Kapitel 39 - Memories of a Time Long Gone

Kapitel 39 – Memories of a Time Long Gone

„Ich denke immer noch nicht, dass das eine gute Idee ist", knurrte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Wut, Furcht und Aufregung brodelten in meinem Blut; eine gefährliche Mischung. Ich hatte Mühe, meine Stimme unter Kontrolle zu halten.

„Wir haben uns beide einverstanden erklärt, herzukommen", erwiderte Jace und gegensätzlich zu mir, versuchte er so diplomatisch wie möglich zu klingen.

Die Natur von Idris breitete sich vor unseren Augen in alle Richtungen aus. Wir hatten Alicante auf Anordnung der Inquisitorin am frühen Morgen verlassen. Hier draußen, fernab der Zivilisation der Nephilim, war der Schnee nicht vor der Sonne zurückgeschreckt. Das immerwährende Weiß bedeckte Täler und Hügel, Wälder und Felder, selbst der ein oder andere See war immer noch von einer dünnen Eisschicht versiegelt. Der niedergetrampelte Weg, auf dem sich die Eskorte aus Schattenjägern vor uns gen Süden bewegte, war alles, was neben dem Schnee erkennbar war. Im Moment ritten wir auf einer Anhöhe, sodass ich einen Blick über den weiteren Verlauf des Pfades hatte. Wenn das Eis schmelzen würde und die Bauern aus Alicante wieder hinausfuhren, um ihrer Felder zu bewirtschaften, würde sich der Weg in eine breite Straße verwandeln, die unter dem Winterwetter versteckt lag. Wir bewegten uns nicht auf einer der Haupthandelsrouten, die die Stadt mit den umliegenden Dörfern verband. Wir wanderten abseits, auf einem Pfad, der nur bei gutem Wetter zum Warentransport genutzt wurde.

Ein Schnauben entfuhr meiner Kehle und das Pferd unter mir machte einen verwirrten Schlenker zur Seite. Beruhigend strich ich über seinen Rücken, während ich die Zügel fester anzog. Das Tier hatte meine Unruhe gespürt, seit ich es im Stall der Lightwoods bestiegen hatte. Ich hatte mir nicht die Mühe gegeben, seinen Namen zu behalten. „Ich hatte keine Wahl, so wie üblich."

Die Inquisitorin hatte uns aufgetragen, das Anwesen meines Vaters ausfindig zu machen, um die Umgebung nach Spuren zu seinem Verbleib zu überprüfen. Zumindest war das der Auftrag, den Aaron Wrayburn, der Commander der Mission, von ihr erhalten hatte. Meine Anwesenheit war einfach aus dem Grund erwünscht, weil es sich um den Besitz meiner Familie handelte und ich die vergangenen achtzehn Jahre dort verbracht hatte. Da ich die letzte Person meiner Blutlinie war, die nicht tot oder des Hochverrats beschuldigt wurde, gehörte das Anwesen und alle anderen Ländereien der Familie Morgenstern nun technisch gesehen mir. Ich war nicht stolz oder glücklich darüber. Ich verabscheute den Gedanken.

Jede Faser meines Körpers flehte mich an, reißauszunehmen und auf der Stelle nach Alicante zurückzukehren. Jeder Schritt, den das Pferd machte, breitete die Panik über das, was ich in meinem alten Zuhause vorfinden würde, weiter in meinen Adern aus. Hatten sie mir eine Nachricht hinterlassen? Hatten sie das gesamte Grundstück bis zu den Grundmauern niedergebrannt, so wie mein Vater es mit dem Haus der Fairchilds, meiner Großeltern, getan hatte? Alles, was ich wusste, war, dass dieser Ort Erinnerungen ans Tageslicht bringen würde, die ich schon seit Jonathans Verwandlung versuchte, tief in meinem Gedächtnis zu begraben.

„Ich weiß", sagte Jace und seufzte in sich hinein. Er hatte sich die Kapuze des Mantels tief übers Gesicht gezogen und starrte, genauso wie ich, die meiste Zeit emotionslos gerade aus. Seine Großmutter hatte ihn mitgeschickt, um ein Auge auf mich zu haben; wie üblich. Zumindest war er genauso wenig begeistert darüber wie ich.

