6. Fynn

6. Fynn

Carla knetet ein letztes Mal meine wunden Schultern, bevor sie mich unter die Dusche schickt. Zunächst drehe ich den Hahn auf die kälteste Stufe auf, dann wechsele ich zum warmen Wasser. Trotz Psychotherapie fühlen sich meine Muskeln verspannt an.

Das Spiel heute gegen die Friars, unseren altbekannten Gegner, war erstaunlich brutal. Die Friars haben sich einen neuen Stürmer mit ans Bord geholt. Luke Reyes ist ein Titan, dessen Gegenwart einen einengt. Er möchte am liebsten jeden von uns zerstampfen und das Hirnwasser aus unseren Köpfen ausquetschen. Während des Spiels wurde jedoch ziemlich schnell deutlich, dass Reyes keinen Teamgeist hat. Und dies brachte uns letztendlich den Sieg.

Nachdem ich mir frische Sachen über den Kopf geworfen habe, verabschiede ich mich von meiner Psychotherapeutin und mache mir auf dem Weg zum Parkplatz, wo mein Baby steht. Es ist ein schwarzer Rennwagen von Bugatti. Ich schmeiße meine Trainingstasche auf die Rückbank und starte den Motor.

Es ist kurz vor neun. Die Jungs wollen sich in Steven's treffen, um zu feiern. Wir haben mit 15:7 gewonnen. Na und? Der Anspruch war nicht sonderlich hoch. Das Niveau der Friars liegt so niedrig, dass ich dieses Spiel nicht mal annähernd als ein Auftakt zu der neuen Saison bezeichnen kann.

Der Name ‚Ava' leuchtet auf dem Bildschirm an der Mittelkonsole auf. Ich setze das Headset auf.

„Hi, Fynn. Wie lief das Spiel?" Avas vertraute Stimme dringt in mein Ohr.

„Gut", antworte ich. Mehr möchte ich nicht zu sagen. Es war normal, aber nicht herausfordernd. Und das bringt mich verdammt nicht weiter! Ich kann nicht mehr gegen solche niveaulosen Pussys spielen, wenn mein Ziel die höchste Klasse ist.

Auf der anderen Seite der Leitung herrscht ein paar Sekunden Stille. Schließlich sagt sie: „Stimmt. Wie kann ein Spiel schlecht sein, wenn Fynn Tyler Vaughn dabei ist?" Ich höre Trost aus ihrer Stimme heraus.

Eine rote Ampel bringt das Auto zum Stehen.

Hier ist noch ein Grund, der es mir unmöglich macht, Ava gehen zu lassen. Sie weiß genau, wann sie besser nicht nachfragt und mich in Ruhe lässt.

„Tut mir leid übrigens, dass ich nicht kommen und euch Jungs anfeuern konnte. Jerkins hat uns plötzlich eine dreißigseitige Hausarbeit auf den Hals gehetzt, die wir schon Ende nächster Woche abgeben müssen", schnaubt sie.

Ich lache leise. Avas Professor heißt eigentlich Jenkins. ‚Jerk' leitet sich daher, weil Professor Jenkins sich ständig bei Ava einschleimt, in der Hoffnung, seiner Tochter einen Arbeitsplatz bei der Easton sichern zu können.

Die Ampel wechselt zu grün.

„Jerkins gibt dir so oder so die volle Punktzahl, sogar wenn du keine Seite schreibt", ärgere ich sie und trete auf das Gaspedal.

„Soll ich das etwa zulassen?", murrt sie, „ich möchte meinen Abschluss aus eigener Kraft schaffen, und nicht weil ich die Tochter der reichen Eastons bin."

Wenn man mit einem goldenen Löffel im Mund geboren wurde, tendieren die Leute dazu, Vorurteile über einen zu fällen. Die eigene Leistung ist nie die eigene, sondern die der Eltern. Einst wurde ich zum Kapitän des Rugbyteams ernannt. Es war in der Grundschule. Ich war relativ neu im Team, weshalb die Entscheidung des Coaches vielen nicht gefiel. Sie redeten schlecht hinter meinem Rücken und bald verbreitete sich das Gerücht, ich sei nur Kapitän geworden, weil ich der Sohn der Vaughns bin.

Volltrottel. Sie hatten keine Ahnung, wie hart ich dafür arbeitete. Mittlerweile schere ich mich einen Dreck um die Bemerkungen anderer Leute. Es lenkt einen, verdammt nochmal, nur ab.

Ich stoße einen tiefen Luftzug aus. „Zum Teufel, bist du leicht zu verärgern."

„Bist du zu Hause? Was machst du gerade?", wechselt sie das Thema.

„Nein, bin auf dem Weg zu Steven's. Die Jungs wollen heute die Sau rauslassen. Drei Wochen ununterbrochenes Training haben alle ziemlich fertiggemacht. Du bist nicht zu Hause?"

