Kapitel 2 - Von goldenen Engeln

Kapitel 2 – Von goldenen Engeln

Schützend hob ich eine Hand vor mein Gesicht. Die Sonne schien mir durch das Fenster in die Augen und blendete mich. Das Licht tauchte den Raum in ein dunkles Orange. Wie lang hatte ich geschlafen? Ein erleichtertes Seufzen entfuhr meinen Lippen, als ich Magnus' Gästezimmer wiedererkannte.

Neben mir saß Jocelyn, die mir beruhigend über die Wange strich, während sie versuchte, mich aus der Decke zu befreien. Ich hatte mich wahrscheinlich darin verheddert, als ich versucht hatte, Jonathan zu entkommen. Der Gedanke an Jonathan ließ mich erschaudern. Der Traum war seltsam gewesen. Der Jonathan, den ich kannte, hatte sich mit dem neuen Jonathan vermischt, den ich erst vorgestern kennengelernt hatte. Es machte keinen Sinn ... Aber welcher Traum tat das schon? Verärgert verbannte ich den Gedanken an meinen dämonischen Bruder und widmete mich meiner besorgten Mutter. „Mom", begann ich und vermied jeden Augenkontakt mit ihr. „Was ist los?"

Wieder strich sie mir durch das rote Haar, wahrscheinlich um sich selbst zu überzeugen, dass ich auch wirklich wach war. Irgendwie war sie schon sehr paranoid. „Magnus ist wieder da", sagte sie, ohne die aufkeimende Hoffnung in ihrer Stimme zu verbergen. „Valentin hat bisher keine Spuren zu unserem Verbleib gefunden. Aber es wird nicht allzu lange dauern, bis er jemanden zum Reden bringt, Magnus ist sich da sehr sicher. Die Schattenwelt fürchtet Valentin. Sie würden alles tun, um einem Konflikt mit ihm aus dem Weg zu gehen. Magnus schlägt vor, im New Yorker Institut Schutz zu suchen. Der Rat muss von Valentin erfahren. Außerdem könntest du dort dein Training fortsetzen und wir wären immer mit Alicante verbunden." Ihr Gesicht war ruhig und ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.

Die Möglichkeit andere Schattenjäger zu treffen, das erste Mal in meinem Leben, machte mich nervös. Sie alle würden meinen Namen wissen. Sie würden mich hassen. Sie mussten mich hassen, wegen meines Vaters. Trotzdem überraschte mich die Entscheidung meiner Mutter. Ich hatte erwartet, dass wir unter den Menschen ein neues Leben beginnen würden. Meine Identität als Schattenjägerin nicht aufgeben zu müssen, erleichterte mich irgendwie. Ich konnte mir kein Leben ohne Seraphklingen und mein Training vorstellen. „Steht das fest?"

Jocelyn schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht, ich wollte erst deine Meinung dazu hören." Sie würde nie etwas vor mir verstecken, das wusste ich. Sie vertraute mir und wollte meine Gedanken dazu hören. Ich nickte und stimmte zu. „Ich glaube wir würden sicherer sein im Institut. Denkst du denn, dass sie uns einfach so aufnehmen werden? Was wenn sie uns für einen Deal an Valentin verkaufen? Oder wenn sie uns einfach töten?" Ich merkte selbst, wie hysterisch meine Stimme klang, als wäre ich ein alberner Teenager und keine achtzehnjährige Schattenjägerin.

„Du kennst sie nicht, aber ich tue es. Wir werden nicht völlig sicher sein, weil die Leiter des Institutes unsere Anwesenheit dem Rat melden müssen und früher oder später werden sie uns über alles befragen. Valentin ist ihr größter Feind und wir sind seine Familie, sie werden uns nicht mit offenen Armen empfangen, aber es gibt Gesetze. Wir sind Nephilim und das Gesetz sagt, dass ein Schattenjäger immer Schutz in einem Institut finden muss. Wir sind nicht der Feind des Rates, aber wenn wir dorthin gehen, müssen wir ehrlich mit ihnen sein." Sie lächelte warm und stand vom Bett auf. „Mach dir keine Sorgen, ich kenne die Leiter des Instituts. Maryse und Robert Lightwood, ich habe dir gestern von ihnen erzählt." Aus dem Augenwinkel musterte Jocelyn mich besorgt. Sie merkte, wie ich plötzlich blass wurde. „Sie sind gute Menschen", fügte sie hinzu und ich wusste, dass sie gerade an Valentin dachte.