Gemeinsam bildeten wir die Nachhut der Eskorte und ritten am Ende der Reihe aus zehn Pferden, die nun alle in einen Trab übergingen, da wir den Wald am Fuße der Anhöhe nun endlich erreicht hatten. Das Anwesen befand sich in der hinteren Hälfte der Bäume, es waren also nur noch wenige Meilen hinter uns zu bringen und sowohl die Tiere als auch wir waren erschöpft von der Reise, die uns fast einen ganzen Tagesmarsch gekostet hatte. Obwohl wir noch weit von den Grenzen von Idris entfernt waren, befand sich das Anwesen in einem Teil des Landes, das abseits der Landsitze der anderen Schattenjägerfamilien lag. Die Wahrscheinlichkeit hier einem Wolf zu begegnen war höher als auf einen Nephilim zu treffen. Das lag aber auch zum Teil an den Schutzzaubern Valentins, die wir vor ungefähr einer halben Stunde passiert hatten. Nun, da uns das Ziel unserer Reise bekannt war, war die Überwindung des Zaubers kein Problem gewesen.

„Aber sieh' es so, du kannst ein paar deiner Sachen holen", fügte Jace nach mehrminütigem Schweigen hinzu. Während des gesamten Ritts hatten wir kaum miteinander gesprochen. Meine Frustration, hier sein und meinen Emotionen begegnen zu müssen, hatte ihn nach einigen Gesprächsversuchen davon abgehalten, weiter nachzulegen. Ehrlicherweise musste ich gestehen, dass ich überrascht war, wie er nach einem Tag dieser Freundschaftsgeschichte nicht wieder in sein altes Muster zurückgefallen war und mich ignorierte. Nichtsdestotrotz konnte ich ihn und seine wahren Motive nicht aus ihm herauslesen. Jace zu durchschauen war schwierig. Manchmal, wenn er seine Maske der Emotionslosigkeit aufsetzte, so wie jetzt, grenzte es an schiere Unmöglichkeit und selbst die Anleitungen meines Vaters brachten mich nicht weiter.

„Meine Sachen können mir gestohlen bleiben", murmelte ich, mehr zu mir selbst als zu Jace.

Mit gehobenen Brauen drehte er den Kopf in meine Richtung. Er zog seine Kapuze in einer lässigen Bewegung vom Kopf und ließ die Sonne sein blondes Haar in flüssiges Gold verwandeln. „Du hast dein Leben hier verbracht und möchtest nichts mitnehmen?"

Würdest du zu dem Ort zurückkehren, an dem dein Leben zu zerbrechen begann, nur um einen Gegenstand zu holen, der dich an eine Zeit erinnert, die für immer verloren ist? Ich sprach die Worte nicht laut aus. Ich wollte ihm diese Emotionen nicht offenbaren. Und doch wurde ich das Gefühl nicht los, dass er es mir in den Augen ablesen konnte, noch während mir der Gedanke durch den Kopf schoss. Alles, was ich tat, war, die Lippen aufeinanderzupressen, mich von seinem Blick zu lösen und meine Augen wieder auf den Wald vor uns zu fokussieren. Mein Vater hatte mich gelehrt zu kämpfen, zu überleben, aber er hatte mir nicht beigebracht, eine gesunde, ehrliche Beziehung zu anderen Menschen aufzubauen. Ich spürte Jace' Augen auf mir und wusste, dass er die Mauer sah, die Valentin um mich errichtet hatte.

„Irgendwann wird das alles vorbei sein." Jace' Stimme klang seltsam fremd, um Jahre gealtert, eine Erfahrung in seinem Ton, der mir die Nackenhaare aufsträubte. „Du sollst es später nicht bereuen müssen, dass du alle Erinnerungen dort zurückgelassen hast." Ich lehnte meinen Kopf leicht in seine Richtung, um ihn aus dem Augenwinkel zu betrachten. Es war keine große Bewegung und doch entging sie Jace nicht. Mein Blick ruhte auf ihm, unsere Augen trafen sich und nach einigem Zögern war er es schließlich, der sich abwandte. „Meine Großmutter hat nichts von dem übriggelassen, was einst meinen Eltern gehörte. Ich hatte nie die Möglichkeit, durch alte Tagebücher zu blättern, ihre Schwerter zu schwingen oder Erbstücke aufzubewahren. Alles, was ich habe, ist ein Bild, das Maryse mir geschenkt hat, als ich noch sehr jung war. Es war aus ihrer Zeit aus dem Zirkel, aber das ist irrelevant. Es ist alles, was ich von ihnen besitze."

„Warum hat sie das getan?", fragte ich und starrte nach vorne zu Aaron Wrayburn, der den anderen befahl, das Tempo zu drosseln. Wir waren nun fast da. Den Pfad hatten wir eben schon hinter uns gelassen und ritten nun querfeldein, zwischen Büschen und Farnen hindurch. Das Brodeln in meinem Blut gefror zu Eis als wir die Lichtung durchquerten, auf der Jonathan mich vor einem Monat beinahe getötet hatte. Hier hat alles begonnen.

