5. Ava

5. Ava

Travis erzählt mir, dass er in die Wohnung eingezogen ist, in der die Sterns einst gelebt haben. Ich bin sofort Feuer und Flamme, dorthin zu gehen.

Die Wohnung ist nur knapp 15 Minuten von unserer Uni entfernt. Sie befindet sich in einem Hochhaus des Jugendstils. Ich habe es geliebt, Zeit bei Travis zu Hause zu verbringen, weil es so schön gemütlich und familiär war. Ich dagegen lebe, seit ich denken kann, in einem Einfamilienhaus, dessen Größe der eines Hotels gleicht.

Die Treppe knarrt unter unseren Füßen, als wir diese hinaufgehen. Im fünften Stock bleiben wir stehen. Travis holt den Schlüssel hervor und schließt auf.

„Herein spaziert."

Sobald ich eintrete, finde ich mich in einem absoluten Chaos ein. Ich verdrehe die Augen.

„Lass mich raten, du hast mich hierher geschleppt, damit ich dir beim Aufräumen helfe?", frage ich spitz.

Er grinst. „Bingo. Seit wann so aufmerksam, Ava?"

Ich werfe ihm einen bitterbösen Blick zu. Schließlich folge ich ihm ins Wohnzimmer. Während er die Möbel zurechtrückt, sauge ich Staub. Anschließend lässt er mich das Sofa neubeziehen und macht selbst in der Küche weiter.

Zwischendurch wollte ich wissen, warum er sich denn keine WG gesucht hat. „Ist es nicht ein wenig langweilig?"

„Die Wohnung steht so oder so leer, wozu also extra ein Zimmer mieten?"

Stundenspäter fallen wir beide todmüde aufs Sofa.

„Erinnere mich nochmal daran, warum ich dir bei diesem Mist geholfen habe?", bringe ich schwach hervor.

„Weil du meine beste Freundin bist?", schlägt er vor, wobei er sich ein Gähnen nicht verkneifen kann.

Ich runzele die Stirn. „Falsch. Ich war deine beste Freundin. In der Kindheit. Jetzt ...", überlege ich, „ich weiß nicht, was ich jetzt bin."

Verwirrt sieht mich Travis von der Seite an. „Hä? Ich versteh's nicht. Bleiben Freunde nicht für immer?"

Ich drehe meinen Kopf in seine Richtung. Unsere Blicke kreuzen sich. Ich fahre mit dem Zeigefinger die Züge seines Gesichts nach. Seine Haut fühlt sich glatt an. Er ist mir vertraut, gleichzeitig aber auch fremd. Elf Jahre sind es her, seitdem wir uns so gegenüber saßen und miteinander geredet haben. Er hat mir ehrlich gefehlt.

Ich knuffe ihm in die Wange. „Jedenfalls kenne ich den Titel ‚beste Freundin von Travis' nicht an. Dazu hast du dich noch nicht genug bewiesen."

Er zerzaust meine Haare. Eine Geste, die er schon früher gern getan hat. „Du muss einen aber auch wirklich in die Knie zwingen, oder?"

Ich lächele schelmisch und richte mich auf. „So, mein Lieber, was tut ein Freund, wenn die beste Freundin Hunger hat?"

Genervt greift er in die Hosentasche und holt sein Handy heraus. „Was möchte die edle Dame denn essen?", fragt er betont freundlich. Doch seine angespannte Körperhaltung verrät, dass er mich vor Wut am liebsten erwürgen würde.

Ich verkneife mir ein Grinsen. So viel Spaß habe ich schon lange nicht mehr. Ob ich Öl ins Feuer gießen soll?

„Ein Salat."

Er zieht eine Augenbraue in die Höhe, sagt aber nichts und bestellt.

Gut fünf Minuten später ändere ich meine Meinung. „Ich will doch keinen Salat."

Gelassen zuckt er mit den Schultern und bestellt den Salat ab. „Was möchtest du nun?"

„Chicken Curry."

Er ruft bei irgendeinem Inder in der Nähe an und gibt meine Bestellung auf.

Drei Minuten später ziehe ich ein unglückliches Gesicht. „Nach Curry stinkt man so, ich will was anderes."