Sie hatte ihn verlassen, ihn und ihren Sohn. Sie hatte ihn einst geliebt, liebte ihn immer noch, aber er war nun ein Monster. Sie hatte es ohne zu zögern getan. Ich wäre nicht in der Lage gewesen, mein Kind zurückzulassen, egal ob Monster oder nicht. Es machte sie nicht zu einer schlechten Mutter, aber es machte sie stärker und mutiger als ich es jemals sein würde. „Ja, ganz bestimmt."

„Okay", sagte Jocelyn und warf mir einen ernsten Blick zu. Sie sah traurig und erschöpft aus. „Wir werden schon heute gehen. Aber vorher muss ich dir noch etwas anderes sagen." Und plötzlich war sie diejenige, die den Augenkontakt vermied. „Magnus hat Neuigkeiten aus Idris. Der Rat hat es noch nicht bestätigt, aber es gab einen Angriff auf das Institut in Paris. Jonathan und Valentin waren darin verwickelt."

oOo

Magnus begleitete uns bis zur Straße, er hatte ein Taxi gerufen und wünschte uns alles Gute. Er sagte, dass wir ihn stets um Hilfe bitten könnten. Jocelyn war sehr dankbar gewesen, während ich nur versucht habe, nicht zu lachen, weil er nur in einem neon-grünen Pyjama auf dem Gehweg stand.

"Auf Wiedersehen, Magnus", sagte ich und schluckte die Furcht herunter, die in meinem Hinterkopf herumschwirrte. Eine Furcht eingepflanzt von meinem Vater. Ich wollte nicht, dass er mein Leben weiterhin kontrollierte. „Danke für deine Hilfe. Ich wünschte, dass wir auf besserem Fuß hätten starten können. Ich möchte anders sein als ..." Ich wusste nicht einmal mehr, was ich wollte. Ich wusste gar nichts. Nichts außer Lügen.

Magnus schenkte mir ein kleines aber freundliches Lächeln. "Es ist nicht zu spät, um dein Schicksal zu ändern, kleine Nephilim", sagte er und hob seine Hand, als würde er meine Schulter berühren wollen, sich aber eines Besseren besinnen. „Du bist jung. Du hast ein Leben lang, um zu lernen, um richtig zu machen, was dein Vater falsch gemacht hat."

Ich öffnete den Mund, um ihm zu danken, als ich ein seltsames Geräusch hinter mir hörte. Ich drehte mich herum und entdeckte ein gelbes Taxi, das einige Meter von uns entfernt am Gehweg angehalten hatte. Ich wusste wie Autos aussahen, hatte sie bisher aber nur in Büchern gesehen. Trotzdem hatte ich ein völlig anderes Auto im Kopf. Anstatt einer Farbe war dieses Auto gelb und es hatte Werbereklamen an den Seiten kleben. Auf dem Dach war ein Schild befestigt, mit einer Nummer darauf.

„Es wird Zeit", sagte Jocelyn, die direkt neben mir stand. Gemeinsam betrachteten wir das Taxi. Wir verabschiedeten uns von Magnus und stiegen ein.

Bis heute hätte ich nie gedacht, mein Zuhause innerhalb von 24 Stunden ein drittes Mal wechseln zu können. Nun würde es Realität werden und es fühlte sich überhaupt nicht gut an. Meine Mutter und ich tauschten während der Fahrt kaum Worte aus. Wir beide starrten neugierig aus dem Fenster und beobachteten das Nachtleben von Brooklyn. Zuerst sahen wir kaum Menschen, nur einige wenige hier und da. Dann waren wir plötzlich auf einer großen Brücke. In der Dunkelheit der Nacht war die Brücke hell erleuchtet, tausende kleine Glühbirnen sorgten dafür. Um uns war Wasser, ein fließendes und funkelndes Gewässer. Doch das eigentliche Highlight war die Stadt, auf die wir zufuhren. Sie sah aus wie eine Halbinsel umgeben von Wasser, mit riesigen Wolkenkratzern darauf, die von der untergehenden Sonne in einem orangenen Ton angestrahlt wurden. Beinahe so schön wie Alicante. Beinahe.

Als wir die Brücke hinter uns ließen, waren die Menschen plötzlich überall. Mundies mit verschiedenen Haut- und Haarfarben. Die meisten sahen beschäftigt aus, aber manche schienen einfach nur umherzuspazieren. An manchen Straßen konnte ich Einblicke auf das Leben der Schattenweltler erhaschen. Vampire und Werwölfe schienen New York ebenfalls zu mögen. Ich wollte mir die Stadt genauer anschauen, wenn ich die Möglichkeit dazu bekommen würde.