Jace spürte meine Anspannung. Seine Augen scannten unsere Umgebung mit einem Funken an Vertrautheit, der mich zugleich verblüffte und verwirrte. Als wäre er schon mal hier gewesen, aber das war unmöglich. „Sie dachte wohl, dass es ihr dabei helfen würde, zu vergessen", erklärte er und zuckte die Achseln. „Wie du weißt hat es das nicht."

„Woher willst du wissen, dass es ihr nicht doch geholfen hat, sich von allem zu trennen, was sie mit ihrem Sohn verband?", fragte ich und ließ Jace' Pferd den Vortritt als wir durch ein enges Dickicht ritten. Das Land meiner Familie befand sich direkt hinter diesen letzten Bäumen.

„Mein Vater", antwortete Jace in verstimmtem Ton. Er sprach weiter, aber seine Worte erreichten meine Ohren nicht. Das plötzliche Pulsieren in meinen Adern war zu laut, als dass ich ihn hätte hören können.

Unsere Pferde durchbrachen die letzten Gräser und blieben auf der Anhöhe, die sich vor einer breiten Lichtung ausbreitete. Lichtung war wahrscheinlich der falsche Begriff dafür, jemand hatte den Wald hier vor langer Zeit gerodet, um für das Anwesen und die angrenzenden Stallungen und Felder Platz zu schaffen. Direkt am Fuß des Hügels breiteten sich unsere Gärten aus: Im Sommer voller frischem Obst und Gemüsen, waren sie nun auch unter der weißen Winterlandschaft bedeckt. Ein steinerner Weg führte in der Mitte der eingezäunten Anlagen hinauf zum Haus, das in der mir altbekannten, immerwährenden Beständigkeit vor uns ruhte. Rechts vom Haupthaus standen die Ställe für Pferde und Ziegen.

Alles wirkte wie immer. Als wäre ich nur für einen kurzen Ausritt weggewesen. Allein der fehlende Rauch aus dem Schornstein und die Dunkelheit hinter den Fenstern gab Auskunft darüber, dass die Familie, die hier einst gelebt hatte, fort war. Wenn ich das unangenehme Gefühl in meiner Brust für einen Moment von mir schob, konnte ich so tun, als wäre alles in Ordnung. Als wäre meine Mutter noch am Leben und Jonathan nicht Brutkasten einer dämonischen Kreatur.

Jace neben mir hatte aufgehört zu reden. Er war bereits von seinem Pferd abgestiegen und stand ein Stück abwärts des Hügels, auf halber Strecke zu den anderen, die mit gezückten Waffen und aufmerksamen Augen zwischen den Gärten hindurch schlichen. Ich spürte seinen Blick auf mir, fand aber nicht die Kraft, ihn zu erwidern oder eine Maske der Neutralität aufzusetzen. Ich konnte nicht sagen, was er auf meinem Gesicht sah, während ich auf das starrte, was einst mein Zuhause gewesen war. Er setzte seinen Weg zu den anderen erst fort, als ich ihm folgte.

Wrayburn schickte drei der Schattenjäger hinauf zum Anwesen, um das Gebäude grob abzusichern. Ich war mir sicher, dass weder Valentin noch Jonathan hier waren, auch wenn ich nicht sagen konnte, was mich davon überzeugte. Mein Pferd blieb neben Aaron stehen. Mittlerweile waren alle anderen abgestiegen.

„Im Stall ist genug Platz für die Pferde", sagte ich und gab meinem Tier die Sporen, um voranzureiten. Mir war es egal, ob sie mir folgten oder ihre Pferde lieber draußen abstellten.

Vor dem kleinere Backsteingebäude sprang ich aus dem Sattel und stieß die dunkelgrüne Holztür auf, die zu keiner Zeit jemals verschlossen gewesen war. Hier draußen, abseits der Zivilisation, hatten sich meine Eltern keine Sorge um Diebe oder dergleichen gemacht. Die Tür gab ein tiefes Knarren von sich, ließ sich aber ohne Schwierigkeiten aufdrücken. Ich führte das Pferd hinein und atmete den Geruch nach trockenem Heu und Dünger ein, der mir entgegenschwellte. Nachdem ich das Tier in einer der ersten Boxen abgestellt hatte, wanderte ich weiter in den Stall hinein. Sie mussten unsere Pferde nach unserer Flucht aus Idris aufgespürt und wieder eingefangen haben, denn Silver stand in seiner Box, als wären wir nie fortgelaufen. Von Jonathans und Valentins Pferden fehlte jede Spur.

