Kapitel 36.2. - Ithuriel's Riddle
Das Brennen der Stele fühlte sich wie Erlösung an. Wie der aufkeimende Rausch eines Abhängigen, der zu lange versucht hatte, der Droge zu entkommen. Das erleichternde Glücksgefühl ging viel zu schnell wieder vorüber. Jace vollendete die Iratze mit geübter Präzision, ich wusste es, ohne die Rune tatsächlich zu sehen, und ließ mich augenblicklich wieder los. Nur Sekunden später, als sie ihre Wirkung entfaltete, klärte sich die Sicht vor meinen Augen. Der Kopfschmerz verebbte in der Ferne und der Schwindel verschwand.
„Danke." Meine Stimme klang heiser und angeschlagen und nun hatte ich keine Ausrede mehr, worauf ich sie hätte schieben können. Ich räusperte mich und drehte mich zu ihm herum, während ich den Träger meines Tops wieder in seine ursprüngliche Position zurückschob.
„Du weißt ja, wo du mich findest, wenn du noch eine brauchst. Egal um welche Rune es sich handelt." Ich nickte und Jace machte keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen hockte er zusammengesunken auf dem Stuhl und wirkte etwas verloren. Der stolze Herondale war nach außen hin immer noch sichtbar und doch bröckelte seine Fassade.
Ich beschloss, die anhaltenden Stille zu nutzen. „Ithuriel hat mich zu sich gerufen."
Meine Worte entlockten ihm ein überraschtes Heben seiner Augen. „Eine komische Weise von einem Traum zu sprechen."
„Es war auch kein Traum", erklärte ich mit schüttelndem Kopf. „Er hat meine Seele von meinem Körper getrennt, um mich zu sich zu rufen. Irgendwie war es der Himmel, aber irgendwie auch nicht. Ithuriel meinte, dass Menschen ihn nicht betreten könnten, ohne durch die Überwältigung der Sinne verrückt zu werden."
„Himmel? Heißt das, du warst tot?" Jace klang negativ überrascht.
„Nein, mein Körper war doch die ganze Zeit hier", konkretisierte ich mit anderen Worten und fasste dann kurz zusammen, was Ithuriel über unsere Gaben erzählt hatte und wiederholte dann die Rätsel, die mir als Hilfe dienen sollten, um das wahre Ausmaß meiner Gabe zu offenbaren.
„Dann weißt du ja, was zu tun ist", sagte Jace, dem die Sache tatsächlich unter den Nägeln zu brennen schien, denn ich konnte die Herausforderung in seinen Augen funkeln sehen. Eine Sekunde später war er vom Stuhl aufgesprungen, elegant und graziös wie eine Katze. „Isabelle wartet sowieso schon sehnsüchtig auf dich, weil sie trainieren will. Es würde mich nicht wundern, wenn sie die ganze Zeit hinter der Tür steht und lauscht."
„Ich denke nicht, dass ich schon in der Verfassung bin, um mit Schwertern um mich zu schlagen", warf ich ein, lehnte mich gegen den Kopf des Bettes und schloss die Augen. Die Iratze mochte geholfen haben, meine Beschwerden zu beseitigen, aber meine Lebensenergie würde sich erst mit der Zeit auf mein gewöhnliches Niveau regenerieren. Ich war immer noch müde und schlapp.
„Niemand hat von Waffen geredet", bemerkte Jace in einer gefährlichen Mischung aus Übermut und Belustigung und zog seine Brauen bei meiner Reaktion zusammen. „Zieh dich um. Wir warten unten." Dann wirbelte er herum und verschwand im Bruchteil eines Momentes durch meine Tür. Ich konnte ihm nur verblüfft und mit offenstehendem Mund hinterherstarren.
