Kapitel 51.2. - Brother

Ich habe versagt. Das war der einzige Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, während meine Knie unter mir nachgaben und der Boden mir entgegenkam. Ich kippte nach hinten, schlug mit dem Hinterkopf auf einer der Trainingsmatten auf und starrte an die Decke. Mein Körper hatte aufgehört zu funktionieren, ich spürte kaum mehr als ein dumpfes, schweres Geflecht aus Nerven.

„Nichts lebensbedrohliches, aber stark genug, um dich plattzumachen." Jonathan lachte verzerrt. Stille kehrte in der Halle ein. Eine Stille so niederschmetternd, dass Jace' rasselnder Atem mir eine Gänsehaut bereitete. Als wäre das alles hier eine große Show, die Jonathan inszeniert hatte. Wofür? Nur, um mich zurück zu unserem Vater zu bringen?

Jace knurrte erneut, diesmal lauter, diesmal wütender. Ich drehte den Kopf und wieder begegneten sich unsere Augen. Adam hatte es noch nicht geschafft, ihn mit seiner Stele zu heilen. Jace krabbelte auf allen Vieren auf mich zu und hinterließ dabei eine Blutspur auf dem Boden. Panik flackerte in seinen Augen; eine hilflose Panik, die ich so noch nie dort gesehen hatte. Er konnte nichts tun, er war genauso außer Gefecht gesetzt wie ich. Und dann stand Jonathan bereits über mir. Phosphoros reflektierte das Licht der Trainingshalle beinahe einladend.

„Hilf ihr", flechte Jace, seine Stimme nicht mehr als ein Krächzen. „Hilf ihr, Adam."

Adam, aus der Bahn geworfen von meiner Niederlage, löste sich schlagartig aus seiner Starre. Er ließ die Stele achtlos los, griff nach seiner Seraphklinge und sprintete auf Jonathan zu, ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, dass er ebenso verlieren würde wie wir. Jonathan machte einen Satz zurück und irgendwo abseits meines Sichtfelds prallten zwei Schwerter gegeneinander, erfüllten die Luft mit ihrem brennenden Geruch nach Eisen und Schweiß.

Meine Augen waren jedoch weiterhin auf Jace geheftet, der mich nun erreicht hatte und neben mir in sich zusammenbrach, als hätten die wenigen Meter jede Kraft aus ihm gesaugt. Mühsam rollte er sich auf den Rücken und spuckte Blut auf seine Kleidung. „Ironisch, dass ich immer nur daran gedacht habe, wie wir ihn besiegen und nicht wie wir dabei draufgehen", murmelte Jace und sein heiseres Lachen brachte seinen Brustkorb zum Beben.

„Und ich habe gefürchtet, dass es genau so ausgehen würde", erwiderte ich, aber meine Worte waren durch das Gift kaum zu verstehen. Das Donnern von Schwertern näherte sich uns und ich drehte den Kopf weg von Jace, um Adams braunen Haarschopf am Rande meiner Vision vorbeifliegen zu sehen. Ich betete an den Erzengel persönlich, dass Malik endlich auftauchte. Ich würde es mir nicht verzeihen, falls Adam durch Jonathans Hand sterben sollte.

Etwas berührte meine Wange und ich zuckte, zumindest versuchte ich zu zucken, aber das war schwieriger als gedacht. Meine Augen schwenkten zur Seite und trafen Jace', die mich mit einem plötzlichen Anflug von Traurigkeit beobachteten. Seine blutigen Finger strichen über meine Wange, ein beschwichtigender, tröstender Rhythmus. Ich konnte das klebrige Blut spüren, welches er auf meiner Haut hinterließ. Jace hatte sich über mich gebeugt und ich wusste, dass es nur dazu führen würde, dass er schneller ausblutete.

Dutzende verschiedene Gedanken schossen mir durch den Kopf, aber ich konnte mich nicht dazu bringen, einen von ihnen auszusprechen. Nicht jetzt. Ich hatte das Gefühl, dass Jace nicht mehr genügend Zeit hatte, um meine Fragen zu beantworten. Tränen verwischten meine Sicht, vermischten sich mit seinem Blut, als sie mein Gesicht herunterliefen. „Es tut mir leid, dass du meinetwegen sterben musst."