Die Tür am anderen Ende des Raumes quietschte erneut und ich fuhr erschrocken herum, so vertieft in meinen Gedankengang, dass ich die übrigen Nephilim vollkommen vergessen hatte. Jace stand im Eingang, die Zügel seines Pferdes in der rechten Hand. „Hast du was Nützliches gefunden?"

Die meisten Schattenjäger folgten Jace in den Stall und suchten sich Boxen für ihre Tiere aus. Ich ignorierte die spannungsgeladenen Blicke, mit denen sich viele von ihnen umsahen. Sie fühlten sich nicht wohl dabei, ihre Pferde in Valentin Morgensterns Stallungen zurückzulassen, obwohl sie nur wenige Meter entfernt sein würden. Ein Teil von mir konnte es ihnen nicht verübeln. Ein anderer Teil ärgerte sich über ihr Misstrauen.

Jace schien die Ruhe selbst zu sein. Er kam in lässigem Gang auf mich zu, nachdem er sein Pferd neben meinem angebunden hatte und verschränkte die Arme vor der Brust, während er die leeren Boxen betrachtete, vor denen ich stand. Die Waffen an seinem Gürtel glitzerten im schwachen Licht, das durch die kleinen Fenster in den Stall fiel. „Wo auch immer Jonathan und mein Vater hin sind, sie haben ihre Pferde dorthin mitgenommen."

„Ich bin ausnahmsweise froh darüber, dass sie nicht hier sind, um uns in die Karten zu mischen", murmelte Jace und kniff leicht die Augen zusammen. „Und doch wirkt nichts verlassen genug, als dass ihre Abreise sehr lang zurückliegen kann. Die Ziegen hinter dem Gebäude leben alle und das Pferd hier scheint auch nicht allzu hungrig zu sein."

Daran hatte ich gar nicht gedacht. „Sie können nicht wissen, dass wir herkommen würden", antwortete ich, hielt meine Stimme nichtsdestotrotz so leise, dass die anderen Schattenjäger, die einige Meter von uns entfernt standen, meine Worte nicht mitanhören konnten. „Außer wir wurden verraten."

Jace seufzte und fuhr sich mit den Fingern durch sein goldblondes Haar. „Valentin hat immer noch seine Leute in unseren Reihen. Es könnte jeder gewesen sein."

„Ich hoffe nur, dass es niemand von denen war, denn ich habe keine Lust, heute mit einem Dolch im Rücken zu enden", erwiderte ich und wanderte davon, hinaus zum Ausgang. Ich spürte Jace' Schritte hinter mir, machte jedoch nicht Halt, um auf ihn zu warten. Mir war nicht danach, mit ihm zu reden. Meine Muskeln bettelten immer noch danach, zurück in den Wald zu rennen, um von diesem Ort zu verschwinden. Nichts Gutes hing in der Luft. Und nun gehörte all das hier mir. Ich wusste nicht, was ich damit anfangen sollte, falls ich Jonathan und meinen Vater überleben sollte. Ein Teil von mir wusste nicht einmal, ob ich erfreut oder erschüttert darüber war, dass meine Chancen, lebend aus dieser ganzen Sache herauszukommen, minimal waren.

Die ersten Schattenjäger hatten unter Aaron Wrayburn damit begonnen, das Haupthaus zu betreten. Ich würde ihnen nicht hinein folgen, das hatte ich schon auf dem Weg hierher entschieden. Vielleicht hatte Jace recht und ich würde es später bereuen, aber gerade in diesem Augenblick konnte ich mich nicht weniger darum scheren.

Stattdessen setzte ich mich auf die Stufen der Veranda und schaute zu, wie zwei der Nephilim in westliche und östliche Richtung im Wald verschwanden, um auf Patrouille zu gehen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Hinweise finden würden, war verschwindend gering. Valentin hatte uns darin ausgebildet, unsere Spuren zu verwischen. Falls sie welche fanden, dann würde er seine Gründe dafür haben, sie zu hinterlassen.

„Kommst du nicht mit rein?", fragte Jace und blieb vor mir stehen. Ich musste meinen Kopf in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu schauen. Er hatte immer noch die Arme vor der Brust verschränkt, hatte seinen Mantel jedoch trotz der Kälte ausgezogen und warf ihn nun neben mich auf die Treppe. Sein Blick wirkte abwesend, als würde er über etwas nachdenken.

