4. Ellie 4. Travis
4. Ellie
Leah und ich machen nicht die beste Mitbewohner-Kombination, da wir beide nicht kochen können. Auf dem Esstisch stapeln sich deshalb unzählige Flyer von Lieferservice.
Noch in meinen Pyjamashorts bekleidet, schlürfe ich in die Küche. Ich nehme mir eine Flasche stilles Wasser aus dem Minikühlschrank, in dem sich auch sonst nichts anderes befindet als Wasser und Milch.
Nachdem ich mein Wasser entleert habe, kehre ich in mein Zimmer zurück und ziehe mich um. Leah schnarcht leise in ihrem Zimmer. Die Wände in dem Studentenheim sind verdammt dünn.
Im Bad erledige ich den Rest meiner Morgenroutine. Anschließend bereite ich mir eine Schale Fertigmüsli mit Milch zu und setze mich aufs Sofa. Unsere Küche besteht praktisch nur aus einem Waschbecken und einem Kühlschrank, weshalb ein Esstisch überflüssig scheint.
Ich schaufele mir einen Löffel nach dem anderen hinein. Vorhin schien die Sonne durch das Fenster des Badezimmers. Es ist ein perfekter Tag, um laufen zu gehen. Die ganzen Semesterferien über hatte ich kaum Zeit, Sport zu machen. Ich habe viel gearbeitet und Geld vorgespart. So kann ich mich im neuen Semester vollständig aufs Studium konzentrieren.
Der Standardklingelton eines Anrufs ertönt aus irgendwo. Nach minutenlangem Durchsuchen finde ich mein Handy in der Seitentasche meiner Schürze.
„Hey", sage ich atemlos.
„Hey, Lieblingsfreundin."
Ein kleines Lächeln schleicht sich auf meine Lippen. „Du bist zurück? Seit wann?"
„Seit gestern Abend. Lust, zusammen zu frühstücken? Fynn macht grad Omelette", fragt mich Ava.
Bei der Erwähnung des Namen ‚Fynn' flammt sich ein Bündel Feuer in mir auf, obwohl mir diese Person eigentlich egal sein sollte. Es spielt keine Rolle, ob dieser Bastard mich kennt oder nicht.
Ich bemühe mich um einen neutralen Ton. „Ich bin grad am Frühstücken."
Ava senkt ihre Stimme und sagt geheimnisvoll: „Weiß du, ich hab dir was mitgebracht."
Ich ziehe meine Augenbraue in die Höhe. „Klingt ... gut? Hey, ich habe vor, später mal eine Runde um den Campus zu drehen. Warum treffen wir uns nicht dann?"
„Na gut", entgegnet sie schmollend, „obwohl ich für meinen letzten Ferientag echt was Schöneres vorstellen kann, als laufen zu gehen."
„Sorry, du bist sicher erschöpft vom Urlaub. Wir können es auch lassen. Ich meine, wir sehen uns morgen eh."
„Versuchst du etwa wieder, dich vor einer Interaktion zu drücken?", scherzt sie.
„Ja, genau. Vor allem wenn du diejenige bist, mit der ich interagieren soll", gebe ich sarkastisch zurück.
„Ich hab dir doch nichts mitgebracht", sagt sie gespielt eingeschnappt.
Ich verdrehe die Augen und wische mit dem Zeigefinger über mein Bücherregal. Ugh, dieses muss auch wieder mal geputzt werden. Ich klopfe den Staub ab und antworte: „Ich habe nur versucht, rücksichtsvoll zu sein."
„Zu viel Rücksicht macht dich nicht unbedingt zu einem besseren Menschen, manchmal wirkst du dadurch unerreichbar und distanziert."
Ich seufze. Sie hat Recht. Aber ich kann nicht anders. „Bin ich nicht normalerweise diejenige, die Predigten hält?"
Ava lacht. „Heute darf ich mal. Ich komme später vorbei, bis dann."
Nachdem wir das Gespräch beendet haben, esse ich den Rest meines Müslis auf und spüle anschließend das Geschirr ab.
Die nächsten Stunden verbringe ich damit, mein Zimmer, das Badezimmer und das Wohnbereich zu putzen. Normalerweise machen Leah und ich das zusammen, aber sie ist über die Ferien nach Hause geflogen und ist erst seit gestern Nacht wieder zurück. Deshalb lasse ich sie ausschlafen. Leahs Eltern betreiben übrigens eine Farm. Das erklärt, warum Leah das normale Gemüse und Fleisch aus dem Supermarkt nie richtig schmeckt, weil diese im Vergleich zu ihren hauseigenen Produkten nicht ‚bio' genug sind.
Manchmal strengen mich ihre Makel an.