Vor Wut sind seine Ohren gerötet. Sein Adamsapfel bewegt sich. Er drückt die grüne Taste seines Handys. „Hallo, Travis Stern hier. Ich habe eben bei Ihnen ein Chicken Curry bestellt. Tut mir leid, aber ich möchte es doch nicht mehr haben ... Ja, genau ... Tut mir wirklich leid, tschau."

Er holt tief Luft. Unschuldig klimpere ich mit den Wimpern. „Pizza?"

Er verschränkt seine Arme vor der Brust. Sie sind hart und muskulös. „Hm. Als nächstes kommst du mir wohl mit: O nein, es hat zu viel Kalorien!"

Ich beiße mir auf die Unterlippe, um nicht los zu prusten.

Travis Edward Stern kennt mich in und auswendig.

„Nein, ganz sicher nicht."

Er nickt leicht und wählt die Nummer der Pizzeria. Mitten beim Bestellen reiße ich das Handy aus seiner Hand, beende den Anruf und werfe es zur Seite.

Ich breche in Gelächter aus. Meine Augen füllen sich mit Tränen und ich lege eine Hand auf meinen Bauch, der vor Lachen schmerzt. „Du ... bist ... so leicht zu veräppeln!"

Seine Miene verfinstert sich. Er fasst sich mit beiden Händen am Kopf und zieht frustriert an seine kurzen Haare. „So'nen Dreck! Ständig werde ich hier an der Nase herumgeführt! In der Grundschule war's so, in der Oberschule war's so, und jetzt im College bleibt es weiter so!", jammert er.

Vor lauter Lachen kriege ich kaum noch Luft. Ich erinnere mich, wie ich einst meinen Knöchel verdreht habe und Travis für ganze zwei Wochen meine Tasche getragen hat, obwohl mein Knöchel nach 24 Stunden wieder geheilt war.

Plötzlich stürzt er auf mich. Ich lande rücklings auf dem Sofa. Mein Gelächter verstummt und ich atme schwer. Travis stemmt die Knie links und rechts neben meiner Hüfte auf und beugt sich über mir.

„Vergiss nicht, wer hier der Ältere ist", droht er und ein tückisches Grinsen blitzt auf.

Seine eine Hand wandert meiner Seite hinunter zu meiner Taille. Er piekt hinein.

Ich platziere meine Hände auf seiner harten Brust und werfe ihn um. Nun liegt er auf dem Rücken und ich sitze auf ihm. Er riecht nach einer Mischung aus Aftershave und Schweiß. Besser riechen tu ich auch nicht. Wir beiden hatten nach dem Laufen noch keine Gelegenheit, um zu duschen.

„Also wirklich, wer ist hier der Kitzligere, hm?", frage ich spöttisch.

Er erahnt, was ich vorhabe und greift blitzschnell nach vorne. Er erwischt eines meiner Handgelenke und hält es fest. Meine freie Hand schellt zur Seite und ich kitzele ihn.

Er wirbelt hin und her. „Verdammt Scheiße! Hör auf!"

Amüsiert mache ich weiter. Er gibt ein lautes Knurren von sich und setzt sich mit einem Ruck auf. Sein Griff um mein Handgelenk löst sich und ich spüre ihn stattdessen um meinen Oberschenkel. Seine Finger drücken zu und ich schreie auf.

„Das ist nicht fair", protestiere ich. Wie konnte er sich nach so vielen Jahren noch an meinen wunden Punkt erinnern?

Ich versuche, ihm auszuweichen, doch er hält mich bombenfest.

„Stopp, du Mistkerl ... Du ...!", bringe ich zwischen dem Gekichere hervor. Ich zappele auf seinem Schoß. Er lacht leise.

„Vergiss nicht, wer hier der Ältere ist", wiederholt er den Satz von vorhin und fügt hinzu: „und der Stärkere."

„TRAVIS!", jammere ich weinerlich.

Plötzlich lässt er mich los und ich falle vom Sofa.

„Au!" Ich reibe meinen Fuß.

Er hört auf zu lachen und hilft mir hoch. „Tut mir leid."

