Kapitel 32.2. - Truth And Pain

Jace antwortete nicht. Er reagierte überhaupt nicht. Mittlerweile hatte er beide Beine auf die Fensterbank geschwungen. Sein Rücken lehnte gegen die Wand, sodass, wenn er geradeaus schauen würde, er mich direkt im Blickfeld hätte. Stattdessen ließ er die Schultern hängen, wodurch ihm einzelne Haarsträhnen über die Stirn fielen. Seinen Kopf stützte er gegen den Fensterrahmen und seine goldenen Augen waren fast ausnahmslos auf die funkelende Stadt gerichtet, die von leuchtenden Dämonentürmen umgeben war. Dabei gab er sich Mühe, die Emotionen auf seinem Gesicht zu verbergen. Dunkle Augenringe zeichneten sich auf seinen Wangen ab und die Art, wie ihm alle paar Sekunden die Augen zufielen, deutete seine Erschöpfung an. Zum ersten Mal nahm ich seine Kleidung in Augenschein. Die Kampfmontur von heute Früh hatte er gegen einen lockeren anthrazitfarbenen Sweater und eine Bluejeans eingetauscht. Seine goldblonden Haare wirkten im schummrigen Kerzenlicht fast gräulich. Doch selbst in diesem Augenblick, in dem er keine Anstalten machte, anschaulich auszusehen, konnte ich die Leichtigkeit und die Anmut seines Wesens nicht ignorieren. Er erinnerte mich an Ithuriel. Er war die Art von Mensch, die meine Mutter gemalt hätte.

„Kadir hätte noch viel schlimmeres verdient", offenbarte ich nach einer ungewissen Zeit der Stille. „Hättest du mich nicht zurückgehalten, dann wüsste ich nicht, was ich mit ihm gemacht hätte."

„Das ist Kadir in dem Moment klargeworden, als du ihm den Dolch an die Brust gehalten hast", bemerkte Jace und seine Augen trafen meine. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Du hättest dich sehen sollen. Ich glaube du bist dir gar nicht bewusst, was für eine Wirkung du auf andere haben kannst. Ich habe Kadir noch nie so verängstigt gesehen."

„Ich war so wütend auf ihn", flüsterte ich, ohne den Blick von ihm zu lösen, Kadir vor meinem inneren Auge. „Ich bin es immer noch. Er hat mich gedemütigt."

„Ich hatte Angst, dass du ihn tötest", antwortete er zu meiner Überraschung. „Ich dachte du würdest ihn töten, als du zu ihm zurückgelaufen bist. Aber du hast ihn verschont, das ist genug Demütigung. Adam und ich wissen beide, dass er keine Chance gegen dich gehabt hätte."

Ein freudloses Lachen verließ meinen Mund und ich biss verärgert die Zähne aufeinander. „Ich habe es in Erwägung gezogen, ihn zu töten. Ich war kurz davor, ihm die Kehle durchzuschneiden."

„Ich bin froh, dass du es nicht gemacht hast. Die Dinge wären dann jetzt um einiges komplizierter", sagte Jace mit tonloser Stimme.

„Allein der Gedanke, dass sie mich dafür hinrichten würden und meine Mutter dann umsonst ihr Leben verloren hätte, hat mich davon abgehalten." Ich senkte die Augen und starrte auf meine Füße. Bevor er etwas sagen konnte, das die Stimmung im Raum noch unangenehmer gemacht hätte, fuhr ich fort. „War es das, was du von mir wolltest? Mir Bescheid geben, dass die Inquisitorin Kadir ersetzen wird?"

Jace knirschte mit den Zähnen und ihm kam ein Seufzen über die Lippen. „Nicht ganz. Der eigentliche Grund für mein Kommen ist etwas anderes." Er zögerte. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen. Für das was im heute im Ring passiert ist. Das was ich getan habe ... Es stört mich, dass ich mich nicht beherrschen konnte." Jace machte eine Pause und atmete tief ein.

Ich konnte nicht anders, als ihn anzustarren. „Du wolltest?"

Jace öffnete den Mund. Verwirrung huschte über sein beinahe symmetrisches Gesicht. „Nein, natürlich nicht. Ich meine, ich möchte mich immer noch entschuldigen."

Mit vor Überraschung geweiteten Augen starrte ich ihn an, die Brauen nach oben gezogen und unfähig, die richtigen Worte herauszubringen. Ich hatte zwar darüber nachgedacht, aber eine Entschuldigung von ihm war für mich ausgeschlossen gewesen.

Meine Verblüffung wurde nur größer, als Jace anfing zu lachen. Es war ein bitteres, unglückliches Lachen. „Ich sehe schon. Mein Verhalten dir gegenüber muss dazu geführt haben, dass du mich jetzt so anschaust."

Meine Stimme stockte. „Du warst nicht gerade freundlich zu mir. Zum Teil hat es seine Gründe, aber du kannst nicht alles mit deiner Vergangenheit entschuldigen. Allerdings war das, was heute beim Training geschehen ist, nicht deine Schuld."