Kurz zog ich es in Erwähnung, mich einfach zurück in die Kissen fallen zu lassen und seine Worte zu ignorieren. Es wunderte mich, wie bereitwillig Jace sich selbst zu unserer Trainingsstunde eingeladen hatte, mit der ich heute selbst nicht gerechnet hatte. Er wollte Ithuriels Rätsel genauso lösen wie ich, auch wenn ich seine Beweggründe nicht kannte. Vielleicht wollte er einfach nur mehr über seine eigene Gabe erfahren. Es schien, als würde der Engel hauptsächlich mit mir kommunizieren. Möglicherweise brauchte Jace mich und mein Wissen in der Hinsicht. Der Gedanke missfiel mir. Jedoch hatte er sein Verhalten mir gegenüber schon in den vergangenen Tagen gewandelt. Konnte es sein, dass er nun langsam doch bereit war, seine Zugeständnisse aus unserem letzten Gespräch in die Tat umzusetzen? Oder ritt ihn etwas anderes? Ich kannte ihn nicht gut genug, um seine Gerissenheit einschätzen zu können. Genauso gut konnte er nur seine Strategie geändert haben, um mich auszuschalten, auch wenn er dafür bereits mehr als genug Möglichkeiten gehabt hatte. Ohne Jace wäre ich schon Minuten nach meiner Mutter in New York gestorben.
Meine Beine schwangen aus dem Bett, noch während mir diese Gedanken durch den Kopf gingen. Strategie oder nicht; ich musste mehr über meine Gabe lernen und vielleicht würde es helfen, wenn mehr Leute über dasselbe Rätsel grübelten. Also warf ich mein dunkelblaues Trägertop neben den Kleiderschrank und streifte mir meine Trainingsklamotten über. Ich kämmte mir die Haare und riskierte einen schnellen Blick in den Spiegel, um sicherzugehen, dass ich halbwegs präsentabel aussah, bevor ich die Treppen ins Erdgeschoss heruntereilte. Den Stimmen folgend fand ich meinen Weg in die Küche.
Alle drei waren anwesend. Jace und Alec saßen nebeneinander am Tisch und tuschelten über irgendetwas. Als ich den Raum betrat, glitten ihre Blicke zu mir und Schweigen löste das Gemurmel ab. Auch Jace hatte sich umgezogen. Shirt und Jeans waren durch eine Kampfmontur ersetzt worden. Anders als bei den vielen Malen zuvor, wenn ich zufällig in eine ihrer Konversationen hereinplatzte, wich er meinem Blick nicht aus. Zwar lächelte er nicht, aber ich wertete es nichtsdestotrotz als Weiterentwicklung.
Isabelle lehnte gegen die Küchenzeile und grinste, als sie mich sah. „Dir geht es besser!", rief sie mit übertriebener Fröhlichkeit und ihre kohlefarbenen Augen funkelten erheitert, bevor sie theatralisch mit ihnen rollte. „Ich dachte schon, Jace würde niemals hinnemachen."
„Hat Jace dir erzählt, was wir vorhaben?", fragte ich sie, ohne Jace in die Unterhaltung einzubeziehen. Irgendwie wusste ich nicht, wie ich es anstellen sollte.
Isabelle nickte und leckte sich die Lippen. „Ich will diese Engelskraft sehen, von der alle sprechen." In einer lässigen Bewegung wandte sie sich ihrem älteren Bruder zu, der uns skeptisch aus zusammengekniffenen Augen beobachtete. „Alec wird uns auch begleiten." Es schien ihr sichtlich zu gefallen, dass die Jungs einmal nach ihrer Pfeife tanzten und nicht ihr eigenes Ding drehten.
Ich ließ mir den Unmut über Isabelles Verkündung nicht anmerken. Stattdessen spiegelte ich den neutralen Ausdruck, der auch auf Alecs Gesicht lag und überspielte die Stille, die kommen würde, wenn ich keine Reaktion zeigte. „Dann lasst uns gehen."