Ich verdrehe die Augen, kann mir letztendlich jedoch ein Lächeln nicht verkneifen.

Schließlich meldet sich Travis' Magen zu Wort. Peinlich gerührt, beißt er sich auf die Unterlippe, eine Geste, die mehr als unwiderstehlich ist, und deutet mir mit einer leichten Kopfneigung, endlich etwas zum Essen zu bestellen.

Ich greife nach seinem Handy, das in den seitlichen Schlitz des Sofas gerutscht ist, und bestelle Sushi.

Gut eine halbe Stunde später klingelt der Lieferservice an der Tür. Während ich im Esszimmer das Essen auspacke, holt Travis Teller aus der Küche.

„Es gibt leider nichts anderes zu trinken außer Leitungswasser", meint er und stellt mir ein gefülltes Glas vor der Nase.

„Mach nichts", erwidere ich schulterzuckernd.

Gierig machen uns über die Sushis her. Für die nächsten Minuten herrscht Stille, nur das Geräusch unseres Kauens ist zu hören.

„Wie geht es Katherine und Ben eigentlich?", frage ich nach einer Weile.

Er nimmt einen Schluck Wasser und antwortet: „Blendend. Sie sind ganz die Alten. Ständig unterwegs. Über der Erde, unter der Erde, irgendwo am Ende der Welt ... So wie Archäologen es nun mal tun."

Katherine und Ben sind die Eltern von Travis, und die interessantesten Menschen, die ich kenne. Denn jedes Mal, wenn ich bei den Sterns zu Besuch war, erzählten sie von Abenteuer, die sie bei Ausgrabungen erlebt hatten. Diese waren verdammt spannend.

„Und du hast dich so einsam gefühlt, dass du beschlossen hast zurückzukommen?"

„Teilweise. Es ist auch deswegen, weil ich hier geboren wurde und meine Kindheit verbracht habe. Die Stadt ist meine Heimatstadt. Ich fühle mich hier einfach wohl. Außerdem ...", zögert er.

„Außerdem?", hake ich nach.

Ich picke mir ein weiteres Stück Sushi mit dem Stäbchen. Im Gegensatz zu meinem Bruder Jeremiah kriege ich das perfekt hin. Jere schiebt die Schuld auf das männliche Geschlecht.

„Solche feine Sachen können nur Frauen. Männer können's nur grob", brummt er.

Mama kontert dann immer: „Blödsinn. Die asiatischen Männer bekommen das mit dem Stäbchen ebenso hin."

Ich kaue und schlucke den Bissen hinunter. Travis Finger trommeln nervös auf dem Tisch. Er scheint sichtlich nervös zu sein. Irgendetwas ist faul.

„Außerdem?", wiederhole ich nachdrücklich.

Er mustert mich für ein paar Sekunden. Seine Miene ist verunsichert. Es scheint, als ob er sich nicht recht entscheiden kann, mir etwas anzuvertrauen.

Das goldene Licht des Kronleuchters lässt seine kurzen, braunen Haare ein wenig blond aussehen und wirft gleichzeitig Schatten auf einer Hälfte seines markanten Gesichts.

Zwischen dem Travis von heute und dem Travis von damals liegen Meilen Unterschiede. Der zwölfjährige Travis war gutaussehend. Aber der dreiundzwanzigjährige Travis ist verdammt heiß. Verdammt sexy.

Schließlich sagt er leise: „Außerdem ist Ellie hier."

Mein sechster Sinn nickt anerkennend den Kopf.

„Du stehst also auf sie?", entgegne ich wenig überrascht. Als ich die Art und Weise bemerkt habe, mit der Travis vorhin Ellie angeschaut hat – voller Sehnsucht und Freude – habe ich bereits etwas in die Richtung vermutet.

„Mehr als das. Ich liebe sie", sprudelt es aus ihm heraus. Seine Wange färbt sich rosa.

Nun hat er mich doch überrumpelt. Ich ziehe eine Augenbraue in die Höhe. „Tatsächlich?"

„Tatsächlich", gibt er zu, „ich habe sie schon immer geliebt."

„Weiß sie das?"

