war wie Valentin oder Jonathan. Ich konnte lieben, ich liebte bereits und es war wie ein brennendes Feuer, welches mich zu verschlucken drohte.
Ich konnte ihre leuchtend grünen Augen vor mir sehen, wie wenn sie tatsächlich vor mir stünde. Sie war tot. Sie war fort. Und die Liebe, die sie in mir zurückgelassen hatte, wusste nichts mehr mit sich anzufangen. Diese Liebe war alles, was mich davon abhielt, mich in der Dunkelheit zu verlieren. Diese Liebe riss mich auseinander, bereitete mir einen so quälenden Schmerz, dass ich mich in diesem Augenblick fragte, ob es die Sache überhaupt wert war.
„Du bist fort", murmelte ich und spürte, wie mir eine Träne über die Wange rinnte. Es laut auszusprechen, machte es hundertmal schlimmer. Tausendmal. „Du hast mich zurückgelassen." Ein fast anklagender Ton, als könnte die etwas dafür, dass sie tot war. Ich war allein. Völlig allein. Freunde hin oder her. Freunde würden immer jemand anders vorziehen; Freunde hatten eigene Familien, die an erster Stelle kamen. Was war man ohne seine Familie? Ich hatte keine Familie. Ich war mutterseelen allein. Wortwörtlich.
„Clary?" Jemand auf dem unteren Treppenabsatz räusperte sich. „Geht es dir gut?"
Ja, wollte ich sagen. Ja, es geht mir gut. Die Worte wollten mir nicht über die Lippen kommen. Als hätte mein Körper keine Lust mehr, für mich zu lügen. Die Rebellion meiner Lippen war dem, was einem Hilferuf am nächsten kam.
„Adam meinte, dass jemand besser nach dir sehen sollte." Verdammt nochmal, Adam.
Ich brauche keine Hilfe. Wieder nichts. Meine Stimmbänder wollten diese Laute nicht überbringen. Mein Körper wollte endlich gehört werden.
Jace kam die Treppe hoch und legte mir eine leichte Hand auf den Rücken. Sein Atem ging schwer. Er war zwar vollständig genesen, aber durch Jonathans Gift heilte seine Wunde im Torso nicht wie eine gewöhnliche Wunde. Ich hatte selbst noch Wunden an den Innenseiten meiner Hände. „Du bebst ja."
„Ich kann nicht mehr", flüsterte ich in die Dunkelheit. Niemand hatte sich darum gekümmert, hier oben die Elbenlichter anzuschalten. Die Schatten zerrten an mir. Sie wollten meinen Körper in Stücke reißen.
„Komm", sagte Jace, als wüsste er genau, was mit mir los war. Ich ließ mich von ihm in sein Zimmer führen. Kurz darauf saß ich auf der Kante seines Bettes. Jace ging vor mir in die Knie und er war so groß, dass wir dennoch auf Augenhöhe waren. „Erzähl mir, was passiert ist."
„Du weißt, was passiert ist", erwiderte ich kaum hörbar und ich wusste nicht, weshalb ich mit ihm darüber sprach aber nicht mit Adam. Vielleicht, weil ich ihm schon mal Ähnliches erzählt hatte. „Ich habe meine Familie verloren." Ich habe mich verloren.
„Du bist nicht die Einzige, die keine Familie mehr hat", erinnerte Jace mich und seine Stimme klang weicher als erwartet. Für gewöhnlich war der Tod seiner eignen Eltern ein Tabuthema.
„Es tut deshalb aber nicht weniger weh." Ich fragte mich, wie es für ihn war; ob er auch solchen Schmerz verspürte. Er hatte seine Eltern nie gekannt, aber das bedeutete nicht, dass er ihnen nicht hinterhertrauerte, oder der Illusion einer Familie, die hätte existieren können. Wenn die Vergangenheit einen anderen Weg eingeschlagen hätte. Wenn, wenn, wenn.
Jace blieb für eine sehr lange Zeit still. Seine Hände lagen auf meinen Knien und obwohl ich das Bedürfnis, sie zu greifen, in meinen Fingern spürte, fehlte mir die Kraft dazu. Egal. Denn einen Moment darauf erhob er sich aus der Hocke und wanderte durch das Zimmer. Zu einem Regal herüber, aus dem die Bücher herauszuquellen schienen. Er zog eines der Bücher aus dem Regal, öffnete es und zog etwas daraus hervor. Schleppend kam er zurück zu mir, drehte meine Handflächen und drückte mir drei Fotos hinein.