Jace' Hand schloss sich um meine und drückte sie fester, als ich es ihm in diesem Zustand zugetraut hätte. Sein Gesicht wirkte fahl und blass, als wäre das Blut bereits zu weit zurückgewichen. Er sah aus, als würde er keine fünf Minuten mehr überleben. „Wir werden nicht sterben, Clary", sagte er zuversichtlich und grinste. „Wir haben den heutigen Kampf verloren, aber den Krieg gewinnen wir trotzdem."

Das musste die letzte Welle an Adrenalin sein, die durch ihn floss, bevor es tatsächlich vorbei war. Ich hatte einige Male darüber gelesen, es aber nie wirklich geglaubt, weil es keinen Sinn machte. Warum sollte der Körper einige letzte Energiereserven aufbewahren, nur um sie dann alle auf einmal freizusetzen? Doch als ich jetzt in Jace' Gesicht starrte, die Überzeugung in seinen goldenen Augen funkeln sah, brachte mich der schiere Gedanke, dass er gleich tot sein würde, zum Weinen. Mein Körper bebte unter mir und ich konnte das Schluchzen nicht zurückhalten. Jace würde sterben. Als nächstes würde Adam sterben. Und dann würde Jonathan mich irgendwohin verschleppen. Ich wünschte, dass er mich einfach ebenfalls töten würde, aber ich wusste, dass ich nicht sterben konnte. Nicht, nachdem er für ihre Tode verantwortlich war. Ich dachte an Isabelle, die irgendwo draußen in Alicante wartete, dachte an Alec und an die vielen anderen Leben, die zerstört werden würden, falls heute alles vorbei war.

„Hör auf zu weinen." Jace' zitternde Finger strichen die Tränen fort, die sofort von neuen ersetzt wurden. „Ich habe einen Plan. Wir können das hier noch drehen. Du kannst es noch drehen."

Ich versuchte innezuhalten, aber mein Körper stand unter Schock. Mein Atem ging zu hastig, aber ich fand nicht die Kraft, ihn zu beruhigen. Die Panik hatte Besitz von mir ergriffen. Jace' Hand verließ mein Gesicht und eine Hustenattacke schüttelte ihn. Ich kniff die Augen zusammen, konzentrierte mich auf das Wrack meines Körpers unter mir, versuchte die Muskeln zu spüren, die eben den Dienst versagt hatten. Die Nerven dort schienen nur bedingt an mein Gehirn zu korrespondieren. Mich auf meine Hand zu stützen war eine Aufgabe, die mich mindestens eine halbe Minute kostete. Jede Faser in mir brannte. Meine Muskeln dehnten sich widerstrebend auseinander, als würden sie bei nur einem Gramm weiterer Auslastung entzweireißen. Schließlich befand ich mich in einer halb sitzenden halb liegenden Position und schaute hinunter zu Jace.

„Jace. Was ist dein Plan?" Die Silben reihten sich seltsam aneinander. Die eigentliche Bedeutung der Worte ging beinahe unter in der begrenzten Art und Weise, wie ich meinen Mund bewegen konnte.

Anstatt mir eine Antwort zu geben, drückte Jace mir etwas in die Hand. Ein Gegenstand so kühl gegen die heißen, blutenden Innenflächen meiner Hände, dass ich erleichtert aufatmete. Seine Stele. Die Kraft der Stele durchströmte mich, so wie jedes Mal, wenn ich Adamant berührte. Und obwohl ich nichts zeichnete, hatte ich das Gefühl, besser gegen den krampfenden Schmerz in meinen Adern klarzukommen, der mich lahmlegte. Mit einem Mal konnte ich alles klar sehen. Ich konnte Jace' Idee sehen, die vor meinen Augen Gestalt annahm.

Adam brüllte auf und wir mussten entsetzt zuschauen, wie Phosphoros einen langen, orthogonalen Schnitt in seiner Brust hinterließ. Seine Füße gerieten ins Taumeln, wollten keinen Halt finden und ich sah bereits, wie Jonathan ihm als nächstes sein Schwert durch den Unterleib bohrte, um es zu beenden. Aber dazu kam es nicht, denn die Türen wurden aufgestoßen und ein Beben barst in die Halle, das Jonathan für eine Sekunde von Adam ablenkte.