Nachmittags gegen drei schneit Ava durch die Wohnungstür. Sie hält mir eine glitzernde Tüte vor die Nase.
„Für dich, Lieblingsfreundin", flötet sie.
Ich verdrehe die Augen. „Dir auch hallo."
Ich nehme die Tüte entgegen. Darin befindet sich eine kleine Topfpflanze.
„O mein Gott", ich hole diese heraus, „sie ist wunderschön."
„Natürlich ist sie das. Schließlich habe ich sie eigenhändig gepflückt, als wir durch die Berge gewandert sind", sagt Ava voller Stolz.
„Das ist Edelweiß, oder?", frage ich und drehe den Topf vorsichtig.
„Ja."
„Danke"; flüstere ich gerührt.
Ava weiß, wonach ich mich sehne und was mir fehlt: Die Liebe. Sie versucht immer ihr Bestes, diese Lücke zu füllen. Nach außen hin wirkt sie zwar abgehoben, aber ihr Herz ist so gut, dass es einem Sorgen bereitet.
Meine Sicht auf das Edelweiß verschwimmt, weil sich meine Augen mit Tränen füllen.
„O Gott", stößt Ava panisch hervor, „wenn ich gewusst hätte, dass dich eine winzige Topfpflanze zum Weinen bringt, hätte ich doch lieber die handgemachte Meersalzseife nehmen sollen."
Ich lache zwischen meinen Tränen. Eigentlich schenkt mir Ava nur Beautyprodukte oder Schmuck. Jedoch ist ihr irgendwann klar geworden, dass mir keines davon etwas nützt. Weder schminke ich mich noch trage ich Schmuck. Deswegen bringt sie mir seitdem nur Sachen mit, die ihrer Meinung nach mir von Nutzen sein könnten.
Ich stelle die Pflanze auf dem Esstisch ab und wische mir übers Gesicht. „Ava, du bist unglaublich toll-"
„Und du wüsstest nicht, was du ohne mich machen sollst?", unterbricht sie mich mit Augenklimpern.
„In der Tat."
_
Das Sonnenlicht prallt hart auf den Asphalt. Wir sind gerade mal seit zehn Minuten unterwegs und uns laufen bereits Schweißtropfen über die Wange.
„Wie war dein Urlaub?"
Ava pustet sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „War gar nicht mal so schlimm, wie ich es mir eigentlich vorgestellt habe. Mir kamen teilweise richtige Kindheitsgefühle hoch."
Je älter man wird, desto ungern unternimmt man etwas mit den Eltern. Ich allerdings würde alles dafür geben. Zu früh starben sie. Zu früh ließen sie mich im Stich.
„Wie ich sehe, hast du ja die Woche am Meer vollends ausgenutzt", kommentiere ich beim Anblick ihrer gebräunten Haut, „sieht übrigens gut aus."
„Danke, Reese. Ich habe mir noch Sorgen gemacht, ob es eventuell zu viel ist." Der Spitzname ‚Reese' stammt aus meinem Zweitname ‚Theresa' und bedeutet ‚Begeisterung'. Ein Attribut, das mir von klein auf gefehlt hat und nach dem Tod meiner Eltern erst recht untergegangen ist.
Wir laufen an einer Gruppe Jungs vorbei, die Gefallen an unserem Arsch finden und uns hinterher pfeifen. Ava zwinkert denen zu.
„Freshmen vom Land", brumme ich angewidert.
„Ich versteh nicht, was du immer gegen das andere Geschlecht hast", sie runzelt die Stirn.
Wir biegen die Ecke zur Bibliothek ab. „Ich ersticke noch in meinem eigenen Schweiß."
Ich reiche ihr mein kleines Handtuch, das ich um meinen Hals gelegt habe, bevor wir losgelaufen sind.
„Danke." Sie tupft sich damit die Stirn ab.
„Das andere Geschlecht kann zum Beispiel verdammt überheblich und ignorant sein", wütend knirsche ich mit den Zähnen, „dein Freund Fynn ist das ideale Beispiel."
Sie sieht mich fragend an. Ich beginne, ihr von dem Vorfall zu erzählen. „Letzte Woche waren er und ein paar andere bei Steven's. Er hat sich betrunken und ich habe ihn dir zuliebe nach Hause gebracht. Ich habe meine Jacke bei ihm im Auto liegenlassen. Er hat sie mir am nächsten Tag gebracht und mir gefragt, wer ich sei und woher ich wüsste, wo er wohne."
Ich lasse den Teil aus, in dem Fynn mich aufs Bett gedrückt hat und versucht hat, mir seinen Schwanz zwischen den Beinen zu schieben. Das würde, glaube ich, die Sache verkomplizieren. Zumal ja nichts passiert ist. Ich habe ihn weggestoßen.