„Glaub schon. Ich hab ihr vor Ewigkeit mal meine Gefühle gestanden."

Seinem Schweigen nach zu verurteilen hat das Ganze nicht gut endet. Ich ahnte damals, dass zwischen denen etwas nicht stimmte. Jedoch dachte ich, dass das ihre Sache sei und sie sich damit auseinandersetzen müssen. Es wäre besser, wenn ich mich nicht einmische. Ich glaube, dass es die richtige Entscheidung war. Sonst würden die beiden vermutlich nicht nur einander aus dem Weg gehen, sondern auch mir.

„Und du bist zurückgekommen, um nochmals dein Glück zu versuchen", stelle ich fest.

Sein Gesicht nimmt einen ernsthaften Ausdruck an. „Ava Faith Easton liest die Gedanken von Travis Edward Stern. Das ist gruselig."

Ich lehne mich entspannt zurück und überkreuze meine Beine.

„Und du möchtest, dass ich die Verkupplerin spiele?"

„Was zur Hölle ...?!", er massiert sich zur Beruhigung die Schläfe, „So sieht bisher der Plan aus, ja."

„Wir bräuchten noch mehr Plan", sage ich bestimmt.

„Das heißt, du hilfst mir?" In seinem Ton schwingt ein Hauch von Ungläubigkeit mit.

„Was hättest du denn erwartet?", entgegne ich ehrlich interessiert. Ich würde alles tun, um Ellie wissen zu lassen, wie viele Menschen sie lieb hat. Und dass sie alle Liebe der Welt verdient und bekommt, wenn sie es zulässt.

„Dass du vielleicht dagegen wärst, dass ich hinter Ellie her bin?"

„Was sollte ich dagegen haben?", wundere ich, „ihr seid meine engsten Freunde. Ich wünsche mir nichts sehnlicheres, als euch glücklich zu sehen. Und ich kenne dich, Travis. Manchmal bist du mir zwar zu schwach, aber du bist ein guter Kerl. Ellie wäre in guten Händen."

„Hey!", protestiert er, „wo bin ich denn bitteschön schwach?"

Abruft steht er auf und zieht sein Shirt aus. Goldene Haut und steinharte Muskeln kommen zum Vorschein. Unwillkürlich stoße ich ein Wow aus.

„Mann, ich meinte doch nicht körperlich, sondern eher charakteristisch. Du bist zu ...", ich suche nach dem richtigen Wort, „gentlemanlike. Zu nett. Zu höflich. Glaub mir, die meisten Frauen wollen zunächst keine Gentlemen. Wir wollen Bad Boys. Wir wollen Dirty Talks. Wir wollen hören, wie sehr sie uns begehren. Deine gute Manieren kannst du für später aufbewahren."

„Als ob", flüstert er resigniert und sackt auf dem Stuhl zusammen.

Ich staple die leeren Plastikpackungen aufeinander und bringe diese zum Mülleimer.

Travis bleibt niedergeschlagen am Tisch sitzen. „Was ist falsch daran, nett zu sein ...", murmelt er vor sich hin.

Ich gehe einmal um den Tisch herum.

„Travis", sage ich sanft.

Ich nehme seine großen Hände in meine und ziehe ihn hoch. Wir stehen uns gegenüber und ich bemerke, wie glatt die Haut seiner nackten Brust ist.

Ich schaue zu ihm hinauf. Seine blauen Augen sind dunkel vor Kummer und Unsicherheit. Diese Eigenschaften trägt er bereits von klein auf mit sich. Dabei hat er es gar nicht nötig.

„Was ich eben gesagt habe, war generalisiert", erkläre ich leise, „du schaffst das, okay? Ellie mag vielleicht einen schwierigen Charakter haben. Aber sie wünscht sich im Leben nichts anderes als Liebe. Bedingungslose Liebe."

Meine Worte sickern langsam in sein Hirn ein und bauen ihn auf. Er nickt. Ein neuer Ausdruck liegt in seinen Augen: Entschlossenheit.

„Du wirst mir beistehen."

Grinsend lege ich den Kopf schief. „Was hättest du denn erwartet?"


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