„Ich denke nicht, dass das eine gute Idee wäre", gab ich zu und holte Jace mit meinen Worten zurück in die Realität. Er hob fragend die Brauen und seine goldenen Augen suchten meine. Ich seufzte in mich hinein, als ich es wieder zuließ, dass er meine Mauern passierte. Du solltest das nicht erlauben, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf und ein Teil von mir wusste, dass sie vermutlich recht hatte. Und doch hatte ich das eigenartige Gefühl, diesen seltsamen Instinkt, der mich dazu trieb, ihm den Konflikt zu offenbaren, der sich in meinem Herzen abspielte. Womöglich würde er es verstehen. Womöglich auch nicht, aber was hätte ich dann schon verloren? Ich war mir ohnehin nicht sicher, ob das was sich zwischen uns aufbaute, einen positiven Ausgang haben würde.

Für einen Moment schwankten Jace' Füße, als zöge er es in Betracht, einen Schritt auf mich zuzumachen. Seine Bewegung gefror auf halber Linie, wie wenn er sich in letzter Sekunde anders entschieden hätte. „Ich ...", er zögerte und seine Stimme hatte einen Flüsterton angenommen, der mich aufhorchen ließ. Unsere Blicke hingen immer noch an dem des anderen und ich wunderte mich über das Ausbleiben der unangenehmen Atmosphäre. Stattdessen begegnete ich einer Vertrautheit, vor der ich im ersten Moment zurückschreckte, weil das Pulsieren in meinen Ohren mit einem Mal verstarb. Die Stille, die folgte, war mir fremd. Seitdem ich meine Familie zurückgelassen hatte, waren da immer diese Geräusche im Hintergrund meiner Wahrnehmung gewesen. Stimmen, die mich daran erinnerten, wer ich war und wo ich hingehörte und weshalb es ein schrecklicher Fehler gewesen war, meiner Mutter zu folgen. All diese Stimmen verstummten, als ich in Jace' Augen schaute und mir zum ersten Mal seit unserer Begegnung im New Yorker Institut die Zeit nahm, sie tatsächlich zu betrachten. Etwas zwischen uns verschob sich, wir beide spürten es, aber bevor ich begreifen konnte, was es war, löste Jace sich plötzlich so ruckartig aus der Verbindung, die ich gerade noch mit den Händen berühren hätte können, dass ich einen Satz nach hinten machte und mir den Rücken an der nächsten Treppenstufe stieß.

Ich unterdrückte das Keuchen, das seinen Weg aus meinen Lungen suchte. Stattdessen presste ich die Lippen aufeinander und zwang meine Gesichtsmuskeln in eine starre Neutralität. Als ich wieder zu Jace hochschaute sah ich, dass er dasselbe getan hatte. Er räusperte sich. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie es für dich sein muss, hierher zurückzukommen, aber Befehl ist Befehl." Eine beinahe schon feindselige Kälte hatte sich in seine Stimme geschlichen und ich fragte mich, was er in meinem Blick gesehen haben musste, um so zu reagieren.

„Ist auch egal", antwortete ich, ohne auf seine Abweisung zu reagieren und sprang auf, bevor ich noch etwas Dummes tat, wie ihm erneut in die Augen zu schauen. Ich schritt an Jace vorbei und machte ihm den Weg zur Tür des Anwesens frei. „Ich habe weitaus Schlimmeres durchgestanden."

Während ich darauf wartete, dass Jace das Haus betrat, starrte ich über die verschneiten Gärten. Wie hoch war die Chance, als Nephilim auf diese Welt geboren zu werden? Überaus gering wahrscheinlich. Im Vergleich zu der Anzahl der Menschen, die diesen Planeten bewohnten, war unsere Rasse nicht weiter von Belang. Wie gering waren dann die Chancen, diese Welt als Kind des gefürchtetsten und gefährlichsten Kriminellen der Unterwelt zu betreten? Mein Schicksal hatte sich schon mit meiner Geburt gegen mich gestellt. Da war ein weiterer Tag der Qual nichts, was ich nicht aushalten würde. Ich musste nur das Ziel im Auge behalten. Es war, als könnte ich seinen Atem in meinem Nacken spüren. Sein Lachen in meinen Ohren klingen hören. Erchomai, ich komme.

Diesmal war es Jace, der mich zurück in die Realität zog. „Soll ich dir etwas mitbringen?"

Ich brauchte mehrere Sekunden, bis ich die Bedeutung hinter seiner Frage begriff. Dann drehte ich mich zu ihm um. Eine schnelle, fließende Bewegung und seine Hand wanderte unbewusst zu seinem Waffengurt. Ich verzog die Lippen, ließ Jace wissen, dass ich es gesehen hatte. Fast schon verlegen vergrub er die Hand in der Hosentasche seiner Montur und seufzte.