Avas Augen weiten sich vor Fassungslosigkeit. „O mein Gott, das ist so peinlich. Ich entschuldige mich an seiner Stelle bei dir."
„Ist schon gut. Ich meine, ich bin deine beste Freundin, oder? Ich war oft genug bei euch zum Besuch, oder? Es ist echt nicht zu glauben, wie stark seine Ignoranz ausprägt ist."
Ava fühlt sich sichtlich unangenehm. „Tut mir leid. Ich werde mit ihm reden."
Ich rümpfe die Nase. „Was findest du bloß an ihm?"
Sie zuckt mit den Schultern. „Er gefällt meinen Eltern, passt zu meinem Status und ist wahnsinnig gut im Bett?"
Ich lache ironisch. „Na, wenn es bei deiner Partnerwahl nur auf diese oberflächlichen Dinge ankommt, dann führst du ein verdammt einfaches Leben."
Schweratmend bleiben wir an einem kleinen Kiosk stehen. Ava holt zwei Flaschen Wasser und wir beschließen, eine kleine Pause einzulegen, indem wir ein Stück gehen.
Der Campus ist riesig. Jedes Studienfach besitzt seine eigene Einrichtung und Bibliothek. Vor allem ist es überall sehr grün und sauber, was mir gefällt.
Ava reicht mir mein Handtuch. Ich wische mir damit das Gesicht und den Hals ab.
Es fühlt sich gut an, sich wieder mal richtig auszupowern. Mein T-Shirt klebt an meinem Rücken und meine Beine schmerzen auf eine angenehme Art und Weise.
Ava leert ihr Wasser in einem Zug und wirft die Flasche in den Mülleimer, an dem wir vorbeilaufen.
„Wusstest du, dass Travis ab diesem Semester an unserer Uni studieren wird?", frage sie auf einmal.
Ich schaue zunächst verwirrt drein, weil ich mir nicht sicher bin, ob sie den Travis meint.
„Travis Edward Stern?", frage ich.
„Jap, der Travis, der nie Boxershorts trug", bestätigt Ava.
Ich verschlucke mich an meinem Wasser und huste. „Warum?", flüstere ich beschämt.
Bevor mich der Schicksalsschlag traf, war ich ein extrem hochnäsiges und überhebliches Mädchen. Ich war neun. Travis war elf. Ava, er und ich hangen oft zusammen ab. Ich mochte Travis, verachtete ihn jedoch insgeheim. Seine Familie war normal im Vergleich zu meiner. Seine Eltern waren keine angesehenen Persönlichkeiten. Er selbst war durchschnittlich in allen Dingen, die er tut.
Als er mir also eines Tages seine Gefühle gestand, wies ich ihn brutal ab. Ich sagte ihm, dass er nicht gut genug für mich sei und dass ich einen Überflieger bräuchte.
Danach sahen wir uns nie wieder.
Heute bereue ich das Gesagte so sehr. Ich schäme mich für meine damalige Sicht auf die Welt. Wenn möglich, würde ich ihm nur noch ein einziges Mal unter die Augen treten müssen. Und zwar, um mich zu entschuldigen.
„Oo-", ertönt Avas Singsang neben mir, „wenn man vom Teufel spricht ..."
Ich folge ihrem Blick. Eine große, athletische Statur in kurzem T-Shirt und kurzer Hose läuft uns entgegen. Seine Füße prallen rhythmisch auf dem Asphalt ab. Zum ersten in meinem Leben bereue ich, nicht auf Ava gehört zu haben. Warum bin ich, statt sie zu besuchen, laufen gegangen?
Was ist falsch mit mir?
„Travis!" Ava hebt eine Hand und winkt.
Ich halte die Luft an.
Travis
Avas Hand fuchtelt aufgeregt in der Luft. Ich wische mir den Schweiß von der Stirn und beschleunige meine Schritte. Da morgen das neue Semester offiziell beginnt und ich keinen blassen Schimmer habe, wo sich die Vorlesungssäle befinden, habe ich beschlossen, meine Joggingtour mit einer kleinen Erkundigungstour durch den Campus zu verbinden. Offensichtlich war ich nicht der einzige, der auf diese Idee kam. Ava ist ebenfalls in Tank-Top und Sportshorts bekleidet.
Neben Ava steht ein blondhaariges Mädchen, das mir den Rücken zukehrt.
„Hi, Ava", grüße ich sie.
„Travis, hi!", begrüßt mich meine beste Freundin übertrieben gutgelaunt, „ich würde dich jetzt gerne umarmen, aber leider bist du mir zu nass."
Ich lache. „Und du nicht, oder was?"