Ein Laut kam mir über die Lippen. Erstaunt, schockiert, ungläubig. Ich konnte förmlich hören, wie die Zeit um mich herum zum Erliegen kam. Ich starrte hinab auf die Fotos, zerknittert aber intakt, als wäre die Reise bis in Jace' Zimmer keine einfache gewesen. Ich blinzelte, weil ich meinen Augen nicht traute. Da war ich, da war Jonathan, da war meine Mutter und sogar Valentin.
„Woher hast du die?" Meine Stimme hatte sich in ein hohes Straucheln verwandelt und ich hatte Mühe, mich zusammenzureißen. Natürlich wusste ich, woher er die Bilder hatte. Es waren dieselben, die ich für Jahre in meinem eigenen Zimmer aufbewahrt hatte. In meinem Zimmer in dem Anwesen, welches nun offiziell mir allein gehörte.
„Du meintest, dass du nichts weiter als dein Schwert haben willst", erinnerte Jace mich an den Tag, wo wir das Haus meiner Familie am Rand von Idris besucht hatten. „Ich konnte nicht gehen, ohne die Fotos mitzunehmen. Ich hatte das Gefühl, dass ich es bereuen würde. Jetzt weiß ich warum."
Weitere Tränen liefen mir über die Wange und Jace setzte sich neben mich, schlang seinen Arm um meine Mitte. Sein Duft nach Seife und Heilsalbe umhüllte mich. Ich lehnte mich in seine Berührung hinein und war mit dem Kopf so fernab vom Hier und Jetzt, dass ich fast vergaß, dass seine Brust immer noch abheilte. Es fiel mir schwer, mich darauf zu fokussieren. Das letzte Mal als er mich so gehalten hatte, hatte ich mich sicher gefühlt; zuhause.
„Danke, dass du sie mitgenommen hast", brachte ich hervor und strich die Tränen fort, die bereits auf meiner Haut zu trocknen begannen. „Auch wenn es irgendwie noch mehr wehtut sie anzuschauen."
„Es mag wehtun, aber das tut es aus gutem Grund." Jace griff nach einer der Haarsträhnen, die sich vorhin im Training aus dem Zopf gelöst hatten und rieb sie zwischen seinen Fingerkuppen. „Was für Beschützer dieser Welt wären wir, wenn wir keinen Schmerz verspüren würden? Wir müssen sein wie die Menschen, um für sie kämpfen zu können."
Je länger ich auf die Fotos herabstarrte, desto mehr hatte ich den Eindruck, die Kontrolle über dieses Loch in meinem Bauch abzugeben. Die Wunde, die mittlerweile schon längst verschwunden war, pochte unaufhörlich. In meinen Ohren rauschte das Blut. Alles, was ich hörte, war das Lachen meiner Mutter, das Lachen von Jonathan. Alles, was ich sah, waren ihre lächelnden Gesichter. Alles, was ich spürte, war eine unendlich tiefe Leere, die mich weiter und weiter in die Finsternis zog. Eine Finsternis, in der ich für den Rest meines Lebens sein würde. Ein wahrscheinlich ziemlich kurzes Leben.
Ich brach aus meinen Gedanken heraus und richtete mich in Jace' Arm auf. „Ich sollte gehen." Er gab mir das Gefühl von Nähe. In seiner Gegenwart war ich ruhiger, gelassener sogar. Aber es war ein Irrglaube. Jace und ich ... Da war keine Familie, die uns einte. Er würde nie mehr sein als ein tröstendes, sehnsüchtiges Gefühl, welches mir für den Moment zwar Luft zum Atmen gab, mir aber auf Dauer die Luft aus den Segeln nahm. Wir standen zwar auf der gleichen Seite, doch ich würde immer die Außenseiterin bleiben. Ich würde immer einsam sein.
Jace verlagerte sein Gewicht nach hinten, um zu mir herab schauen zu können. Seine goldenen Augen hatten sich verdunkelt, funkelten aber immer noch flüssig auf mich herab. Der Blick darin war prüfend, aber sanft, als er meine dreckige Montur betrachtete. „Du solltest dich umziehen", erwiderte er zustimmend und ich windete mich im gleichen Augenblick aus seinem Griff, stand auf und machte einen Schritt zur Tür. Der Druck auf meinen Schultern presste wieder mit voller Wucht auf mich nieder. „Aber komm wieder", fügte Jace hinzu und ich drehte mich, um mich seinem Gesicht zu stellen. „Ich schlafe nicht viel in letzter Zeit." Leiste mir Gesellschaft, wenn du willst.
Ich nickte langsam, die Finger meiner linken Hand an der Türklinke, die der Rechten hielten die Bilder fest. „Dann bis gleich."
-
Was denkt ihr? :)
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