„Nee, bin mit Paar anderen in der Bibliothek. Büffeln", schnurrt sie.

Die Silhouette des Universitätsinstituts fällt auf die Windschutzscheibe. Die Gehwege werden mit kleinen Lichtern beleuchtet. Ich biege zum Studentenparkplatz ab. Von hier aus ist Steven's nur fünf Minuten entfernt.

„Ich schließe mich dann mal den Jungs an." Es ist nun still im Auto, da der Zündschlüssel nicht mehr im Schloss steckt.

„Klar. Bis später." Sie legt auf.

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Tiefer Bass wummert gegen die Wände. Auf der Tanzfläche kleben die schwitzenden Körper der Studenten aneinander. Sobald ich in Steven's eintrete, versperrt mir eine Tussi nach der anderen den Weg. Jede tätschelt mir entweder den Arm oder küsst mir auf die Wange. Unsanft schiebe ich eine nach der anderen weg. Verdammte Mist, ohne die Begleitung von Ava kann ich nicht mal mehr einen Club besuchen.

Ohne Zweifel sind die Mädchen, die sich mir an den Hals werfen, höllisch scharf. Ich würde lügen, wenn ich sage, dass mir die ganze Aufmerksamkeit, die sie mir schenken, nicht genieße. Bevor Ava hatte ich tatsächlich jeden Tag eine andere. Es war keine Absicht. Ich konnte nichts dafür, dass die Mädels sich mir angeboten haben. Immerhin bin ich ein Kerl. Und Kerle werden bekanntermaßen häufiger von ihren Hormonen gesteuert. Wenn das weibliche Gegenstück dir also ständig ihre Glocken vor der Nase präsentiert und dir ins Ohr flüstert, wie sehr sie dich will, dann bröckelt irgendwann auch der härteste Widerstand.

Im zweiten Semester lernte ich schließlich Ava kennen. Lustigerweise nicht auf irgendeiner Studentenparty, sondern auf der Geburtstagsfeier meiner Cousine. Sie fiel mir zunächst nicht weiter auf – ich war genug reichen, schönen Mädchen begegnet – bis sie auf die Bühne sprang und meiner Cousine ein Geburtstaglied sang. Für mich wurde die langweilige Feier mit einem Schlag interessant. Denn mich schockierte es, dass Ava Faith Easton überhaupt nicht singen konnte. Sie traf keinen einzigen Ton. Ich hätte gedacht, dass die Mädchen aus reichen Häusern zu allen fähig sind.

Nachdem sie ihren Auftritt beendet und sich wieder unter die Menge gemischt hatte, sprach ich sie an. In derselben Nacht stieg sie mit mir in die Kiste. Sie hat einen wirklich schönen Körper – seidige Haut, schmale Hüfte und wohlgeformte Brüste. Wir hatten Riesenspaß.

Nach dieser Nacht baute sich eine gewaltige sexuelle Anziehung zwischen uns auf. Also trieben wir es weiter miteinander. Als meine Eltern eines Tages mit der arrangierten Ehe ankamen, benutzte ich Ava als Schutzschild. Sie hatte zum Glück keine Probleme damit, die Rolle meiner Freundin zu spielen, da sie daraus ebenfalls Profit zieht. Wir stillen unsere eigenen Bedürfnisse und machen unsere Eltern glücklich.

Endlich schaffe ich, mich durch die Menge zu bannen. Die Jungs spielen Billard. Manche sitzen in einer Nische und trinken.

Bryan steht mit Paar anderen aus dem Footballteam an der Bar.

„Mann, wo hast du gesteckt?"

Mein bester Freund und Teamkollege hält mir eine Hand hin und ich schlage zu.

„Carla", antworte ich und nicke den anderen zu.

„Die Friars haben also einen neuen Stürmer, hm?", fragt einer der Fußballer.

„Luke Reyes", erwidert Bryan grimmig, „dieser Typ ist ein Barbar auf dem Spielfeld. Höllisch brutal. Wegen ihm haben drei von uns einen Muskelfaserriss."

„Ist er wenigstens gut?"

„Kaum, mangelnder Teamgeist."

Ich entferne mich von der Gruppe, um mir ein Bier zu holen. Die Kellnerin steht mit Rücken zur Bar und mischt Martini mit Zitrone.

Als sie sich umdreht und sich unsere Augen kreuzen, lächele ich süffisant.

„Hi."

Sie ignoriert mich und bringt das Glas Martini zu dem Gast, der es bestellt hat.

Mir kommt die Standpauke in den Sinn, die mir Ava letztens gehalten hat. Sie war sauer, dass ich nicht wusste, dass ihre beste Freundin Ellie heißt. Es sei ihr so peinlich, dass ich Ellie nicht mal von Aussehen her erkenne.