Malik stand im Türrahmen, seine Augen weit, als er das tödliche Chaos einnahm, das sich vor ihm offenbarte. Seine Hand ruhte bereits auf seinem Schwert. Er musterte Jonathan, der ihn ebenso einzuschätzen versuchte. Dann rannte Malik los und holte zum Schlag gegen Jonathan aus, während Adam sich gegen die nächste Holzbank zurückzog, um seine Verletzung zu begutachten.

„Scheint, als müsstest du deine Runen doch nicht einsetzen", stellte Jace fest, seine Stimme kaum lauter als ein Windhauch. Sie rannte mir kalt den Rücken herunter. Ich zwang ihn dazu, meinen Blick zu erwidern, aber die Stärke von eben war bereits fort. Er lächelte schwach und streckte seine blutroten Finger, die von all der Feuchtigkeit bereits aufgequollen waren, nach meinem Gesicht aus. Das hier war das Ende.

Meine Finger begannen zu kribbeln, ich lehnte mich in seine Richtung und handelte, ohne einen zweiten Gedanken daran zu verschwenden. Wenn die Stele in meiner Hand war, übernahm ein uralter Instinkt, der nicht von dieser Welt war. Das harte, kalte Adamant traf Jace' Haut und er zuckte, als ich zu zeichnen begann. Heilung, Heilung, Heilung!, war alles, was mein Geist schrie. Als ich die Iratze vollendet hatte, starrte ich erwartungsvoll auf seine Haut, auf das Loch in seinem Unterbauch, aus dem unablässig Blut quillte. Nichts. Meine Finger krampften und ich hatte das Bedürfnis, die Stele durch den Raum zu schmeißen, als Jonathans Blut durch meinen Körper peitschte und weiter gegen mein System ankämpfte. Wieso wirkte die Iratze nicht?

„Das hat Adam bereits versucht", erklärte Jace schwach und schlug bei dem Versuch fehl, seine Finger mit meinen zu verschränken. Er war zu schwach. Bald schon würde er zu schwach zum Atmen sein. „Jonathan muss auch sein Schwert vergiftet haben."

Wie aufs Stichwort begann Jonathan laut zu fluchen. Weitere Nephilim strömten in die Trainingshalle. Malik parierte Schlag um Schlag und erwiderte Jonathans Attacken mit so roher Kraft, dass Jonathan die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht an Boden zu verlieren. Ich konnte nicht anders als Malik für seine Stärke zu bewundern.

Jonathan duckte sich unter einem von Maliks Schlägen hinweg und rammte ihm seinen Ellbogen in die Seite. Malik keuchte auf und brach eine Sekunde lang mit der eingeübten Choreografie, die Jonathan hätte nutzen können, um ihn niederzustrecken. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und sprintete in meine Richtung. In seinen pechschwarzen Augen loderte ein bodenloser Zorn. Das war der Moment, in dem ich den Ring an seinem Finger entdeckte. Er würde sich einfach vor ihnen allen in Luft auflösen und mich mitnehmen, so wie Valentin und er es im New Yorker Institut gemacht hatten.

Zwanzig Meter. Ich tat das erste, was mir in den Sinn kam. Meine Glieder waren langsam. Langsamer als Jonathans hektische Schritte. Der Realität zum Trotze hob ich meine Stele in die Luft und begann erneut zu zeichnen. Das hier war Jace' Idee. Das hier war sein ursprünglicher Verwendungszweck für die Stele gewesen.

Zehn Meter. Jonathan weitete die Augen, als er erkannte, was ich vorhatte und setzte zu einem letzten Sprint an. Seine Stiefel trampelten auf mich zu und setzten dabei den gesamten Boden in Bewegung. Sein Gift rannte mindestens genauso schnell durch meine Venen und versuchte, meine Muskeln zu blockieren. Jonathans Maske unmenschlicher Rage war auf mich fixiert und mir gingen hunderte Sachen durch den Kopf, die er mit mir anstellen würde, falls er mich erreichte, bevor meine Rune ihn erreichte.

Drei Meter. Ich ließ die Stele los, als hätte sie mich verbrannt und drückte die Rune in Jonathans Richtung. Dieser kam schlitternd zum Stehen, als ein Meer aus lapisblauen Funken wie aus dem Nichts vor ihm auftauchte. Ich blinzelte einmal und Jonathans Gestalt vor mir verschwand hinter dem flimmernden Portal, dessen seufzendes Rauschen alle anderen Töne in der Halle aufzusaugen schien. Das Portal bewegte sich auf Jonathan zu, so wie die Rune sich auf ihn zubewegt hatte. Ich hörte ihn auf der anderen Seite fluchen; hörte wie sein furchtbares Brüllen durch die Stille schnitt und dann plötzlich abbrach, als das Portal ihn verschluckte.