Ich begegnete seinem Blick nicht, als ich darüber nachdachte. Gab es etwas, das ich zurück nach Alicante mitnehmen wollte? Eine Erinnerung an meine Mutter? Doch ich verwarf den Gedanken, als mir ein anderer in den Kopf schoss. „Im Keller ist eine Waffenkammer. Wenn mein Vater es nicht mitgenommen hat, befindet sich in der Vitrine auf der linken Seite ein Kurzschwert. Es hat einen goldenen Griff."

Jace nickte. „Noch etwas?"

Ich schüttelte den Kopf. Jace drehte mir den Rücken zu und marschierte ohne ein weiteres Wort auf das Haus zu, das einst mein Zuhause gewesen war.

oOo

Das Anwesen war ziemlich groß für eine vierköpfige Familie. Während Jace die Stufen in das Untergeschoss hinabstieg, fragte er sich, wie Clarys Leben hier ausgesehen haben musste. Obwohl der Anblick des Hauses sie traurig stimmte, spürte er doch die Sehnsucht, die dieser Ort in ihr auslöste. Sie verband Gutes mit ihrem alten Leben und Jace hatte Mühe, es zu nachzuvollziehen. Genauso wie er Mühe gehabt hatte, hinter ihre Fassade der Killerin zu sehen, für die die meisten sie hielten. Clary verhielt sich nur selten wie die Person, als die sie in Alicante beschrieben wurde und wie sie selbst den Prozess ihrer Ausbildung vor dem Rat erklärt hatte. Sie war eine Kriegerin ohne Vorzeigebeispiel; geschickt mit jeder Waffe, die sie berührte; gelernt in jedem Kampfstil, zu dem man sie aufforderte. Und doch hatte er diese tödliche Seite an ihr erst zu Gesicht bekommen, nachdem er sie auf Kadirs Aufstachelungen hin beinahe getötet hatte. Damals hatte er wirklich geglaubt, dass sie Kadir töten würde; dass ihre wahre Natur endlich zum Vorschein gekommen war. Aber anders als erwartet, hatte sie sich unter Kontrolle gehabt. Sie kannte die Kraft in ihren Adern und wusste, wann die Grenze zu ziehen war.

In den letzten Wochen hatte das ursprüngliche Bild, das Jace sich in seinem Kopf zu Clary gemalt hatte, an Schärfe verloren. Vielleicht war es die Engelskraft, die sie beide verändert hatte. Vielleicht war aber auch alles beim Alten geblieben und er war erst jetzt in der Lage, die Dinge klar zu sehen. In den letzten Tagen hatte Jace immer öfter das Gefühl, als einziger in der Zeit festzustecken, während alle um ihn herum weitergingen. Isabelle hatte ihren anfänglichen Hass Clary gegenüber überwunden und war nun mit ihr befreundet. Er begriff nicht, wie ihr es so leichtgefallen war. Selbst heute musste er manchmal noch darum kämpfen, dass es das rothaarige Mädchen war, das er anstelle der Fratze ihres Vaters vor sich sah. Dabei hatte er es im Gespür, dass ihr Bruder, Jonathan, ein viel größeres Problem sein würde als Valentin.

Clary war sich dem ebenso bewusst. Jace wusste, dass sie dieselben Träume hatte wie er. Jedes Mal, wenn sein Name fiel, versteifte sich ihr Körper und sie fiel in eine abwesende Trance. Als würde sie in der Zeit zurückreisen. Jace wollte sie dafür hassen, dass sie wahrscheinlich nichts weiter als ein Kollateralschaden der Pläne ihres Vaters war und doch war ein Teil von ihm erleichtert darüber. Er konnte die Verbindung nicht leugnen, die er zwischen ihnen spürte, auch wenn er nicht betiteln konnte, um was es sich dabei eigentlich handelte. War es das Blut des Engels?

Die Waffenkammer war nicht zu übersehen. Neben dem großen Trainingsraum nahm sie den größten Teil des gewaltigen Kellers ein. Valentin musste ein Faible für unterirdische Räume haben und eine Stimme in Jace' Kopf war sich sicher, dass es auch hier das ein oder andere geheime Zimmer gab. Eines musste er Clarys Vater jedoch lassen: Er hatte einen außerordentlichen Waffengeschmack. Die Waffenkammer bestand aus herausziehbaren Regalen voller edler Schwerter und Klingen in den unterschiedlichsten Formen und Längen. Manche aus Adamant, andere vergoldet oder mit Edelsteinen besetzt. Es gab Schubladen mit ordentlich sortierten Dolchen und Messern, einige von ihnen aus Materialien, die Jace noch nie zuvor gesehen hatte oder nur aus Büchern kannte. Einzig die linke Seite des Raumes war frei von Schränken. An der steinernen Wand hing eine schmale, lange, gläserne Vitrine, so wie Clary es vorhergesehen hatte. Darin befanden sich vier Waffenständer, drei von ihnen leer.