Jace presste die Lippen unzufrieden zusammen und sein Gesicht verwandelte sich in eine Maske aus Bitterkeit. „Meine Vergangenheit ist etwas, worüber ich nicht reden will. Du hast zwar recht, dass ich nicht alles mit ihr rechtfertigen kann, aber ich kann das was ich fühle nicht ändern. Wie rechtfertigst du die Dinge, die du in der Bibliothek zu mir gesagt hast?"

„Ich weiß, dass meine Worte an dem Tag nicht fair waren", erwiderte ich und gab mir Mühe, die Schärfe aus meiner Stimme herauszuhalten. Es hatte keinen Zweck seinem Zorn mit meinem eigenen zu begegnen. „Ich hätte mich zurückgehalten, wenn du diesen immensen Hass gegen mich gezügelt hättest, Jace. Ich hatte genug davon, immer nur einstecken zu müssen. Es war nicht fair, wie du mich behandelt hast und wenn du selbst nicht einstecken kannst, ist das eher dein Problem als meines."

„Ja, das ist einer der Gründe, warum ich hier bin", sagte Jace dann und die Ablehnung war aus seiner Stimme verschwunden so schnell wie sie gekommen war. „Als du Kadir angeschrien hast, meintest du, dass ich dich verabscheuen würde. Du hast es gerade wieder behauptet, aber du hast einfach keine Ahnung. Ich bin hier, um das richtigzustellen." Jace zögerte für einen Moment, die Lippen halb geöffnet, als würde er die richtigen Worte suchen. „Ich hasse dich nicht, zumindest nicht mehr. Ich kann nicht genau sagen, was unterdessen geschehen ist, aber die Dinge haben sich geändert. Es ist, als könnte ich jetzt viel klarer sehen. Seitdem du das Portal erschaffen hast und Ithuriel uns diese Bilder aus unserer Vergangenheit gezeigt hat, habe ich viel Zeit damit verbracht, über alles nachzudenken. Über meine Eltern, ihre Geschichte, Valentins Geschichte und über dich und deine Geschichte seit deiner Ankunft in New York. Bis auf das Engelsblut in meinen Adern hast du von Anfang an die Wahrheit gesagt. Über die Rune, über deine Träume, über Jonathan und seine ... Verwandlung."

Bei der Erwähnung von Jonathans Namen zuckte ich unwillkürlich zusammen. Ich wagte es nicht zu lächeln, zu fragil erschienen mir die Worte aus seinem Mund. „Zuerst einmal freut es mich zu hören, dass du mich nicht mehr hasst, auch wenn mir das irgendwie surreal erscheint. Es war schon recht schwer, zu dir durchzudringen. Dabei war die Wahrheit die ganze Zeit vor deiner Nase. Du hättest nur zuhören brauchen."

„Ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Ich will ehrlich mit dir sein: Die ersten Tage seit ich erfahren habe, wer du bist, waren recht ... schwierig für mich. Ich war andauernd wütend und wusste nicht, was ich mit dieser Wut anfangen sollte. Es gab mehr als einen Moment, in dem ich es für das Beste hielt, dich einfach zu töten."

Ein nervöses Lachen entsprang meiner Kehle. „Nun, du hast dich offensichtlich anders entschieden." Der Gedanke, dass er mich hatte umbringen wollen, war mir zu der Zeit mehr als einmal durch den Kopf gegangen. So wie er sich mir gegenüber benommen hatte, hatte ich es ihm zugetraut. Was hatte er schon zu verlieren? Seine Großmutter wäre sicher auf seiner Seite gewesen. Den Tod oder den Entzug seiner Runen hätte er nicht fürchten müssen.

„Du verstehst das falsch." Er räusperte sich, ein unangenehmer Ausdruck von Schmerz spiegelte sich auf dem Gesicht. Seine goldenen Augen trafen meine und er streckte seine Hand in meine Richtung aus, nur um mit den Fingern eine Faust zu bilden. Er schien mich unbedingt von der Qual überzeugen zu wollen, die er in den letzten Wochen meinetwegen durchlebt hatte. Warum war er dann so bereitwillig, mir von der Wahrheit zu erzählen, wenn sie ihn so zu belasten schien? „Du weißt nicht, wie es war, Clary. Dieser Schmerz, dich lebendig zu sehen und zu wissen, dass meine Familie es niemals wieder sein würde, war unerträglich. Ich habe mir richtige Szenarien ausgemalt, Pläne geschmiedet. Zwei Mal war ich kurz davor, es durchzuziehen." Sein fast schon wilder, flehender Blick heftete sich erwartungsvoll auf mich.

Was erwartete er von mir? Wollte er hören, dass ich ihm verzieh? Wollte er hören, dass ich ihn verstand? Oder wollte er eine Entschuldigung für mein eigenes Leben? „Du musst mir diese Dinge nicht erzählen, Jace. Es ist deine persönliche Geschichte und ich bin mir sicher, dass jede Entscheidung, die du getroffen hast, eine schwierige war. Ich kann deinen Schmerz nicht teilen, aber ich trage meinen eigenen mit mir." Eine warme Wut breitete sich schleichend durch meine Adern aus. Ich war nicht hier, um mich zu rechtfertigen. Alle Nephilim hatten Schmerz und Qual erlebt, er tat so als wäre er der Einzige, der etwas verloren hatte. Welche Reaktion erwartest du, wenn du gerade deinem potenziellen Mordopfer erzählst, dass du es umbringen wolltest? Nicht gerade das beste Thema, oder?