Wir gingen zu unserem üblichen Trainingsplatz; dem kleinen Wald am Ende des Grundstücks der Lightwoods. Über Nacht schien der Frühling hereingebrochen zu sein: Die Sonne stand hoch am Himmel und ihre Hitze wärmte meinen Nacken. Ein Großteil der Schneeschicht war dahin geschmolzen und an einigen Stellen konnte man den dunkelgrünen Rasen unter dem knisternden Weiß ausmachen. Allein der eisige Wind zeugte davon, dass die Krallen des Winters noch nicht völlig losgelassen hatten. Ich war erleichtert darüber. Der plötzliche Wetterumschwung erinnerte mich an die Zeit, die uns allen im Kampf gegen Valentin und Jonathan davonrannte.
Jace und Alec standen etwas unbeholfen im Schatten der ersten Reihe an Bäumen, während ich mir meinen Mantel ohne zu zögern von den Schultern streifte und in den funkelnden Schnee warf. Dann nahm ich im Schneidersitz Platz, mit dem Rücken zur Sonne, um meinen Körper zu wärmen, ohne geblendet zu werden. Isabelle war schnell darin mich nachzuahmen und genoss den Widerwillen auf den Gesichtern der Jungs, ihre Mäntel ebenfalls schmutzig zu machen. Doch kurz darauf saßen auch sie auf dem tauenden Boden, dessen Kälte nur von der Sonne davon abgehalten wurde, mich zu übermannen.
„Und was genau machen wir jetzt?", fragte Alec, der mir gegenübersaß und zwischen Jace und mir hin- und herstarrte. Sein pechschwarzes Haar flatterte im Wind und man sah ihm an, dass er unzufrieden über die Entwicklung der Situation war. So stellte er sich wohl kein Training vor.
Die anderen hatten sich so neben mich gesetzt, dass wir nun einen kleinen Kreis bildeten. Trotzdem beugten sie sich vor, als ich die Worte zitierte, die Ithuriel mit mir geteilt hatte. Diese Gabe ist nicht von mir abhängig. Die Rune war nur ein Anstoß, damit du verstehst, wozu du fähig bist. Du stammst aus einer kreativen Familie, deine Mutter war eine Künstlerin und genau das steckt auch in deinen Adern, Clarissa. Du musst nur zu diesem Ideenreichtum vordringen und sich ihm öffnen. Überwinde die Brücke zu deinen tiefsten Wünschen. Deine Stele ist der Schlüssel über diese Brücke.
„Die Brücke zu deinen tiefsten Wünschen. Wir müssen nur herausfinden, wofür die Metapher steht", murmelte Jace nachdenklich und fuhr sich mit seinen langen Fingern durch das aschblonde Haar.
„Die Stele ist also der Schlüssel zu deiner Gabe", wiederholte Isabelle laut, als versuchte sie, so ihre Gedanken zu ordnen. „Aber was stellt die Brücke im wörtlichen Sinne dar?"
„Wie hast du denn bisher die Runen erschaffen?", fragte Alec etwas zurückhaltend, wie wenn er die Antwort nur teilweise wissen wollte. Ich wunderte mich, wie wenig Jace ihm eigentlich von allem erzählt haben musste, wenn er selbst davon nichts wusste.
„Ich habe nur eine Rune geschaffen", korrigierte ich ihn. Meine Finger glitten über den weißen Boden und zeichneten die Rune in den Schnee. Ohne Stele war auch sie sinnlos. „Sie hat ein Portal geöffnet. Ithuriel hat sie mir in einem Traum gezeigt."
„Vielleicht schickt er dir ja weiter solche Runen", warf Isabelle ein, wirkte jedoch selbst nicht wirklich überzeigt von ihrer Mutmaßung. Sie hatte ihre rotbemalten Lippen in einer angestrengten Pose zusammengekniffen und sah ein wenig verärgert aus. Mit der Rückseite ihrer rechten Hand strich sie über die Schneide ihres platinumfarbenen Dolches, den sie zwischen den Fingern balancierte.
Ratlos schüttelte ich den Kopf. „Ich habe ihn heute das erste Mal wiedergesehen, seitdem wir ihn von seinen Ketten befreit haben. In keinem meiner Träume seither kamen Engel oder Runen vor." Von dem stetig wiederkehrenden Jonathan, der meine Träume heimsuchte, sagte ich nichts. Ich fragte mich noch immer, ob er Jace im Schlaf dieselben Worte zuflüsterte. Erchomai, ich komme.