Die einzige Waffe, die in der Vitrine lag, war ein schwarzgoldenes Schwert aus Adamant, dessen Klinge etwas länger als sein eigener Unterarm war. Heft und Kreuzgriff waren aus Gold und Obsidian. Jace wusste, dass es ihr gehörte. Es war, als könnte er ihre Berührung auf der kalten Schneide spüren, obwohl es mittlerweile Monate zurückliegen musste. Als er das Schwert in die Hand nahm, konnte er es sich vor seinem geistigen Auge ausmalen, wie Clary aussehen würde, wenn sie damit kämpfte. Wie ein totbringender Sturm, der wild und methodisch zugleich war, wunderschön und doch undurchschaubar.

Jace zwang sich, nach der Schwertscheide zu greifen, die neben dem Ständer lag. Das Material war aus dunklem Leder und jemand hatte silberne Sterne darauf genäht. Erst als er die Waffe in die Scheide stecken wollte, fielen ihm die sternförmigen Muster in der Mitte der Klinge auf. Es handelte sich dabei um das Symbol der Morgensternfamilie. Jace seufzte in sich hinein und griff nach einigen anderen Dolchen, die ihm für Clary angemessen erschienen, bevor er die Waffenkammer verließ. Es war nicht nur ihr Schwert, sondern auch das ihrer Familie. Valentin und Jonathan hatten es ihr hiergelassen, weil sie wussten, dass sie herkommen würde. Sie wollten, dass sie es an sich nahm.

Ein Teil von Jace fragte sich, ob er das Richtige getan hatte, als er Clary offenbart hatte, dass er versuchen wollte, mit ihr befreundet zu sein. Er wusste nur, dass es die Wahrheit war. Auch wenn es keinen Sinn machte. Er konnte seine Gefühle nicht ignorieren. Manchmal warf Clary ihm einen dieser Blicke zu, bei denen er sich nur fragen konnte, ob sie gerade hinab in seine Seele schaute und ihm seine Gedanken in den Augen ablas. In ihrer Nähe zu sein war anders im Vergleich zu Isabelle oder sogar Alec. Von Clary ging immerzu eine Explosion an Emotionen aus, sodass Jace nicht anders konnte als sich selbst in ihr zu sehen. Und doch war sie zugleich die Ruhe selbst; selbstbeherrscht, selbstsicher, bodenständig; das völlige Gegenteil von ihm. Clary war anders als jede Person, der er in seinem Leben begegnet war und obwohl jede Faser seines Körpers sie hassen sollte, konnte er nicht. Er hatte schon viel zu lange gegen dieses Gefühl in seiner Brust angekämpft, so lange versucht es zu ignorieren, dass es angeschwollen war und sich kaum noch kontrollieren ließ. Und doch schaffte er es, nach außen hin derselbe Jace Herondale zu sein, der er immer schon vorgegeben hatte zu sein.

Die Nephilim hatten sich mittlerweile ins erste Obergeschoss des Hauses vorgearbeitet. Dort wo sie vorbeizogen, hinterließen sie ein Chaos, das Jace unwillkürlich die Lippen zusammenpressen ließ. Er verharrte in dem, was Clarys Zimmer gewesen sein musste. Zwei der Schattenjäger rissen achtlos Regale und Schranktüren aus den Angeln und durchwühlten alles, was ihnen zwischen die Finger kam. Nun war Jace doch froh, dass Clary draußen geblieben war. Natürlich wusste er, dass alle hier nur taten, was notwendig war. Und trotzdem störte es ihn, wie achtlos sie mit ihren Besitztümern umgingen.