Woher soll ich Ellie denn kennen? Wir sind uns noch nie begegnet!

„Doch! Sie war schon so oft bei uns!", schrie Ava.

„Ich war aber nicht bei euren Mädchennachmittagen dabei!"

Ich wollte keinen Streit. Also habe ich mich entschuldigt, bevor Ava explodiert ist. Eigentlich fühle ich mich nicht schuldig. Mir sind ihre Freunde nämlich egal. Was interessieren sie mich? Und vor allem, was bringen sie mich?

NICHTS. Sie haben keinen Wert. Die Kapazität meines Hirns reicht nicht aus, um wertloses Wissen zu speichern.

Ava hat verlangt, dass ich mich bei Ellie entschuldige. Neben meinen Eltern ist sie vermutlich die einzige, die mich derartig in die Knie zwingen kann.

Zugegeben, ich habe mich noch nie ernsthaft bei irgendjemandem entschuldigt. Ich hatte nie das Gefühl der Schuld, weshalb ich meine Entschuldigung immer nur halbherzig meine.

Ich räuspere mich. „Krieg ich'n Bier?"

Sie öffnet eine Flasche und stellt diese mir hin. Die ganze Zeit über würdigt sie mir keines Blickes. Ellie ist hübsch. Nicht deswegen, weil sie blond ist und ich Blondinen bevorzuge, sondern die Widersprüchlichkeit, die ihr Erscheinungsbild ausdrückt. Ihr Gesicht gleicht dem einer Puppe. Unschuldig und Rein. Die Proportion ihres Körpers jedoch verspricht Sünde. Sie ist kurviger als Ava. Ihre Beine erscheinen endlos lang in der Schürze. Ihre Titten springen förmlich aus dem Tanktop. Sie ist ohne Zweifel außerordentlich sexy. Trotzdem würde ich nichts mit ihr anfangen, weil sie zweitklassig ist.

Steven, der Besitzer des Clubs, ruft Ellie über die laute Musik hinweg zu, dass sie eine Kiste Bier aus dem Lagerraum holen soll. Ellie spült das Glas aus, das sie eben in den Waschbecken voller Seifenwasser getränkt hat, und verschwindet nach hinten.

Ich ergreife die Gelegenheit und folge ihr. Ich möchte gern die Sache mit der Entschuldigung schleunigst loswerden. Hier drin wird sie mir wohl keine Beachtung schenken.

Der Lagerraum ist schwach beleuchtet und riecht nach alten Socken. Überall türmen Kisten.

Ich lehne mich gegen den Türrahmen und beobachte, wie sie ein paar Kisten zur Seite schiebt. Ich erinnere mich wirklich nicht daran, sie im letzten Semester jemals zu Gesicht bekommen zu haben. Es gibt so viele blonde Mädchen auf dieser Welt. Sie sticht nicht heraus.

„Avas beste Freundin, huh? Daher wusstest du, wo ich wohne."

Sie hebt eine Kiste und steuert auf die Tür zu. Ich strecke einen Arm aus und versperre ihr den Weg.

„Es reicht", ich knirsche die Zähne, als ich mich an ihr Verhalten von jener Nacht erinnere, „du hörst mir jetzt zu: Keiner behandelt Fynn Tyler Vaughn wie Luft, keiner verpasst ihm eine, keiner beleidigt ihn."

Die Drohung in meiner Stimme verfehlt ihre übliche Wirkung. Ihr Gesicht ist blank. Ihre Augen sind leer.

Zum ersten Mal in meinem Leben fühle ich Ignoranz. Sie zerfrisst mein Ego, macht mich unsicher, schwach. Plötzlich verstehe ich Ava, und warum sie unserer Beziehung einem Ende setzen will: Meine Ignoranz zerstört sie.

Etwas Unbekannte keimt sich auf. Es droht mich zu ersticken. Unwillkürlich öffne ich den Mund und murmele: „Tut mir leid."

Ellie muss die Veränderung in mir gehört haben. Denn endlich hebt sie den Kopf. Ihre Haare sind zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden und einzelne Strähnen fallen heraus. Das klare Blau ihrer Augen löst das Unbekannte: Es ist die Schuld. Tatsächlich kommen mir Schuldgefühle hoch.

Für einen flüchtigen Moment weicht ihre Miene auf, dann versteift sie sich. Ihre Finger umklammern das Plastik so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortreten. Irgendetwas hindert sie daran, Emotionen zu zeigen.

Sie duckt sich und schlüpft durch meinen Arm hindurch. Ich fahre mir frustriert durch die Haare. Keinem Menschen gegenüber habe ich jemals binnen Sekunden so viel empfunden. Ignoranz. Schuld. Unsicherheit. Frust.

Und Neugier.

Wer ist dieses Mädchen, das kein Wort gebraucht hat, um mich richtig fertigzumachen?


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