Langsam fuhren wir durch die Straßen Manhattans und dann entdeckte ich das Institut. Es war ein riesiges und majestätisches, aber historisches Gebäude. So auffällig und prachtvoll und doch unsichtbar für die Augen der Mundies. Ich war keine Mundie, sondern eine Nephilim und deshalb in der Lage, die Wahrheit hinter den Schichten des Zauberglanzes zu sehen.

Wir stiegen hastig aus, als das Taxi einige Meter vom Institut entfernt anhielt, nahmen unsere Taschen und warteten bis es davonfuhr. Dann kehrten wir der beschäftigten Straße den Rücken und gingen auf die Flügeltüren zu. Jocelyn hob ihre rechte Hand an die schwarzen hölzernen Türen und murmelte etwas. Eine Sekunde später flogen sie auf.

Wir betraten das Institut und kamen in einer großen Halle, die aussah wie ein Kirchenschiff, zum Stehen. In der Halle standen hölzerne Bänke, die genau aneinander angeordnet schienen. Ich hob meinen Kopf, um die Halle zu begutachten und war erstaunt beim Anblick der hohen Decke und den vielen detaillierten Malereien darauf. Goldene Kerzenständer leuchteten auf beiden Seiten und der Boden war aus poliertem Marmor gefertigt. Doch etwas anderes gewann meine Aufmerksamkeit: Überall waren Runen. Geritzt in den Marmor, gemalt auf die Wände und an die Decke und sogar in die Bänke geschnitzt.

Und auf einer der Bänke saß eine Frau, die nun aufstand als sie uns erkannte und langsam auf uns zukam. Sie hatte langes voluminöses schwarzes Haar, blaue Augen und musterte uns mit einem eher unzufriedenen Ausdruck. Sie muss Maryse Lightwood sein, dachte ich und folgte meiner Mutter.

„Jocelyn", sagte Maryse und ihre Stimme war kalt und sehr distanziert. „Es ist schon zu lange her, aber du hast dich kein Stück verändert." Sie klang zwiegespalten und ich konnte den stillen Vorwurf in ihren Worten hören. Maryse trug nicht die gewöhnliche Schattenjägermontur, sondern eine schwarze Robe, die für Nephilim mit einer wichtigen Aufgabe bestimmt war. Leiterin eines Instituts zu sein, schien eine solche wichtige Aufgabe zu sein. Man war immer noch fähig, perfekt in einer solchen Robe zu kämpfen. An ihrem Gurt trug Maryse einen silbernen Dolch.

Jocelyn veränderte ihre Miene nicht. „Haben wir uns nicht alle verändert? Wir haben uns eine lange Zeit nicht mehr gesehen und ich war mir nicht sicher, ob du meiner Bitte stattgeben würdest."

Maryse' Stimme war ruhig und klar als sie bemerkte: „Das Gesetz hat mir keine Wahl gelassen. Wenn ich ehrlich bin, fühle ich mich dabei nicht sonderlich wohl, ich kann dir nicht vertrauen. Aber ihr seid nun hier und wir werden sehen, wie sich die Dinge entwickeln." Neugierig wanderten ihre Augen zu mir. „Das muss deine Tochter sein."

Ich nickte und versuchte zu lächeln. Ohne Zweifel war sie überaus neugierig, die Morgenstern Tochter kennenzulernen. Es widerte mich an. Warum musste sie mich mit meinen Eltern vergleichen? Warum suchte sie nach Ähnlichkeiten zwischen mir und Valentin? Ich wusste, dass sie es tat.

Für einen kurzen Moment runzelte meine Mutter die Stirn. „Ja, das ist Clary. Ich hörte, du hast ebenfalls eine Tochter?"

„Ich kann nur vermuten, wer dir das erzählt hat", sagte Maryse, der das Blut aus dem Gesicht gewichen war. „Aber es ist wahr, meine Tochter Isabelle muss in Clarys Alter sein." Es schien, als missfiel ihr der Gedanke, dass wir über ihr Privatleben Bescheid wussten. Ich konnte mir nur vorstellen, wie sie nun die Sicherheitsvorkehrungen im Institut erhöhen würde. Niemand durfte im Moment Schwäche zeigen. Jeder konnte ein Spion meines Vaters sein.

„Ich gehe davon aus, dass du den anderen Bewohnern noch nichts von uns erzählt hast, habe ich Recht?" Besser so, dachte ich. Sie würden uns sowieso hassen.