Ich schaute nicht zu, wie sich das Portal schloss. Stattdessen schrie ich nach Hilfe, so laut, bis ich das Gefühl bekam, meine Lungen würden kollabieren. Die Stillen Brüder mussten Jace retten, bevor es zu spät war.

Erst als sich uns zwei Nephilim näherten, hörte ich auf. Erst als sie Jace untersuchten, hochhoben und forttrugen, erlaubte ich mir, mich in die Trainingsmatten fallenzulassen. Um mich herum war Chaos ausgebrochen, aber das kümmerte mich nicht. Mein Herz klopfte laut genug, um sie alle auszublenden. Jonathans Blut peitschte weiter durch meinen Körper und jetzt beließ ich es dabei.

Alles woran ich denken konnte, war, dass Jonathan einen Weg in das Herz von Alicante gefunden hatte. Er war hier gewesen. Er hatte versucht, mich zu kidnappen und dabei Jace beinahe getötet. Falls Jace überhaupt noch lebte. Meine letzte Erinnerung an ihn war ein erschlaffter Körper neben meinem, nachdem sich das Portal geschlossen hatte. Ich versuchte, nicht an die Gesichter der Schattenjäger zu denken, die sich verschlossen hatten, sobald sie Jace untersucht hatten. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was war, wenn er tatsächlich tot war. Wie sollte ich dann mit mir selbst leben? Ich hatte ihn tagelang ignoriert und jetzt konnte es sein, dass ich mit dieser Tatsache würde leben müssen.

Meine Gedanken rasten. Mein vom Gift befallendes Gehirn fand weder Anfang noch Ende. Es fühlte sich an, als würde ich in der Luft schweben, einige Meter über dem Boden. Jonathans erzürntes Gesicht tauchte vor meinem inneren Auge auf. So viele Fragen blieben zurück. Es musste das Schattenjägerblut in ihm sein, welches ihm das Betreten der Stadt ermöglicht hatte. Es gab keine andere Erklärung. Das bedeutet, er ist immer noch ein Mensch. Das bedeutete, dass er wiederkommen konnte, wann er wollte. Er könnte morgen erneut versuchen, mich zu holen. Er könnte nachts bei uns einbrechen, um uns alle im Schlaf zu ermorden. So viele Variablen, die man nicht berechnen konnte. So viele Möglichkeiten, die man niemals alle abdecken konnte.

„Clary." Adams Stimme drang an mein Ohr, aber das Gift machte meine Glieder bleischwer. Die Erschöpfung war zu groß, als dass ich mich zu ihm hätte umdrehen können. Ich war froh, dass er am Leben war. Ich war dankbar, dass er sich Jonathan in den Weg gestellt hatte, um uns Zeit zu verschaffen.

„Malik!", rief Adam und einige Momente später hob mich jemand hoch. Ich lag wie ein schwerer, bewegungsloser Sack in Maliks Armen, der mich aus rastlosen Augen studierte. Er setzte sich in Bewegung und mein Kopf rollte mit der Erdanziehung zur Seite. Adam humpelte neben Malik her. Seine Brust blutete, aber ich war nah genug dran, um zu erkennen, dass die Wunde nicht tief war. Wahrscheinlich war er jedoch genauso vergiftet, wie Jace und ich. Das erklärte, den schwerfälligen Gang.

Adams olivgrüne Augen wanderten zu meinen und auf seinen glatten Zügen breitete sich ein versicherndes Lächeln aus. „Heute kommen wir wohl alle nicht um einen Besuch in den Basilias herum."

Ich lächelte nicht zurück. Stattdessen schloss ich die Augen und lauschte den Nephilim, die wir auf dem Weg zu den Basilias passierten. Die Garnison war in Aufruhr. Sie alle wisperten durcheinander. Wirre Wortfetzen reihten sich aneinander und ergaben immer die gleichen zwei Sätze.

Jonathan Morgenstern ist in die Garnison eingedrungen. Jonathan Morgenstern war hier. 


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Was denkt ihr? Wie hat euch das Kapitel gefallen? Lasst es mich wissen!

Skyllen :)

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