Jace schien zu merken, dass seine Worte nicht das Passendste waren, was er hätte sagen können. Vielleicht spürte er meinen Stimmungswechsel. Irgendwie tat er mir leid, unter dem Schatten des Zorns, denn er schien tatsächlich reinen Tisch machen zu wollen. Nur was erhoffte er sich davon? Eigentlich erschien er mir nicht wie der Typ Mensch, der Tag und Nacht von seinen Schuldgefühlen aufgefressen wurden. Allein der Blick in seinen Augen und seine gerade gesprochenen Worte ließen ein Leid hinter dieser Wand erahnen, dessen Ausmaß ich nicht erfassen konnte. „Naja, eigentlich spielt es auch keine wirkliche Rolle. Du musst meine Entschuldigung nicht annehmen. Ich wollte nur, dass du Bescheid weißt. Ich weiß zwar immer noch nicht, ob du uns vielleicht alle doch nur zum Narren hälst, aber wenn dem so ist, werde ich es herausfinden."

Jetzt war er wieder eher der Jace, den ich in den letzten Wochen kennengelernt hatte. Er drehte sich zu mir um und schwang die Beine von der Fensterbank. Die Maske aus Überheblichkeit und Selbstbewusstsein lag nun wieder über seinem Gesicht und verdeckte das, was er wirklich fühlte. Das konnte er wirklich gut, seine Gefühle verstecken.

„Wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln", erwiderte ich kühl, lehnte mich in meinem Stuhl zurück und betrachtete ihn aus zurückhaltenden Augen.

Jace nickte und seine Augen wanderten in Richtung Tür. „Es ist spät. Beantworte mir noch eine Frage, bevor ich gehe. Wieso hast du mir nichts von dem Engelsblut erzählt?"

Ich zögerte. „Meine Mutter hatte mir von den Experimenten meines Vaters erzählt, als wir uns auf der Reise nach New York befanden. Sie erzählte mir von Céline Herondale, mit der sie eine Freundschaft pflegte, die allerdings von Valentin ausgenutzt wurde, um an einer weiteren schwangeren Frau seine Experimente mit Ithuriels Blut durchzuführen. Nach dem Tod deines Vaters schnitt– Du weißt ja was passiert ist, auf jeden Fall hat der Rat sie vor meinem Vater gefunden. Andernfalls ..."

„Andernfalls wäre ich vielleicht gemeinsam mit dir und deinem Bruder aufgewachsen", beendete Jace meinen Satz im Flüsterton, jede Emotion war aus seiner Stimme verschwunden.

„Das wäre eine der Optionen", fuhr ich fort und zuckte leicht mit den Achseln. „Ich habe nie erfahren, was er mit dir vorhatte. Als wir uns im Institut zum ersten Mal begegnet sind und du dich mir mit Jace Herondale vorgestellt hast, war ich zuerst verwirrt, weil meine Mutter dich in ihren Erzählungen Jonathan genannt hat. Ich war mir erst sicher wer du warst, nachdem ich mich dir vorstellte und deine Reaktion sah. Danach gab es lange nicht den richtigen Zeitpunkt, um dir die Wahrheit zu sagen. Wahrscheinlich hättest du sie mir sowieso nicht geglaubt. Hätte ich gewusst, was deine Großmutter vor dem versammelten Rat mit mir vorhatte, dann hätte ich dir vorher davon erzählt. Ich wollte dein Geheimnis nicht der Öffentlichkeit preisgeben, weil es nicht mein Recht war, es irgendwem außer dir zu erzählen."

Jace hatte den Kopf gesenkt und starrte für einen Augenblick auf seine Füße, die in der Luft baumelten. Dann schaute er auf und unsere Blicke begegneten sich. „Danke, dass du es mir erzählt hast."

Ohne auf eine Antwort meinerseits zu warten, sprang seine drahtige Statur vom Sims und zog an mir vorbei. Der Geruch von Aftershave drang zu mir herüber. Er roch nach frischem Frühlingswind und holzig-süßem Ahorn. Jede seiner fließenden Bewegungen strotzte vor Hochmut, als er die Tür öffnete.

„Du musst mich nicht mögen, Jace", sagte ich aus dem Nichts und wartete darauf, dass er sich ein letztes Mal zu mir umdrehte, bevor ich fortfuhr. „Aber du musst mich akzeptieren."

Jace warf mir einen nichtssagenden Blick zu, schien aber für einen Moment an Ort und Stelle innezuhalten, bevor er in die Dunkelheit verschwand. Sein aschblondes Haar war das Letzte, das ich sah, bevor er die Tür leise hinter sich ins Schloss zog.

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