Sie dreht sich um die eigene Achse. „Hm, ich dachte, ich wäre mittlerweile trocken. Anscheinend habe ich mich geirrt. Dann kann ich dich doch umarmen."
Kichernd fällt sie mir um den Hals. Kopfschüttelnd hebe ich sie hoch und wirbele sie herum. Äußerlich hat Ava sich wirklich verändert. Ihre Gesichtszüge haben eine feinere Note angenommen und sie ist verdammt groß geworden. Als wir jünger waren, hat sie mir immer nur bis zum Kinn gereicht. Innerlich jedoch ist sie gleich geblieben. Sie strahlt dieselbe Leidenschaft aus, die mir vertraut ist.
„Hey, Reese, sieht so aus, als ob du nicht der einzige Weirdo bist, der auf die bekloppte Idee gekommen ist, am letzten Ferientag und bei 32 °C joggen zu gehen", sagt Ava zu ihrer Freundin.
Das Mädchen dreht sich langsam um und murmelt etwas Unverständliches.
„Ellie, alles okay bei dir? Was starrst du die ganze Zeit auf den Boden?"
Bei dem Namen ‚Ellie' bleibt mir kurz die Luft weg.
Ellie?
In den letzten Jahren habe ich mir weiß-Gott-wie-oft ausgemalt, wie es sein wird, wenn ich das Mädchen meiner Träume wiedersehe. Ich habe mir verschiedene Szenarien vorgestellt. Partys, Hochzeiten, Businesskonferenzen. Ich erkenne sie, sie mich aber nicht. Ich denke daran, sie um Dates zu bitten, weil sich meine Gefühle für sie über die Jahre hinweg nicht verändert haben. Für mich hat es stets nur sie gegeben. Als ich endlich neuen Mut gefasst habe, muss ich leider feststellen, dass sie bereits glücklich verheiratet ist.
Sie würde niemals mein sein.
„Du bist nicht gut genug für mich. Ich brauche einen Überflieger."
Ihre Worte trafen mich hart. Diese verfolgten mich und machten mich unsicher. Gleichzeitig gaben sie mir die nötige Motivation, zum Besten der Besten zu werden.
Der Travis von heute ist verdammt gutaussehend, verdammt intelligent und verdammt selbstsicher.
Endlich blickt das Mädchen neben Ava hoch. Ihre stechend blauen Augen treffen meine und mein Herz beginnt zu rasen. Nach all den Jahren hat Ellie Theresa Holmes immer noch die gleiche Wirkung auf mich. Im Gegensatz zu Ava hat sie sich äußerlich nicht groß verändert. Ihr Aussehen gleicht dem eines Elfes. Allein der Anblick auf ihre üppige Oberweite und ihre schmale Taille lässt mich stahlhart werden.
Ich beobachte, wie ihre Augen meinen Körper hinunter wandern. Plötzlich zahlen all die anstrengenden Trainingsstunden im Fitnessstudio aus.
Sie räuspert sich und streckt mir eine Hand hin. „Travis, lange nicht gesehen. Du siehst ... gut aus." Ihre Stimme ist formal und offenbart keinerlei Emotionen.
Ich runzele die Stirn. Ava sieht verwirrt zwischen uns her. Sie weiß nichts von dem, was damals zwischen mir und Ellie vorgefallen ist.
Schließlich ergreife ich ihre warme Hand. „Hi, Ellie."
Sobald die Worte meinen Mund verlassen, zieht sie ihre Hand zurück. Die ganze Zeit über würdigt sie mich keines Blickes.
Offensichtlich hat sie mein Geständnis nicht vergessen. Ein seltsam gutes Gefühl steigt in mir hoch. Wenn ihr die Sache stört, bedeutet es, dass ich Chancen habe. Ich nehme einen Platz in ihrem Herzen ein.
Sie kratzt sich am Hinterkopf. „Ähm, in'ner Stunde beginnt meine Schicht. Ich muss los. Bis dann!"
Sie sprintet los.
Ava und ich schauen ihr nach. Sie hat atemberaubende Beine.
„Ellie verhält sich normalerweise immer so. Nur bei Vertrauten taut sie auf. Mach dir also keinen Kopf darüber", erklärt Ava.
„Ist es wegen ihrer Eltern?", frage ich.
Ava seufzt. „Ja. Die Trauer sitzt tief. Ihre Großeltern haben leider nicht viel zum Trost beigetragen."
Mein Herz zieht sich zusammen. Ihr Vater starb an dem Tag, an dem ich wegzog. Ich konnte nicht an ihrer Seite sein, als sie durch die Hölle ging. Nun jedoch bin ich zurück. Und mein Entschluss steht fest: Ich werde Ellie Theresa Holmes wieder glücklich machen.
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