Clarys Zimmer war in einem Hellgrün gestrichen, ähnlich der Farbe ihrer Augen. Über ihrem Bett hing ein gemaltes Bild von Alicante. Jace kannte den Ort, den vermutlich Jocelyn auf der Leinwand verewigt hatte. Obwohl sie ihrem Vater gehorsam gewesen war, musste sie eine Sehnsucht nach der Welt dort draußen gehabt haben. Ihr Bücherregal war voll von Atlassen und Lexika verschiedener Länder und Regionen mit vielen bunten Bildern und auf verschiedenen Sprachen. Jace konnte nicht anders als sich darüber zu ärgern, ihr Zimmer überhaupt erst betreten zu haben. Alles in diesem Raum spiegelte ihre Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche auf eine Welt wider, die sie wahrscheinlich niemals zu Gesicht bekommen hätte, wenn sie bei ihrem Vater geblieben wäre. Romane über Liebe und Freiheit und doch war sie ihr Leben lang eingesperrt gewesen, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Jace wanderte weiter zur Fensterbank. Er konnte Clary zwar von der Position, die ihr Zimmer innehatte, nicht sehen, aber er hatte freien Blick auf die eingeschneiten Gärten und den Stall, in dem sie ihre Pferde untergebracht hatten. Drei Bilderrahmen zierten den Sims. Auf einem der Fotos waren zwei Kinder abgebildet, beide nicht älter als zehn. Das Mädchen hatte feuerrote Haare und ein zierliches, schüchternes Lächeln lag auf ihren Lippen, während der etwas ältere Junge mit schneeweißem Haar spitzbübisch in die Kamera grinste. Er hatte ihr einen Arm um die Schultern gelegt und sie beide hielten Kinderschwerter in den Händen. Der Anblick schnürte Jace die Kehle zu, weil er gesehen hatte, wie sehr sie unter Jonathans Verwandlung litt. Jetzt, wo er den Beweis ihrer tiefen, innigen Beziehung vor sich sah, erinnerte er sich daran, dass ihr Bruder mehr als das Monster gewesen war, zu dem Valentin ihn gemacht hatte.

Das zweite Foto zeigte die ganze Familie Morgenstern, Clary und Jonathan um einige Jahre älter und ein wenig ernster, wenn auch nicht weniger fröhlich. In Valentins Augen lag ein stolzes, selbstzufriedenes Funkeln, während Jocelyn ehrlich glücklich schien. Jace fragte sich für einen Moment, wer das Bild gemacht haben musste, bevor sein Blick weiterschweifte. Auf dem letzten Bild saß Jocelyn vor einer halb bemalten Leinwand, welche eine unfertige Version des Werkes über Clarys Bett war. Ein Kleinkind mit einem roten Haarschopf saß auf ihrem Schoß.

Mittlerweile hatten die beiden Schattenjäger das Zimmer verlassen und waren zum nächsten übergegangen. Jace zögerte eine lange Sekunde und starrte auf die Bilder herab. Ich habe weitaus Schlimmeres durchgestanden. Das hatte sie tatsächlich. Und obwohl der Tod ihrer Mutter und die Lügen ihres Vaters kaum zu ertragen sein konnten, sträubte sich ein Teil von Jace dagegen, die Bilder hierzulassen. Es kam ihm falsch vor. Er drehte sich einmal in Richtung der Tür, um sicherzugehen, dass ihn keiner beobachtete, bevor er die Fotos aus den Rahmen entfernte und sie behutsam in die Innentasche seiner Jacke steckte.

Keinen Moment zu spät, denn plötzlich durchschnitt der überraschte Fluch von Aaron Wrayburn die Stille des Anwesens. Jace' Füße setzten sich in Bewegung, noch ehe er darüber nachdenken konnte. Es war mehr Instinkt als bewusstes Handeln. Zwei Zimmer weiter den Gang herunter war Gemurmel ausgebrochen. Die Nephilim machten ihm Platz, als er sich zwischen ihnen hindurchzwängte und stockend zum Stehen kam.

Der Raum war Clarys Zimmer vom Aufbau ähnlich, nur dass er spiegelverkehrt war. Doch das war nicht, was sie in Auffuhr versetzt hatte. Das Bett an der linken Wand war frischgemacht und die Fenster waren geöffnet, sodass ein kalter Wind in Jace' Richtung blies, der einen Geruch in seine Nase trieb, der die anderen alarmiert haben musste. Blut. Es war überall. An den Wänden, auf den Möbeln, auf dem Fußboden. Allein das Bett war verschont geblieben. Aber es waren die Worte an der dahinterliegenden Wand, die Jace jegliche Nackenhaare aufsträubten.

I vestrum aprehendet vos.

Ich werde dich finden.

„Das ist eine Falle", flüsterte Jace in die ungewöhnliche Stille hinein, die sie seit ihrer Ankunft auf dem Grundstück der Morgensterns begleitete.

Etwas in seinem Kopf klickte und plötzlich war das Zimmer voller Blut verschwunden. Alles, was Jace wusste war, dass er rannte. Er hatte die Treppe ins Erdgeschoss halb hinter sich gelassen, die Totenstille umgab ihn immer noch wie ein Kokon des Unbehagens, als er begann, ihren Namen zu rufen.  


-

Mal wieder ein längeres Kapitel, weil es hier keine Gelegenheit gab, es in zwei Teile zu cutten vom Aufbau der Szenen. Ich hoffe, euch gefällt es! :D

LG

Skyllen

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top