„Du hast Recht", gab Maryse zu. „Ich habe es ihnen noch nicht gesagt. Ich weiß nicht, wie ich es ihnen erklären soll. Du musst verstehen, dass sie noch sehr jung und nicht so gut auf eure Familie zu sprechen sind. In den Köpfen der Jugendlichen ist Valentin ein kaltblütiger Mörder, zurecht." Ich hatte das Gefühl, als würde Maryse uns mit ihren Worten testen wollen. Sie wollte unsere Reaktion sehen. Aber mein Gesicht hätte einer Eislandschaft gleichen können.

Schweigen dominierte für eine lange Zeit, während Maryse uns musterte und abwägte, ob sie uns vertrauen konnte. Es fühlte sich an, wie ein stilles Verhör, doch ich widerstand dem Versuch, ein frustriertes Stöhnen von mir zu geben. Es wäre keine besonders kluge Idee und außerdem nicht sehr höflich. Ich wollte uns schließlich nicht in ein noch schlechteres Licht rücken.

„Ihr seht müde aus", sagte Maryse schließlich mit einem entschlossenen Ausdruck in den Augen. Es schien, als hätte sie eine Entscheidung getroffen. „Ich zeige euch eure Zimmer." Sie hob ihren Arm und deutete auf einen goldenen Aufzug zu unserer Linken.

Leise wie ein Schatten folgte ich meiner Mutter. Ich wollte so wenig Aufmerksamkeit wie möglich auf mich ziehen. Wie ich im Aufzug erfuhr, bestand das Institut aus fünf Stockwerken, wobei ich mir ziemlich sicher war, dass nicht alle von ihnen benutzt wurden. Als die Tür sich wieder öffnete befanden wir uns in der zweiten Etage. Maryse betrat einen langen Korridor und ich starrte an die Decke, vollkommen hingerissen, während ich Maryse folgte. Sie war überzogen von unendlich erscheinenden Deckenmalereien. Bilder von großen Engeln mit goldenen Augen und blondem Haar in wundervollen weißen Roben mit einem Paar weißer großer Schwingen, die aussahen, als könnte man sie tatsächlich berühren. Ich konnte meinen Blick nicht von ihnen abwenden. Drei Engel standen deutlich im Vordergrund und mehrere Dutzende im Hintergrund. Obwohl es so viele waren, unterschieden sich ihre Gesichtsausdrücke voneinander, jedoch konnte man immer noch Ähnlichkeiten zwischen ihnen erkennen. Als wären sie alle miteinander verwandt. Der Hintergrund war baby-blau und eingerahmt von Wolken und einem himmlischen Tor, das im Sonnenlicht leuchtete.

Maryse bemerkte mein Interesse. „Erkennst du sie?", fragte sie mit einer milderen Stimme.

                                                                    
Betrübt schüttelte ich den Kopf, aber es schien, als wenn ich sie von irgendwoher kannte. Mein Blick fiel auf einen kleineren Engel im Hintergrund. Sein Mund war in einer erwartenden Geste zusammengepresst. Er schien mir völlig vertraut. Als würde mir sein Name auf der Zunge liegen, doch ich war nicht fähig ihn laut auszusprechen. „Nur die Erzengel."

„Ja, im Vordergrund haben wir die drei Erzengel Raziel, Michael und Gabriel. Im Hintergrund sieht man Ithuriel, Israfil, Mikail und einige andere Engel. Manche Legenden besagen, dass Ithuriel auch zu den Erzengeln zählte, aber das sind nur Legenden." Ithuriel. Es war der Name, den ich gesucht hatte.

Das erste Mal, seit wir das Institut betreten hatten, lächelte ich. Maryse sah es und verzog unbeholfen die Mundwinkel. Wir folgten ihr durch den Korridor und gingen an einer großen Tür vorbei. Der nächste Flur war nicht so lang wie der Erste, dafür kreuzte er öfters an andere Korridore. „Die Zimmer sind in diesem Sektor. Ich werde dir zuerst dein Zimmer zeigen, Clary. Deine Mutter wird in einem anderen Flur untergebracht sein, weil hier nur Kinder und Jugendliche schlafen." Sie zuckte die Schultern und öffnete eine Tür. Dann warf sie mir einen kleinen Schlüssel zu.

Bevor meine Mutter mit Maryse hinter einer Ecke verschwand, winkte sie mir zu und wünschte mir eine gute Nacht.



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Jaja, jetzt geht die Geschichte richtig los. Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen!
Lg, Skyllen :D

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