„Deine Mutter war Künstlerin. Woher hatte sie ihre Ideen?" Es war seltsam, dass Jace mich in der Öffentlichkeit direkt ansprach. Bisher hatte er es unter allen Umständen immer vermieden. Er hatte mich nicht einmal anschauen wollen, außer um mir einen dieser dolchartigen Blicke zuzuwerfen. Und jetzt blickte er mich an, als wäre das alles längst vergessen. Kein Hass lag in seinen Augen. Neugier allein war es, der ich begegnete.
„Sie hat hauptsächlich Landschaften gemalt", erklärte ich kurz angebunden und senkte den Blick. Vor meinem inneren Auge tauchte das lächelnde Gesicht Jocelyn's auf, wie sie mit vor der Brust verschränkten Armen vor einer ihrer bunten Leinwände stand und mir versuchte, die Pinselstriche zu erklären. Valentin hatte nie viel dafür übriggehabt, genauso wenig wie Jonathan, sodass ich die Einzige gewesen war, mit der sie wenige Bruchstücke ihrer Leidenschaft geteilt hatte. „Meistens Idris, auch Alicante. Die Bilder waren aber alle schon in ihrem Kopf. Sie konnte das Anwesen ja nicht einfach verlassen, um sich inspirieren zu lassen oder erste Skizzen zu zeichnen."
„Dann sind die Runen bereits in deinem Kopf", schlussfolgerte Alec und zuckte beinahe sofort die Schultern, als wollte er nicht die Verantwortung für seinen Vorschlag übernehmen, falls dieser beim Rest der Gruppe nicht gut ankam.
Doch Isabelle nickte bereits eifrig und schnipste mit den Fingern. „Das macht ja Sinn, wenn Ithuriel gesagt hat, dass die Gabe nicht von ihm abhängig ist." Dann tippte sie sich an die Schläfe, als hätte sie einen Geistesblitz gehabt. „Ideenreichtum, um neue Runen zu erschaffen. Dein Kopf erschafft sie selbst."
„Aber da sind keine Ideen in meinem Kopf und auch keine fremden Runen", bemerkte ich bitter und lehnte mich in dem Versuch nach hinten, mich aus der Diskussion auszuklinken. Ein Rätsel führte zum nächsten. Wir drehten uns im Kreis und alles, was wir hatten, waren Vermutungen.
„Weil du nicht verstehst, wie du die Gabe benutzen sollst. Vielleicht ist sie wie ein Werkzeug, das man auf eine gewisse Art verwenden muss", entgegnete Jace mit scharfer Stimme. Der hellwache Blick, den er mir zuwarf, warnte mich davor, jetzt aufzuhören. „Ithuriel hat dir mehrere Tipps für dasselbe Rätsel gegeben, nur anders formuliert. Einmal spricht er von Ideenreichtum, dann aber von tiefsten Wünschen. Was wenn das eine aus dem anderen entsteht?"
„Die Ideen für die Runen sollen also aus meinen tiefsten Wünschen entstehen?" Der unüberzeugte Ausdruck auf meinem Gesicht sprach Bände und Jace merkte, dass er mich damit nicht weiter ködern würde. Er wirkte so fasziniert von dem Rätsel, dass mir meine fehlende Motivation beinahe irgendwie leidtat. Es änderte jedoch nichts daran, dass seine Worte albern klangen.
„Die Stele ist der Schlüssel zu deinen tiefsten Wünschen", fuhr Jace dann fort, ohne sich von meiner negativen Ausstrahlung beeinflussen zu lassen. „Vielleicht ist das ja gar keine Metapher."
„Metapher oder nicht, ich bin eine Kriegerin und keine Poetin. Mit Wortspielen kann ich nichts anfangen."
„Und das weiß Ithuriel auch", sagte Jace und ein kleines Grinsen hob seine Mundwinkel nach oben. „Und deshalb glaube ich auch, dass ich die Lösung für das Rätsel kenne."
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